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6.5 Hauptexperiment – Diskussion

6.5.2 Versuchsteil B

Die in H A7 vorgebrachte Vermutung, die komplizierteste und damit die längste Wahlreakti-onszeit benötigende Bedingung sei die Kombination eines negativen Primes mit einem nega-tiv formulierten unzutreffenden Target (ungekochte Möhren – nicht hart), hat sich statistisch nicht absichern lassen. Obwohl bei dieser Bedingungskombination numerisch relativ hohe Latenzen auftraten, hat sich die dahinter stehende Dreifach-Wechselwirkung als nicht signifi-kant erwiesen. Tatsächlich war, wie bei der Diskussion der Zweifach-Wechselwirkung von Prime und Target-Typ ausgeführt, die Kombination eines unmodifizierten Primes mit einem affirmationsbezogenen Target die Bedingung, die die längste Verarbeitungszeit benötigte.

Ergänzend bleibt noch festzustellen, dass die in H A6 formulierte Erwartung, ‚unwahr’-Ant-worten erfolgten gegenüber ‚wahr’-Ant‚unwahr’-Ant-worten verzögert, sich in den empirischen Daten ledig-lich als Tendenz gezeigt hat. Ein weiterer, nicht erwarteter Befund bestand darin, dass die Wahlreaktionszeit unabhängig von Target-Typ und -Formulierung beim Bezug auf negative Primes länger war als beim Bezug auf affirmative oder positive Primes. Dieser Befund ent-spricht den im Zusammenhang mit der Verarbeitung der Nomen gemachten Beobachtungen.

Er war jedoch nur in den Analysen über Versuchspersonen signifikant, nicht aber in den Ana-lysen über Items oder über Einzelreaktionen. Mit aller gebotenen Vorsicht kann dieser Prime-Effekt als schwaches Indiz dafür betrachtet werden, dass die Verifikation nicht ausschließlich auf der Grundlage einer inferenziell angereicherten Sachverhaltsrepräsentation erfolgt, son-dern unter Umständen die propositionale Struktur des Primes einbezieht.

Für die Überlegung, dass die Prozesse konzeptueller Kombination in Versuchsteil A und suchsteil B nicht völlig gleich sind, spricht auch noch ein weiterer Befund. Wie in Ver-suchsteil A zeigte sich auch in VerVer-suchsteil B im zweiten Verarbeitungsschritt ein signifikan-ter Effekt des Faktors Prime. Ein solcher Effekt war zwar in H B1 vorhergesagt worden, doch entsprach die Struktur dieses Effekts den Vorhersagen (und den Beobachtungen aus Ver-suchsteil A) nur zum Teil: Während, wie erwartet, die Verarbeitungszeit für negative te länger war als die für positive Attribute, war zwischen negativen und affirmativen Attribu-ten kein Unterschied festzustellen. In der Tat haben negative und affirmative Attribute beim Bezug auf ein Objektkonzept eine Gemeinsamkeit, die sie von den meisten positiven Attribu-ten unterscheidet: Als Partizipien suggerieren negative und affirmative Attribute bestimmte Handlungen, die an den betreffenden Objekten ausgeführt worden sind. Nach dem Lesen von Möhren etwa deutet sowohl gekocht als auch ungekocht darauf hin, dass man Möhren garen kann (wodurch sich ihre Eigenschaften verändern können), während roh lediglich ein be-stimmtes Objektmerkmal bezeichnet. In dem Unterschied zwischen negativen und affirmati-ven Attributen einerseits und positiaffirmati-ven Attributen andererseits spiegelt sich also die in Theo-rien konzeptueller Kombination getroffene Unterscheidung von relationsbasierten und eigen-schaftsbasierten Zusammenhängen wider (vgl. Wisniewski, 1996, 1998; Gagné & Murphy, 1996; Gagné, 2000). Mit dem Bezug auf diese Unterscheidung lassen sich vielleicht auch die Abweichungen in den Befundmustern von Teil A und Teil B erklären: Es ist nämlich denkbar, dass in Versuchsteil B, wo das Bezugsobjekt beim Lesen des Attributs schon bekannt war, Partizipien grundsätzlich relationsbasiert und echte Adjektive grundsätzlich eigenschaftsba-siert repräsentiert worden sind. In Versuchsteil A dagegen, wo die Attribute zunächst unab-hängig von ihren Bezugsobjekten eingeführt worden waren, könnten negative Partizipien (die mit dem Negationsmorphem un- ohnehin schon eine interne Relation enthalten) relationsba-siert repräsentiert worden sein, während affirmative Partizipien ebenso wie echte Adjektive eigenschaftsbasiert repräsentiert worden sein könnten. Plakativ gesprochen, könnte man sich unter gekochte Möhren Möhren vorstellen, die gekocht sind, nicht Möhren, die gekocht wor-den sind. Dieser – zugegeben spekulative – Erklärungsansatz wird in seiner Tragweite aller-dings dadurch eingeschränkt, dass der Prime-Effekt in den Analysen über Items nicht stabil war. Die Befunde hängen offenbar stark von den konkret verwendeten Materialien und von den damit implizierten Konzeptualisierungen ab, und das ist auch plausibel: Gekochte Eier sollten eher eine relationsbasierte, gekochter Schinken dagegen eher eine eigenschaftsbasierte Interpretation erfahren.

