• Keine Ergebnisse gefunden

von Philipp Gelitz

Warum spielen Kinder so gerne? Warum arbeiten Erwachsene so gerne? Weil wir in jeder Phase des Lebens eine Verbindung zur Welt suchen. Zur materiellen Welt genauso wie zur ideellen – zur eigenen Innenwelt genauso wie zur sozialen Welt der »Anderen«.

Der Raum für die innere Verbindung ist aber gefährdet. Ihn zu schaffen, ist die vorrangige Aufgabe der Pädagogik.

31

FRÜHE KINDHEIT

2012|Februar erziehungskunst handelt, sondern sich gerade dadurch auszeichnet, dass er

moralisches Empfinden entwickelt und sein Tun und Las-sen aus Motiven hervorgeht, muss die Pädagogik eine solche moralische Entwicklung ermöglichen. Pädagogik ist von die-sem Standpunkt aus betrachtet nicht bloß eine Technik, die

»dummen« Kindern Wissen beibringt, sondern sie gestaltet in erster Linie Umgebungen, und öffnet damit den Raum für eine Verbindung von Ich und Welt. Elternhäuser, Kin-dergärten und Schulen sind Orte der Ermöglichung!

Aber diese Liebe zur Welt, die Verbindung von Ich und Welt, die Kohärenz, ist in den unterschiedlichen Altersstufen auf verschiedene Art und Weise gefährdet.

Spielzeug trennt den Säugling von der Welt

Wenn Säuglinge im Kinderwagen auf allerlei Gebimmel schauen müssen, bekommen sie einen unruhigen Blick und

sie werden daran gehindert, mit ihren Händen zu spielen oder die Eltern anzuschauen. Das gut gemeinte Spielzeug verhindert die Verbindung des Kindes zur nächsten Umge-bung. Die Welt ist nicht mehr kohärent, sie ist nicht zu-sammenhängend. Noch deutlicher ist dies, wenn Säuglinge im Tragesack nach außen schauen oder im Kinderwagen von den Eltern weg nach vorne blicken müssen. Die Ein-drücke, die auf das kleine Kind zukommen, kann es so schnell gar nicht als zusammenhängend erleben. Man be-obachte einmal, wie in einem solchen Fall die Zehen bei jedem neuen Eindruck zucken. Die Kinder werden zappelig.

Im Kindergartenalter ist oft zu beobachten, wie die Kinder sich vollkommen versunken mit der Welt beschäftigen.

Sie rühren mit einem Stock in der Erde, beobachten Käfer beim Krabbeln und kommt ein Erwachsener um die Ecke, heißt es prompt: »Was kochst Du denn da Schönes?« oder

»Weißt Du denn, wie der Käfer heißt?« – die unmittelbare

Fotos:CharlotteFischer

32

FRÜHE KINDHEIT

Verbindung mit der Welt ist unterbrochen. Was über Sin-neserfahrung und eigenes Tun erlebbar werden sollte, um eine Verbindung aus Liebe zur Welt einzugehen, wird wie gefriergetrocknet, um es kategorisieren zu können. Die Kin-der werden frühintellektuell und interessearm.

Abgeklärte Erwachsene

Auch bei uns Erwachsenen ist die Verbindung von Ich und Welt gefährdet: In Ausbildung und Studium geht es um Prü-fungen und Abschlüsse als Werte an sich und wenig um die innere Auseinandersetzung mit einem selbst gewählten Thema. Und das Arbeitsleben steckt voller wirtschaftlicher Zwänge, die uns Handlungen gegen unsere Überzeugun-gen aufdränÜberzeugun-gen und schlimmstenfalls sogar den Verzicht auf Ideale, Wertvorstellungen oder auf das Verfolgen le-bensbestimmender Themen von uns verlangen. Abgeklärt und zynisch, statt idealistisch und wahrhaftig begegnen wir uns doch recht häufig, wenn wir ehrlich sind.

Die Philosophie der Freiheit

Rudolf Steiner entwickelt in seiner »Philosophie der Frei-heit« den Gedanken, dass die Welt der Ideen und die Welt der Erscheinungen nur vom menschlichen Standpunkt aus getrennt erscheinen. Wir kämen über die Beobachtung zur Wahrnehmung der sinnlichen Welt und über die Intuition zum Denken der Ideen. Um uns einen Begriff machen zu können von einem Ding oder Wesen, brauchen wir sowohl die Wahrnehmung als auch das Denken. Im Auffinden von Begriffen, sei es nun »Baum« oder »Löwe«, fallen Idee und Wahrnehmung zusammen. Es wird etwas erkannt. Wir überwinden eine Polarität durch Aktivität. Und ein Begriff ist um so wirklichkeitsgemäßer, je genauer die Wahrneh-mung und je genauer das Denken ist.

