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2012|Februar erziehungskunst behandeln, sondern objektiv auf die Tatsachen zu blicken,

wie ein Arzt bei der Diagnose.

MM|Kommt die Behandlung von Medienfragen in den Waldorfschulen nicht viel zu spät? Viele Kinder nutzen schon Jahre vorher Computer, Handy und Internet.

RP|Eben deshalb hatten wir erwartet, dass wenigstens die Waldorfschulen ihre Lehrer zur Fortbildung ins IPSUM-Institut schicken, aber es gab keine Nachfrage. Offensichtlich wurde das ständig wachsende Suchtpotential, das mit der Ausbreitung der elektronischen Medien einhergeht, igno-riert oder unterschätzt. Inzwischen aber sind viele Waldorf-schulen durch den ausufernden Medienkonsum in Not und fordern Berater wie unseren Mitarbeiter Uwe Buermann an.

MM | Ist die Lage wirklich so dramatisch? Selbst unter Waldorfeltern hört man oft die Auffassung, Medien gehörten nun einmal zum modernen Leben und sollten nicht ver-teufelt werden.

RP | Welche Wirkungen extensiver Medienkonsum bei Kindern hat, ist inzwischen bestens erforscht. Die Tatsachen, die da zu Tage treten, sind so erschreckend, dass jeder, der sie öffentlich vorträgt, in den Verdacht gerät, er wolle die Medien verteufeln. Das ist Unsinn. Die Menschen wollen

nicht wahrnehmen, dass wir heute vor einer großen päda-gogischen Aufgabe stehen: Wir sind gefordert, den Kindern noch vor dem Eintritt in die Medienwelt zu einer so gesun-den Resilienz zu verhelfen, dass sie dem Suchtpotential der Medien eine innere Kraft entgegensetzen können, die sie davor bewahrt, ihnen zu verfallen.

MM|Fast jedes Kind über 10 Jahren verfügt heute über Handy und Internetzugang. Ist der Zug nicht längst abge-fahren?

RP|Fragt sich nur: Wo endet die rasende Fahrt? Ärzte und Psychiater weisen seit Jahren auf die katastrophalen gesund-heitlichen und psychischen Schäden hin, von denen immer jüngere Kinder betroffen sind. Das ist die Endstation, wenn niemand den Zug bremst. Andererseits kann das Ziel auch nicht dauerhafte Medienabstinenz sein. Das Eintauchen in den Mediensumpf gehört heute zur Pubertät, wie eine Art moderner Initiationsritus. Es geht nicht um die Vermeidung der Gefahren, sondern um die Frage: Sind die jungen Menschen genügend ausgerüstet, dass sie durch den Sumpf hindurchgehen können, ohne darin stecken zu bleiben?

MM|In Ihrer Schule haben Sie den »Elternführerschein« in der 12. Klasse eingeführt, wie Sie das scherzhaft nannten.

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RP| Richtig. Zusammen mit Hebamme und Kinderarzt habe ich ein Pilotprojekt »Elternkompetenz« durchgeführt – also einen Versuch, schon in der Schule mit der Schulung künftiger Eltern zu beginnen. Die 12. Klasse erwies sich als der ideale Zeitpunkt dafür, weil die jungen Leute hier voller Interesse auf die frühesten Jahre ihrer Kindheit zurück-blicken und andererseits zum ersten Mal ihren Blick auf die eigene Zukunft als Vater oder Mutter richten. Es war be-wegend, wie tief sich gerade auch die Jungen von solchen Fragen angesprochen fühlten. Mittlerweile ist diese Epoche an der Uhlandshöhe fester Bestandteil des Lehrplans.

MM|Trotz dieses Erfolges verließen Sie die Schule und gründeten 2001 das Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM).

RP|Nicht trotz, sondern wegen. Mir war deutlich geworden, dass die Gestaltung der frühen Kindheit, Elternberatung und Medienerziehung zentrale Themen für eine gelingende Kindheit darstellen und deshalb auch praktische Angebote gemacht werden müssen. Unsere berufsbegleitenden Aus-bildungsgänge waren so gefragt, dass sie in Stuttgart, München, Kiel und Salzburg durchgeführt werden konnten.

Daneben sind Öffentlichkeitsarbeit und Forschung unsere wichtigsten Aufgabenfelder.

MM|Was sind Ihre aktuellen Forschungsfragen?

RP|Eines der Projekte widmet sich der Entwicklung eines anthropologisch begründeten medienpädagogischen Curri-culums – ein Desiderat sowohl an Waldorfschulen wie an staatlichen Schulen. Ein anderes großes Forschungsprojekt ergab sich aus dem salutogenetischen Impuls, mit dem das Institut angetreten ist, nämlich den Tendenzen zu einer krankmachenden Pädagogik entgegenzutreten mit einer Pädagogik, die die Gesundheitskräfte stärkt. Vor diesem

Hintergrund sahen wir die überhastete Einführung der Früheinschulung höchst kritisch. Um aber nicht nur zu schimpfen, brachten wir zusammen mit der Schulärztin Claudia McKeen eine Langzeitstudie auf den Weg, die un-tersucht, welche Auswirkungen der Zeitpunkt der Einschu-lung auf die gesundheitliche EntwickEinschu-lung der Kinder hat.

Dass Früheinschulung den Bildungsweg von Kindern nicht befördert, sondern eher behindert, ist bereits belegt. Ob das aber auch für die gesundheitliche Entwicklung gilt, darüber gab es noch keinerlei Untersuchungen, so dass wir hier Pionierarbeit zu leisten hatten.