Im dritten Versuchsschritt, in dem der Target-Ausdruck zu lesen und auf den Prime zu bezie-hen sowie die dadurch entstebezie-hende Aussage zu verifizieren war, stimmte Versuchsteil B hin-sichtlich Prozeduren und Design mit Versuchsteil A überein. In den Ergebnissen traten jedoch einige Unterschiede zutage: Gegenüber Versuchsteil A war in Versuchsteil B der Anteil der Fehlreaktionen um etwa ein Drittel geringer und die mittlere Wahlreaktionszeit war kürzer.

Trotz insgesamt ähnlicher Befundlage waren außerdem einige Effekte im Detail unterschied-lich, besonders solche, die die Korrektheit der Wahlreaktionen betrafen.

So hat sich der in H B2 vorausgesagte Einfluss der Target-Formulierung auf die Korrektheit der Wahlreaktionen im Unterschied zu Versuchsteil A statistisch nicht nachweisen lassen: Bei insgesamt geringerem Fehleranteil in Versuchsteil B war die relative Häufigkeit von Fehlre-aktionen bei negativ formulierten Targets (nicht weich) numerisch zwar höher als bei affirma-tiv formulierten (weich), doch war der Unterschied statistisch nicht bedeutsam. Ein stabiler Effekt der Target-Formulierung zeigte sich nur für die Wahlreaktionszeit. In den Analysen über Versuchspersonen, über Items und über richtige Einzelreaktionen führten negativ

formu-lierte Targets zu längeren Verifikationszeiten als affirmativ formuformu-lierte. Dieses Ergebnis ent-spricht sowohl den in H B4 formulierten Erwartungen als auch den Ergebnissen aus Ver-suchsteil A. Die dazu angestellten Überlegungen gelten daher im Prinzip auch hier. Die in zahlreichen Verifikationsstudien berichtete längere Verarbeitungszeit für negative Ausdrücke (z.B. Sherman, 1973; Clark, 1974; Carpenter & Just, 1975) wird allgemein als Folge der bei Negation aufwendigeren Rekodierungs- und Vergleichsprozesse betrachtet. Dass der Formu-lierungseffekt im Versuchsteil A außer in den Verifikationszeiten auch im Fehleranteil deut-lich geworden ist, habe ich damit erklärt, dass die zu verifizierenden Merkmale nicht direkt ersichtlich waren, sondern anhand wissensbasierter Inferenzen (etwa über die Eigenschaften gekochter Möhren) erschlossen werden mussten. Dass der Formulierungseffekt im Ver-suchsteil B nur in den Verifikationszeiten, aber nicht im Fehleranteil deutlich geworden ist, kann vielleicht damit erklärt werden, dass die Versuchspersonen inzwischen gelernt hatten, entsprechende wissensbasierte Inferenzen vorzunehmen.

