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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918

»If […] a lot of radium would be sufficient to make important discoverys, they should […] make them.«1

Die Radioaktivitätsforschung entwickelte sich in der Österreichisch-Ungarischen Mo-narchie im Kontext eines internationalen Forschungsfeldes, das im ausgehenden 19. Jahrhundert an der Schnittstelle der etablierten Disziplinen Physik und Chemie, Mineralogie, Geologie und Astronomie entstand. Die Radioaktivität wurde in Frank-reich entdeckt und intensiv erforscht, doch schon bald interessierte man sich auf der ganzen Welt für das ungewöhnliche Phänomen, das neue Einsichten in den Aufbau der Atome versprach. Naturwissenschaftler, Naturwissenschaftlerinnen und Ärzte aus dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zählten zu den Ersten, die sich dem neuen For-schungsfeld zuwandten. Doch nicht überall im Habsburgerreich waren die Möglich-keiten, die Radioaktivität näher zu untersuchen, gleich gut. In der ungarischen Reichs-hälfte, dem transleithanischen Teil der Monarchie, verhinderten die institutionellen Strukturen, dass sich die Radioaktivitätsforschung in nennenswertem Umfang an den Universitäten etablieren konnte.2 Anders sah es im cisleithanischen Teil der Monarchie aus ; dazu zählten bis 1918, neben den deutschsprachigen Ländern Kärnten, Österreich unter und ober der Enns, der Steiermark, Vorarlberg und Salzburg, die nicht-deutsch-sprachigen Kronländer Böhmen und Mähren, die Bukowina, die Krain, Dalmatien, das Küstenland um Triest, Galizien und Schlesien. Im Herkunftsland der Pechblende, in Böhmen, begann die Radioaktivitätsforschung ähnlich wie im Deutschen Reich, Frankreich und Großbritannien am Ausgang des 19. Jahrhunderts.3 Die tschechisch-sprachige Radioaktivistengemeinschaft stand in Mitgliederzahl und wissenschaftlicher Produktivität allerdings deutlich hinter der deutschsprachigen Radioaktivistengemein-schaft Österreich-Ungarns zurück.

1 Cambridge University Library, Rutherford Correspondence, ab sofort : CUL, RC, Add 7653, H 126 : Hevesy an Rutherford vom 14.2.1912.

2 Vgl. Palló 1997.

3 Vgl. Těšínská 2010.

Das vorliegende Kapitel fragt danach, unter welchen Bedingungen sich die Radio-aktivitätsforschung in den deutschsprachigen Ländern der Monarchie entwickelte. Der Blick richtet sich zunächst auf die im Land vorhandenen materiellen Ressourcen. Der Zugang zu uranhaltigen Gesteinen war eine Grundvoraussetzung dafür, radioaktive Präparate herzustellen und radioaktive Phänomene zu erforschen. Der Fokus liegt zu-dem auf den Akteuren, die sich der Radioaktivitätsforschung widmeten und die das Forschungsgebiet an den Universitäten Österreichs zu etablieren suchten. Welchem Denkstil hingen sie an und welche Strategien verfolgten sie, um die Bedingungen für ihre wissenschaftliche Arbeit zu optimieren ?

Die Akkumulation radioaktiver Forschungsmaterialien spielte eine entscheidende Rolle, um die Haupt- und Residenzstadt Wien innerhalb der Monarchie, aber auch international, zu einem Zentrum der Radioaktivitätsforschung zu machen. Der Ver-leih, Verkauf und Tausch radioaktiver Präparate erfolgte nicht nur im nationalen Kon-text, er diente den Wiener Radioaktivisten und Radioaktivistinnen auch dazu, sich im entstehenden internationalen Netzwerk der Radioaktivitätsforschung eine einflussrei-che Position zu verschaffen. Der Spielraum für die Radiumforschung erweiterte sich, ähnlich wie im Deutschen Reich mit den Kaiser-Wilhelm-Instituten, durch die Grün-dung des außeruniversitären Instituts für Radiumforschung in Wien. Der Einfluss des Instituts, das die Interessen der deutschsprachigen Radioaktivistengemeinschaft der Österreichisch-Ungarischen Monarchie machtvoll vertrat, fand seinen Niederschlag in der Schaffung von Standards zur Messung und Bezeichnung (Nomenklatur) radioak-tiver Zerfallsprozesse, die über den lokalen und nationalen Rahmen hinausgehende Gültigkeit beanspruchten.