MM|Wie weit sind Ihre Untersuchungen gediehen?

RP|Das Projekt begann 2004 mit der Erprobung und Vali-dierung einer standardisierten Einschulungsuntersuchung an rund 100 Waldorfschulen. 2007 und 2008 gingen die ersten Fragebögen zum Gesundheitsstand der Kinder an die Eltern und Lehrer. Nach einer Zwischenbefragung in der 2. Klasse soll in der 4. Klasse der Gesundheitsstand erneut erhoben werden. Leider aber kamen 2010 so wenige Eltern-bögen zurück, dass wir für 2012 einen Appell an alle Schulen richten mussten, doch bitte für einen reichen Rück-lauf von Seiten der Eltern zu sorgen. Gelingt das nicht, wäre die gesamte Studie wertlos.

MM|Wie groß ist die Zahl der Befragten?

RP|Rund 12.500 Kinder haben an den Schuleingangsun-tersuchungen teilgenommen. Nur 3.000 davon sind noch für die Endbefragung 2012 übriggeblieben – eine äußerst

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knappe Zahl, wenn man signifikante Ergebnisse erhalten möchte. Deshalb unsere dringende Bitte an die Eltern, an der Endbefragung teilzunehmen (siehe Kasten).

MM|Könnte es sein, dass die geringe Elternbeteiligung an der Art der Fragen lag?

RP|Die Fragebögen wurden vom Datenschutzbeauftragten des Landes Baden-Württemberg und von der Ethik-Kom-mission geprüft, es gab keinerlei Beanstandungen. Aus-schlaggebend für den Entschluss zur Teilnahme dürfte wohl eher die persönliche Ansprache der Eltern durch die Klas-senlehrer sein.

MM|Sind schon erste Aussagen möglich?

RP|Ja. In Bezug auf die Sensomotorik gibt es einen deutli-chen Entwicklungsruck im Alter von fünfeinhalb bis sechs-einhalb Jahren. Geht man davon aus, dass eine ausgereifte sensomotorische Entwicklung die Basis bildet für die kog-nitive Entwicklung (was freilich in der Wissenschaft noch umstritten ist), dann liegt der richtige Zeitpunkt für die Ein-schulung nicht vor dem Beginn des siebten Lebensjahres.

MM|Wann wird die Studie abgeschlossen sein?

RP|Die Datenerhebung hoffen wir Mitte 2012 abzuschlie-ßen, die Auswertung wird erst 2013 fertig sein.

MM|Sie haben seit 2010 einen Lehrstuhl für Kindheitspä-dagogik an der Alanus-Hochschule inne. Was sind dort Ihre Themen?

RP|In den Bachelor-Studiengängen liegt der Schwerpunkt auf der Waldorfpädagogik. Da ist mein Arbeitsbereich. Ein wichtiges Thema ist dabei die Vorbereitung auf die zahlrei-chen Praktika und deren wissenschaftliche Reflexion. Hier waren neue Wege zu bahnen. Besonders freue ich mich

2012|Februar erziehungskunst über die Tatsache, dass viele Menschen auch ohne Waldorf-hintergrund den Weg zu uns finden und sich hoch motiviert auf ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vorbereiten.

MM|Und welches Projekt steht vor der Tür?

RP|Die Verknüpfung der Forschungs- und Ausbildungstä-tigkeit des Instituts IPSUM mit meinem Lehrstuhl. Vertrag-lich ist sie bereits geregelt, jetzt muss sie realisiert werden.

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Aufruf an die KlassenlehrerInnen und Eltern der 4. Klassen

Mit Unterstützung des Bundes der Freien Waldorfschulen sowie der Pädagogischen und Medizinischen Sektion am Goetheanum ver-folgt das IPSUM-Institut in Stuttgart seit 2004 ein groß angelegtes Forschungsprojekt über den »Zusammenhang von Einschulungs-alter und Gesundheitsentwicklung«. In den vergangenen Jahren wurden bereits Tausende von WaldorfschülerInnen in Deutschland auf ihren Entwicklungsstand bei der Einschulung untersucht.

Ab Januar 2012 folgt der alles entscheidende letzte Schritt des Projekts: An allen deutschen Waldorfschulen werden die Eltern und Lehrer der 4. Klassen zum derzeitigen Gesundheits- und Entwicklungsstand ihrer Kinder befragt. Nur so kann der Zusam-menhang zwischen dem Einschulungsalter und der späteren Ent-wicklung geprüft werden.

Vor uns steht also die entscheidende Abschlussbefragung, der viele Freunde auf der ganzen Welt erwartungsvoll entgegensehen, wie wir aus zahlreichen Briefen und Zuschriften wissen.

Erhält das Institut zu wenige Gesundheitsdaten von den Eltern und Lehrern, sind keine wissenschaftlichen Aussagen möglich.

Die mit großem Aufwand betriebene Studie wäre damit wertlos!

Daher bitten wir alle Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der 4. Klassen, sich für die Studie zu engagieren, damit sie erfolgreich abgeschlossen werden kann. Herzlichen Dank!

Ihre Birgitt Beckers, Klaus-Peter Freitag, Michaela Glöckler, Florian Osswald, Claus-Peter Röh, Rainer Patzlaff, Martina Schmidt

www.ipsum-institut.de/fo_projekte.html

Das Eintauchen in den Mediensumpf gehört heute zur Pubertät, wie eine Art moderner Initiationsritus. Es geht nicht um die Vermeidung der Gefahren, sondern um die Frage:

Sind die jungen Menschen genügend ausgerüstet, dass sie durch den Sumpf