Wie schon in Versuchsteil A hat sich auch in Versuchsteil B keine Wechselwirkung der Fak-toren Prime und Target-Formulierung in Bezug auf die Korrektheit der Wahlreaktionen ge-zeigt. Die Verteilung der Fehlreaktionen war weder von dieser in H B3 vorhergesagten Wech-selwirkung noch von irgendeinem anderen Faktor abhängig; auch eine WechWech-selwirkung von Prime und Target-Typ, wie sie in Versuchsteil A aufgetreten ist, war hier nicht zu beobachten.

Betrachtet man die – statistisch gesehen zufällige – Verteilung der Fehlreaktionen aber etwas genauer, so werden doch gewisse Parallelen zu den Ergebnissen aus Versuchsteil A deutlich.

Hier wie dort war die Wechselwirkung von Prime und Target-Typ wichtiger Bestandteil des log-linearen Modells, das die Verteilung der Fehlreaktionen am besten beschrieb, und hier wie dort kamen die weitaus meisten Fehlreaktionen beim Bezug von affirmationsbezogenen Targets (z.B. weich) auf unmodifizierte Primes (Möhren) vor. Wegen dieser Parallelität der Ergebnismuster neige ich trotz der quantitativen Unterschiede dazu, den Erklärungsansatz aus Versuchsteil A für Versuchsteil B zu übernehmen. Diesem Erklärungsansatz zufolge ist die Kombination von affirmationsbezogenem Target und unmodifiziertem Prime besser als alle anderen Bedingungskombinationen geeignet, die Versuchspersonen zu kreativen Inferenzen zu veranlassen. Unabhängig von der sachlichen Richtigkeit kann die Notwendigkeit, mit ei-nem Objektkonzept ein normalerweise nicht damit assoziiertes Merkmal zu verbinden, Infe-renzprozesse in Gang setzen, die eine Interpretation im Rahmen eines kohärenten mentalen Modells ermöglichen können.

Das Befundmuster zu den Verifikationszeiten lässt sich mit dieser Überlegung vereinbaren.

Wie in Versuchsteil A zeigte sich auch in Versuchsteil B eine signifikante Zweifach-Wechselwirkung der Faktoren Prime und Target-Typ. In den Analysen über Versuchsperso-nen, über Items und über Einzelreaktionen erwies sich übereinstimmend der Bezug affirmati-onsbezogener Targets (weich oder nicht weich) auf unmodifizierte Primes (Möhren) als kog-nitiv besonders aufwendig. Diese Bedingungskombination erforderte weitaus längere Verifi-kationszeiten als alle anderen Bedingungen. Die Wechselwirkung von Prime und Target-Typ wurde außerdem überlagert durch eine Dreifach-Wechselwirkung von Prime, Target und Tar-get-Formulierung. Diese in H B5 und H B6 vorhergesagte Interaktion trat in den Analysen über Versuchspersonen und über Einzelreaktionen auf. Sie sah so aus, dass unter allen Prime-Target-Kombinationen die negativ formulierten Targets längere Wahlreaktionszeiten erforder-ten als die affirmativ formuliererforder-ten, wobei dieser Unterschied lediglich bei affirmativem Prime und negationsbezogenem Target (gekochte Möhren – hart bzw. nicht hart) nicht signifikant war. Die in H B6 formulierte Erwartung, die Kombination eines negativen Primes mit einem negativ formulierten negationsbezogenen Target (ungekochte Möhren – nicht hart) führe zu

besonders langen Verifikationszeiten, hat sich in dieser Wechselwirkung im Prinzip bestätigt, sofern man von der Bedingung unmodifizierter Prime mit affirmationsbezogenem negativ formuliertem Target (Möhren – nicht weich) absieht, deren Verifikation, wie oben beschrie-ben, noch mehr Zeit benötigte.

Damit sind im Zusammenhang mit den signifikanten Wechselwirkungen drei Fragen zu dis-kutieren.