2.1 Österreich-Ungarn in der internationalen Radiumökonomie

Die Entdeckung der Radioaktivität durch den französischen Physiker Henri Becquerel 1896 läutete im ausgehenden 19. Jahrhundert den Beginn einer neuen Ära ein. Der spontane Zerfall von Atomen stellte die Vorstellungen vieler Physiker über den Aufbau der Materie grundsätzlich in Frage.4 Drei Substanzgruppen standen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses : die Uran-Radium-Gruppe, die Thorium-Gruppe und die Uran-Actinium-Gruppe.5 Marie Curie hatte gemeinsam mit ihrem Mann

4 Kragh weist zu Recht darauf hin, dass die in der wissenschaftshistorischen Literatur weit verbreitete An-sicht, wonach die Physikergemeinschaft im späten 19. Jahrhundert strikt deterministisch dachte und ganz im Newtonschen Weltbild verhaftet war, unzutreffend ist. Vgl. Kragh 1997, 62.

5 Vgl. Boltwood 1911, 344.

Pierre und dessen Mitarbeiter Gustave Bémont mit der Entdeckung von Polonium (Juli 1898), Radium (Dezember 1898) und des radioaktiven Charakters von Thorium (1898) den Grundstein für die neue Forschungsrichtung gelegt. Curies Schüler, der Chemiker André Debierne, fand im darauf folgenden Jahr Actinium (Oktober 1899).6

Radium war mit einer Halbwertszeit von rund 1.600 Jahren das stabilste der um die Jahrhundertwende bekannten radioaktiven Substanzen, und ihm sowie seinen Zerfalls-produkten galt das Hauptaugenmerk der frühen Forschung. Das silbrig-weiße Alkali-metall kommt in der Natur extrem selten vor und ist stets mit Uranerz vergesellschaf-tet.7 Seine Gewinnung war vor allem im ersten Jahrzehnt nach seiner Entdeckung, als sich die industrielle Produktion erst allmählich durchsetzte, aufwendig und teuer.

Thoriumerze, die in der Natur häufiger vorkommen als Uranerze, machten die Zerfalls-produkte der Thorium-Gruppe vor dem Ersten Weltkrieg günstiger als die der Uran-Radium-Gruppe.8 Otto Hahn entdeckte das dem Radium in vieler Hinsicht ähnliche Zerfallsprodukt Mesothor 1907 in alten Thoriumpräparaten.9 Thorium emittiert mit seinen Umwandlungsprodukten die gleichen drei Strahlungsgruppen wie das Radium, hat gegenüber Radium C aber den Vorteil längerer Reichweiten seiner α-Teilchen. Die γ-Strahlen des aktiven Niederschlags sind ebenso durchdringend wie die der Radium-produkte. Der Nachteil gegenüber dem Radium besteht in seiner nicht konstanten Aktivität und relativen Kurzlebigkeit.10 Die radioaktive Substanz Polonium ist etwa 400 Mal aktiver als das Ausgangsmetall Uran.11 Polonium (Po-210) kommt in der Natur nur in sehr geringen Mengen vor, allerdings wird es durch den radioaktiven Zerfall des natürlich vorkommenden Isotops Uran (U-238) laufend nachproduziert.