Aber die Wahrnehmungen und das Denken entwickeln sich kontinuierlich. Im Laufe des Lebens, auch im Laufe des Spiels, wandeln sich die Begriffe – sie wachsen. Der Begriff

»Berg« ist bei einem zweijährigen Kind ein anderer als bei einem Erwachsenen, und bei einem Zwanzigjährigen idea-lerweise auch ein anderer als bei einem Fünfzigjährigen.

Dieser Gedanke ist von hoher pädagogischer Bedeutung, weil es den Zusammenhang von Ich und Welt eben behin-dert, wenn die kindliche Beobachtung und Wahrnehmung der Welt durch Hektik, ablenkendes Spielzeug oder durch eine zu frühe intellektuelle Einmischung der Erwachsenen zu weniger wirklichkeitsgesättigten Begriffen führt.

Die Begriffe können nicht genug wachsen, sie sind nicht le-bendig, nicht dynamisch. Die Kluft zwischen Ich und Welt entsteht im Kleinkindalter durch die zuströmenden Sinnes-eindrücke. Ob sich diese Kluft aber durch eigene Aktivität, durch Liebe zur Welt der Erscheinungen wieder kontinu-ierlich verringern kann, hängt von der pädagogischen Um-gebung ab.

33

FRÜHE KINDHEIT

2012|Februar erziehungskunst Was tun?

Zum einen braucht es für die Zeit der frühen Kindheit, ganz besonders in den ersten drei Jahren, zunächst wiederholte unreflektierte Sinneserfahrungen, um über-haupt eine breite neuronale Vernetzung im kindlichen Gehirn anzulegen. Matsch, Sand, Hinfallen, Aufstehen, Farben, Geschmack und so weiter, und zwar in endloser Wiederholung. Das heißt: Primärerfahrungen sammeln. Darüber reden ist eben etwas anderes, als (Primär-)Erfahrungen zu machen. Die Tatsachenlogik muss vor der Verstandeslogik kommen. Ein Leitsatz für jeden Kindergarten!

Und zum anderen müssen die Erlebnisse etwas mit mir und der Welt zu tun haben.

Die Forschung des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der die Entstehung von Gesundheit (Salutogenese) erforscht hat, zeigt: Es hängt viel davon ab, ob sich ein

»sense of coherence«, ein Kohärenzgefühl, einstellt, um Widerstandsfähigkeit (»Resilienz«) zu erlangen. Die Verbindung von Ich und Welt zu ermöglichen, ist also keine schwärmerische Angelegenheit von anachronistischen Romantikern, sondern eine gesundheitliche Notwendigkeit.

Sinnvoll, handhabbar – und wunderbar

Kohärenzgefühl stellt sich laut Antonovski ein, wenn die Umgebung als bedeutsam (also sinnvoll), verstehbar und handhabbar erlebt wird. Sie wird immer bedeutsamer, verstehbarer und handhabbarer, wenn die Ahnung vom Wunderbaren, einem Rest von Rätsel, nicht durch einen kategorisierenden, definierenden Begriff abtrainiert wird. Die Ahnung vom Wunderbaren lässt die Kinder immer wieder von Neuem spielen. Nehmen wir ihnen diesen Zauber, dann ist schon alles klar. Abgeklärt.

Prüfen wir doch, wie wir uns unseren Kindern gegenüber verhalten. Ist die Umge-bung des Säuglings, des Kleinkinds, des Kindergartenkindes so, dass das Spielzeug und das Gerede das Spiel nicht stören, dann wird die Welt verstehbar und handhab-bar, und es entsteht ein Lebensgefühl aktiver Teilnahme am Wunderbaren. Und wenn es dann auch noch sinnvoll ist, was um sie herum geschieht, dann können die Kinder die Welt noch mehr lieben.

‹›

Zum Autor:Philipp Gelitz, Jahrgang 1981, arbeitet als Kindergärtner im Waldorfkindergarten der Freien Waldorfschule Kassel.

Literatur:Rudolf Steiner:Die Philosophie der Freiheit(GA 4), Kapitel V. »Das Erkennen der Welt«, Dornach 1987; Aaron Antonovsky:Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997

Die Liebe zur Welt, die Verbindung