• Wieso benötigen affirmationsbezogene Targets beim Bezug auf unmodifizierte Primes so lange? Die Überlegungen, die ich zu dieser speziellen Bedingungskombination im Zusammenhang mit Versuchsteil A angestellt habe, lassen sich problemlos auf Ver-suchsteil B übertragen. Die Erwähnung von weich im Zusammenhang mit Möhren könnte die Versuchspersonen veranlassen, sich mittels wissensbasierter Inferenzen Si-tuationen zu vergegenwärtigen, in denen Möhren weich oder nicht weich sein können, und ein entsprechendes mentales Modell aufzubauen. Diese Suche nach einer plausib-len Situation könnte eine Verlängerung der Verarbeitungszeit bewirkt haben. Im Fall von nicht weich sollte die Verarbeitungszeitverlängerung besonders deutlich ausfallen, da man sich hier nicht nur überlegen muss, in welcher Situation Möhren weich sein können, sondern auch, in welcher Situation potenziell weiche Möhren tatsächlich nicht weich sind.

• Wieso benötigen negativ formulierte negationsbezogene Targets in Kombination mit negativen Primes so lange? Bei dieser Bedingungskombination sind die bei der Verifi-kation zu leistenden kognitiven Prozesse besonders komplex. Der Prime (ungekochte Möhren) impliziert, dass ein die Merkmals-Konstellation verändernder Vorgang tat-sächlich nicht stattgefunden hat, das Target (nicht hart) enthält eine Negation, und die adäquate Reaktion lautet ‚unwahr’. Mit insgesamt drei nachzuvollziehenden Negatio-nen ist diese Bedingungskombination die in logischer Hinsicht schwierigste des ge-samten Experiments. Der hohe Schwierigkeitsgrad äußert sich in einer relativ langen Wahlreaktionszeit – ein Befund, der mit Beobachtungen aus früheren Verifikations-studien übereinstimmt (Sherman, 1973; 1976; Just & Carpenter, 1976).

• Wieso zeigt sich ein Formulierungseffekt unter allen Bedingungen außer bei negati-onsbezogenen Targets mit affirmativen Primes? Das Ausbleiben eines signifikanten Formulierungseffekts bei der genannten Bedingungskombination ist darauf zurückzu-führen, dass die Verarbeitung des negativ formulierten Targets (nicht hart) hier schneller erfolgt als unter allen anderen Bedingungen. Der Grund hierfür liegt wohl darin, dass hart in Bezug auf gekochte Möhren sich in einem wichtigen Punkt von al-len anderen untersuchten Attributionen abhebt. Es handelt sich hier nämlich um ein so genanntes verdrängtes Merkmal. Kocht man Möhren, so trifft das Objektmerkmal hart nach Abschluss des Vorgangs nicht mehr zu. In früheren Studien (Springer & Murphy, 1992; Strohner & Stoet, 1996) hatte sich gezeigt, dass die Verifikation solcher ver-drängten Merkmale vergleichsweise wenig Zeit in Anspruch nimmt. Die Ergebnisse des vorliegenden Experiments entsprechen dieser Beobachtung, gehen aber in einer Hinsicht über die bisherigen Arbeiten hinaus: Ich konnte zeigen, dass die Verifikation negierter verdrängter Merkmale (nicht hart) nur unwesentlich länger dauert als die nicht negierter (hart). Die naheliegende Erklärung für dieses Ergebnis besagt, dass verdrängte Merkmale als nicht mehr zutreffend repräsentiert werden, so dass ein men-taler Abgleich mit einem negativ formulierten negationsbezogenen Target-Ausdruck, der eben dieses Nicht-Zutreffen explizit macht, vergleichsweise leicht erfolgen kann.

Schließlich bleibt in Bezug auf die Wahlreaktionszeiten noch festzuhalten, dass die in H B5 formulierte Erwartung, ‚unwahr’-Antworten benötigten mehr Zeit als ‚wahr’-Antworten, sich in den Daten bestätigt hat. Lediglich für die unmodifizierten Primes traf das nicht zu. Wie in Versuchsteil A bestand ein weiterer, nicht erwarteter Befund darin, dass die Wahlreaktionszeit für die verschiedenen Prime-Bedingungen unterschiedlich war. Als ‚Ausreißer’ erwiesen sich dabei die unmodifizierten Primes; bei diesen war die Wahlreaktionszeit überdurchschnittlich hoch. Auf die Besonderheiten dieser Prime-Bedingung bin ich bereits im Zusammenhang mit der Diskussion der Wechselwirkungen eingegangen, so dass sich eine erneute Erörterung er-übrigt.