Seine physikalische Halbwertszeit ist mit 138,4 Tagen deutlich geringer als die des Radiums. Polonium war für Medizin und Wissenschaft vor dem Ersten Weltkrieg weniger bedeutend als Radium. Auch das Actinium war in allen Uranerzen enthalten, doch seine chemischen Eigenschaften blieben bis in die 1920er Jahre weitgehend un-geklärt. Actinium spielte wegen der im Gegensatz zu Radium geringen Lebensdauer seiner Tochterprodukte (13,5 Jahre) in der frühen Radioaktivitätsforschung eine nach-rangige Rolle.12

6 Der Physiker G. C. Schmidt machte zeitgleich und unabhängig von Curie diese Entdeckung. Vgl.

Schlote/Börngen 2002, 606.

7 Der Gehalt des Radiums liegt bei 0,3 Gramm pro Tonne Uranerz.

8 Monazitsand diente als Ausgangsstoff zur Gewinnung des radioaktiven Mesothors.

9 Vgl. Hoffmann 1993, 48.

10 Mesothor ist praktisch strahlungsfrei, liefert aber ein β-strahlendes Zerfallsprodukt mit einer Halbwerts-zeit von 6,2 Stunden.

11 Vgl. Allisy 1995, 467.

12 Vgl. Ceranski 2008a, 419.

Die radioaktiven Substanzen kamen in der Natur nicht einfach als diskrete Stoffe vor, sondern mussten in einem aufwendigen chemisch-iterativen Prozess aus den sie umgebenden Erzen gewonnen werden. Österreich-Ungarn war um die Jahrhundert-wende der bedeutendste Lieferant von Pechblende, die als Ausgangsmaterial für die Gewinnung von Uran- und Radiumsalzen diente.13 Die Pechblende, die Marie Curie für ihre Extraktionsarbeiten verwendete, stammte aus dem Silberbergwerk im böhmi-schen St. Joachimsthal, das bis 1918 im Einflussbereich der Monarchie lag. Pechblende fiel in großen Mengen bei der Produktion von Uranverbindungen an, die Porzellanma-nufakturen und Glashütten im 19. Jahrhundert als Färbemittel dienten.14 Die ver-meintlich wertlosen Rückstände aus der Urangewinnung hatten sich über Jahrzehnte hinweg in der k. k. Uranfarbenfabrik in St. Joachimsthal angesammelt. Es verwundert daher nicht, dass das für die Grube zuständige k. k. Ackerbauministerium in Wien die Pechblende auf Vermittlung des Präsidenten der Kaiserlichen Akademie der Wissen-schaften in Wien, Eduard Suess, anfangs kostenlos und später zu einem sehr modera-ten Preis an das Ehepaar Curie abgab.15 Die Curies stellmodera-ten aus den böhmischen Erzen zunächst eigenhändig für jene Zeit stark radioaktive Präparate her.16

Der französische Ressourcenreichtum sprach sich im Kollegenkreis schnell herum.

Voller Neid schrieb 1904 der US-amerikanische Radiochemiker Bertram Boltwood an Ernest Rutherford, sein Laborkollege in Yale habe die Curies in Paris besucht und sei Augenzeuge wilder wissenschaftlicher Orgien geworden, in denen ein Präparat mit 280 Milligramm reinen Radiumbromids eine prominente Rolle gespielt habe.17 Obwohl Rutherford als Professor für experimentelle Physik an der McGill University im kana-dischen Montreal zu diesem Zeitpunkt fast 70 Artikel zu einem breiten Spektrum ra-dioaktivitätsbezogener Fragestellungen publiziert hatte, befand er sich ähnlich wie sein Kollege Boltwood in Yale an der Peripherie, was den Zugang zu radioaktiven Substan-zen betraf. Er musste vorerst mit schwächeren Proben vorlieb nehmen.

Das Ehepaar Curie erhielt unterdessen zahlreiche Anfragen zum Verleih radioak-tiver Präparate aus dem In- und Ausland. Es lieh oder schenkte kleinere Proben vor allem französischen Physikern, insbesondere Henri Becquerel, Chemikern und,

an-13 Vgl. Kohl 1954, 43.

14 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 15–16.

15 Meyer hielt 1937 fest, dass die Curies zwischen 1898 und 1905 insgesamt 21,1 Tonnen Uranerzrück-stände aus Österreich-Ungarn erhalten und dafür 10.652,93 Kronen bezahlt hatten. Vgl. Archiv der Ös-terreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Radiumforschung, Nachlass Stefan Meyer, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 276 : Meyer an Paneth vom 18.11.1937.

16 Curie meldete 1902, im Besitz von 0,1 Gramm reinen Radiums zu sein, das sie aus mehreren Tonnen böhmischer Pechblende extrahiert hatte. Vgl. Mattauch 1948, 12.

17 Vgl. CUL, RC, Add 7653, B 171 : Boltwood an Rutherford vom 8.8.1904. Hervorhebungen im Original.

ders als dies später in Wien der Fall war, auch Ärzten.18 Die Wiener Akademie erhielt als Dank für die Vermittlung der böhmischen Pechblende zwei Präparate von den Curies, die dem Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Wien für For-schungszwecke zur Verfügung gestellt wurden.19 Der Großteil des aus den böhmi-schen Uranerzen gewonnenen Radiums blieb indes in Frankreich.20 Die beispiellose Verfügungsgewalt eröffnete in Paris besondere Möglichkeiten in wissenschaftlicher Hinsicht : 1903 entdeckten zum Beispiel Henri Becquerel und Pierre Laborde den Wärmeeffekt des Radiums mithilfe eines der stärksten damals vorhandenen Radi-umpräparate.21

Da sich abzeichnete, dass die Verarbeitung riesiger Erzmengen die Kapazität ihres Laboratoriums überstieg, suchte und fand das Ehepaar Curie seit 1903 in der Société Centrale de Produits Chimiques (SCPC) einen Partner, um Radium im industriellen Maßstab herzustellen.22 Die Geschäftsbeziehungen zu der Firma scheinen sich aller-dings schnell verschlechtert zu haben, denn schon im darauf folgenden Jahr suchte das Paar einen neuen industriellen Kooperationspartner. Der französische Industrielle Émile Armet de Lisle begann ab 1904, unterstützt durch Pierre und Marie Curie, eine industrielle Radiumproduktion aufzubauen und nach alternativen Bezugsquellen des Rohstoffs Pechblende zu suchen.23 Die SCPC verkaufte Präparate im In- und Ausland, doch die jeweils stärksten verblieben im Laboratoire Curie in Paris.24 Neben Armet de Lisle ließen sich auch die 1910 von Henri de Rothschild gegründete Société Anonyme des Traitements Chimiques und die deutsche Fabrik Chemischer Produkte Rheingön-heim, die Radiumpräparate auf Basis der St. Joachimsthaler Erze herstellte, von den Curies beraten.25

18 Vgl. Boudia 2001, 75.

19 Vgl. Reiter 2001a, 111.

20 In Wien schätzte man, dass die Curies insgesamt weniger als 100 Milligramm (darunter die der Wiener Akademie überlassenen zwei Milligramm) Radiumproben ins Ausland verschenkten. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 341 : Überweisung von Pechblenderückständen von St. Joachimsthal an Madame Curie, undatiert. Wie die Verteilungspolitik der Curies tatsächlich aussah, ist in der Literatur umstritten. Vgl. Boudia 2001, 89 ; Badash 1979a, 23.

21 Vgl. Hessenbruch 1994, 76.

22 Vgl. Boudia 2001, 89, 91–92. Um aus einer Tonne Pechblende zwischen 20 und 50 Milligramm Radi-umbromid zu extrahieren, waren fünf Tonnen chemischer Zusatzstoffe und 50 Tonnen Wasser notwen-dig. Vgl. Hessenbruch 1994, 49.

23 Vgl. Boudia 2001, 92–104, 124.

24 Vgl. Ceranski 2008a, 422.

25 Siehe zur Firmengeschichte der Rheingönheimer Fabrik http://www.rheingoenheim-info.de/index.php/

geschichten/102-kurzgeschichten-von-walter-schaefer ?start=14 (Zugriff : 25.08.2013). Vgl. zu Curies Kontakten in die Industrie Boudia 2001, 91, 108. Offenbar gelang es Marie Curie, trotz ihrer engen Verbindung zur Industrie ihre Unabhängigkeit zu wahren. Vgl. ebd., 116.

Der Einfluss der Curies im deutschsprachigen Raum war groß. Angeregt durch ihre Publikationen begann der deutsche Industriechemiker Friedrich Giesel im Sommer 1898 mit der Verarbeitung einer größeren Menge Pechblenderückstände, die er von der Chemiefirma De Haën bei Hannover bezogen hatte.26 Giesel stellte in seiner Freizeit in den Räumen seines Arbeitgebers, der Chininfabrik Buchler & Co. in Braunschweig, kleinere Radiumpräparate her. Er nutzte die Präparate für öffentliche Demonstratio-nen, mit denen er eine Reihe von Physikern und Chemikern dazu anregte, die Radio-aktivität nun ebenfalls zu erforschen. Außerdem bot Giesel seine Präparate im In- und Ausland bereitwillig zum kostenlosen Verleih an, wohl in der Hoffnung, darüber seine wissenschaftlichen Kontakte zu pflegen und Anerkennung für seine Arbeit zu finden.27 Giesel wuchs die eigenhändige Verarbeitung der Pechblenderückstände bald über den Kopf. Er beauftragte 1899 daher De Haën, eine Tonne Rückstände für ihn roh aufzu-bereiten.28 Das Unternehmen, das zu jener Zeit gerade erst in die Radiumproduktion einstieg, bezog seine Uranerze, ebenso wie das Ehepaar Curie und ihr industrieller Kooperationspartner, die SCPC, aus Österreich-Ungarn. Es dauerte nicht lange bis De Haën mit dem Ehepaar Curie in Streit um den Bezug des begehrten Rohstoffs geriet.

Insgesamt betrachtet war in den St. Joachimsthaler Minen und auch außerhalb Böh-mens allerdings noch genug Pechblende vorhanden, um neuen Radiumproduzenten den Eintritt in einen sich dynamisch entwickelnden Markt zu erlauben. So begann 1902 zum Beispiel auch Giesels Arbeitgeber Buchler & Co. Radium zu produzieren und zu vertreiben. Das Braunschweiger Unternehmen stieg bald zu einem der wich-tigsten Lieferanten deutscher und britischer Radioaktivisten und Radioaktivistinnen auf.29 Allerdings erreichten die im Deutschen Reich hergestellten Präparate bei wei-tem nicht die Stärke der in Frankreich hergestellten Proben.30

Die Radioaktivistengemeinschaft war bei ihren Experimenten auf möglichst starke, zugleich aber auch erschwingliche Präparate angewiesen. Ernest Rutherford und William Ramsay beschafften sich 1903 Giesel’sche Radiumbromidpräparate zum Preis von einem Pfund Sterling pro Milligramm. Angesichts des knappen Rohstoffs Pechblende und der wachsenden Nachfrage nach dem Endprodukt stiegen die Preise des wertvollen Gutes Radium binnen weniger Jahre merklich. Im Deutschen Reich beispielsweise kostete ein Milligramm Radiumsalz um die Jahrhundertwende zehn, und bald darauf schon 20 Mark. 1906 war der Preis auf 50 Mark für ein Milligramm Radiumsalz gestiegen.31 Um

26 Siehe zu Giesels Aktivitäten Ceranski 2005b, 104–105.

27 Eines der Giesel’schen Präparate fand 1899 den Weg nach Wien.

28 Vgl. Ceranski 2008a, 418.

29 Vgl. Ceranski 2008a, 420–422.

30 Vgl. Boudia 2001, 77.

31 Vgl. Hahn 1962, 29–30.

das Radium zu möglichst günstigen Konditionen zu erwerben, suchten viele den direk-ten Kontakt zu den Herstellern und bodirek-ten im Gegenzug ihre fachliche Expertise an.32

In Großbritannien und in den USA etablierte sich die Radiumindustrie, anders als im Deutschen Reich und in Frankreich, nur schleppend. Ramsay war einer der weni-gen britischen Radioaktivitätsforscher, der seine Versorgung mit radioaktivem Material dadurch sicherzustellen suchte, dass er die British Radium Corporation und ihre Ra-diumfabrik in Limehouse mitbegründete.33 Der bereits erwähnte Bertram Boltwood suchte einen Ausweg aus seiner tendenziell prekären Materialsituation, indem er im Auftrag der Welsbach Company Thorium extrahierte und nebenbei aus dem uranhal-tigen Gestein Radioblei und daraus wiederum Polonium gewann.34

Im Deutschen Reich gingen einige Radioaktivisten einen anderen Weg. Der deut-sche Radiochemiker Otto Hahn hatte 1905, während eines Forschungsaufenthaltes am University College London bei Ramsay, ein neues Zerfallsprodukt entdeckt, das sich chemisch nicht von Thorium unterschied, aber sehr viel stärker radioaktiv war : das Radiothor. Zurück in Berlin, fand Hahn 1907 die Muttersubstanz von Radiothor, die er Mesothor nannte. Hahn arbeitete als Laborleiter am Chemischen Institut der Berli-ner Universität eng mit der Firma Knöfler & Co. zusammen, die im Deutschen Reich schnell zum Alleinanbieter von Thorium avancierte.35 1911 erhielt Knöfler & Co. von Hahn das Patent zur Herstellung von Mesothor.36 Daneben pflegte er gute Kontakte mit der Berliner Auergesellschaft, die ebenso wie Knöfler & Co. Mesothor für medizi-nischen Bedarf und für die Leuchtfarbenproduktion herstellte.37 Mesothor, auch das deutsche Radium genannt, war für die medizinische Anwendung attraktiv, denn sein Preis lag ein Drittel bis die Hälfte unter dem des Radiums.38

32 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 56 ; Roqué 2001a, 56 ; Fattinger 1937, 12.

33 Vgl. Rentetzi 2008, 439.

34 Vgl. CUL, RC, Add 7653, B 206 : Boltwood an Rutherford vom 21.2.1909.

35 Vgl. Ceranski 2005b, 105. Hahns britischer Kollege Soddy forderte 1909 verschiedene Thoriumprodu-zenten auf, das neu entdeckte Element Mesothor industriell herzustellen, scheiterte aber am Geheimhal-tungsvertrag, den dessen Entdecker Hahn mit der Firma Knöfler abgeschlossen hatte. Er machte sich daher an die Umgehung der Patente. Vgl. Freedman 1979, 258.

36 Otto Hahn erhielt für seine Mitarbeit von der Firma Knöfler mit über 100.000 Mark eine beträchtliche Vergütung. Vgl. Hoffmann 1993, 49. Zur Kritik Meitners an Hahns industriellem Engagement siehe Ernst 1992, 15–16. Die Rechtsvorgängerin der deutschen Auergesellschaft, die Deutsche Gasglühlicht Aktiengesellschaft, war 1892 unter Mitwirkung des österreichischen Industriellen Carl Auer von Wels-bach gegründet worden. Die Auergesellschaft begann um die Jahrhundertwende mit der Produktion radioaktiver Substanzen. Mit Aufnahme der Mesothor-Produktion verlegte sich das Unternehmen auf die Herstellung radioaktiver Leuchtfarben und lumineszierender Stoffe beziehungsweise Erzeugnisse für die Röntgendiagnostik. Vgl. Auergesellschaft 1978, 5–6.

37 Vgl. Hahn 1968, 83.

38 Vgl. Helvoort 2001, 40. Die Auergesellschaft produzierte 1909 pro Jahr etwa zwei Gramm Mesothor,

In Österreich-Ungarn, wo die Radiumproduktion auf industrieller Basis erst 1904 begann, blieb die wachsende Nachfrage der Curies nach böhmischer Pechblende nicht ohne Folgen. Denn der vermeintlich unbrauchbare Abraum hatte sich dank der aus-ländischen Nachfrage binnen kurzem in einen wertvollen Rohstoff gewandelt, über dessen künftige Verwendung neu verhandelt werden musste. Die diesbezüglichen Entscheidungen wurden in Wien getroffen, dem unbestrittenen Machtzentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.39 Hier hatte das mit der Verwaltung der böh-mischen Bergwerke befasste k. k. Ackerbauministerium seinen Sitz. Bevor das Ministe-rium eine Entscheidung treffen konnte, schaltete sich die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien ein. Im Juni 1901 errichtete sie eine »Commission für die Untersuchung der radioactiven Substanzen«, der mehrere bekannte Naturwissenschaft-ler und Industrielle aus dem Umfeld der Akademie angehörten.40 Der Wiener Physi-ker Franz Serafin Exner übernahm den Vorsitz der Kommission. Als wirkliches Mit-glied der Akademie (seit 1896) stand er mit den Pionieren der Radioaktivitätsfor-schung Pierre Curie, Ernest Rutherford und William Ramsay in regem Briefkontakt und war über die Entwicklung des neuen Forschungsfeldes bestens informiert. Exner legte durch sein Engagement als Kommissionsvorsitzender den Grundstein für die enge Verbindung deutschsprachiger Radioaktivisten Österreich-Ungarns mit der böh-mischen Radiumindustrie, die den Möglichkeitsraum für künftige Forschungsarbeiten maßgeblich mitbestimmte.

Die Kommission blieb als Einrichtung der Akademie im deutschsprachigen Raum einmalig. Doch ihre Gründung machte bereits deutlich, wie stark die Situation in der habsburgischen Haupt- und Residenzstadt Wien durch das Verfügungsmonopol über den Rohstoff zur Radiumgewinnung geprägt war.41 Anders als ihr Name vermuten lässt, engagierte sich die Kommission nicht direkt in der Radioaktivitätsforschung, die bereits an der Universität Wien begonnen hatte. Ihre Hauptaufgabe bestand vielmehr darin, die Produktion einer größeren Menge Radiums im Lande vorzubereiten. Die raison d’être

wobei ein Milligramm der Substanz zwischen 200 und 300 Goldmark kostete. Von den weltweit produ-zierten sieben Gramm Mesothor wurden fünf Gramm im Deutschen Reich hergestellt. Vgl. ebd., 41. Die medizinische Behandlung mit Radium blieb bis in die 1920er Jahre wegen des enormen Preises reichen Patienten vorbehalten. Vgl. Boudia 2001, 100–101 ; Adams 1993, 497.

39 Der Bergverwaltung in St. Joachimsthal war es verboten, Uranpecherz selber zu verkaufen. Damit sollte verhindert werden, dass sich eine Konkurrenz bilden konnte, die Uranfarben herstellte. Vgl. Seidlerová/

Seidler 2010, 18.

40 Der Kommission gehörten bei ihrer Gründung vier Mitglieder an : Franz Serafin Exner, Gustav Tscher-mak, Victor von Lang und Adolf Lieben. Vgl. Almanach 1901, 46. Sie bestand formal bis 1938. An ihre Stelle trat am 28. April 1938 das Kuratorium des Instituts für Radiumforschung. Vgl. Almanach 1938, 84.

41 Vgl. Ceranski 2012, 53.

der Kommission war gleichwohl wissenschaftlich begründet : Naturwissenschaftler und

der Kommission war gleichwohl wissenschaftlich begründet : Naturwissenschaftler und