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4 Die Indifferenz der Postmoderne

4.2 Verfall durch Größe

Während sich die Veränderung der Legitimationsgrundlagen aus der Dekadenz der Wahrheit herleitet, die jeden Diskurs relativieren und in einen Partialdiskurs transformieren will, ist der Verfall durch Größe hauptsächlich ein Symptom der Dekadenz der Einheit. Die Dekadenz der Einheit fordert, wie wir gesehen haben, die Idee der politischen Meta-Erzählungen von nationaler Kohärenz und nationaler Einheit heraus. Sie beabsichtigt eine Zersplitterung der einheitlichen gesellschaftlichen Totalität und des mit einem zentralistischen Diskurs ausgestatteten Territoriums. Gleichzeitig meint der Verfall durch Größe, v.a. bei Baudrillard, aber auch einen strukturellen Niedergang, der neben dem Raum auch verschiedene andere Bereiche betrifft. Dieser Vorgang ist aber lediglich die Vorstufe zu einem weiteren Transformationsprozess, welcher Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird: der entropischen Verstreuung der Zerfallsprodukte. Dies ist wichtig zu beachten, weil der bloße räumliche Verfall noch nicht die Vorstellung von der Einheit als solcher antastet, sondern sie

200Ibid. S. 42 201Ibid. S. 17

nur auf niedrigerer Ebene weiterführt. Erst die Verstreuung führt zu einem qualitativ neuen, nicht-homogenen Raumbegriff.

Der Verfall durch Größe bzw. Überkomplexität bezieht sich auf die territoriale sowie auf die strukturelle Ebene. Er wird vor allem bei Baudrillard thematisiert, welcher die (Spät-) Moderne als eine Zeit der unablässigen Optionssteigerung und Ausdifferenzierung betrachtet. Daraus sind Systeme von hoher Komplexität und Größe entstanden, die sich schließlich, so Baudrillard, durch ihre eigene Größe selbst behindern und dysfunktional werden. Als Beispiele führt Baudrillard die politische Topographie an (etwa das Vielvölkerreich der ehemaligen Sowjetunion), aber auch die Datenspeicher, Dokumentationen, Erinnerungssysteme, Archive, Pläne, Programme und Entscheidungsvorgänge der Moderne; damit verbunden auch die

„unglaubliche zerstörerische Überpotentialität der strategischen Waffen”202. In Baudrillards Posthistoire-Ausdrucksform hört sich dies so an:

„Mit dieser wunderbaren Nutzlosigkeit geht ein spezifischer Ekel einher. Der Ekel an einer Welt, die wächst und wuchert und die nichts zustande bringt. All die Erinnerungen, all die Archive, all die Dokumentationen, die keine Idee mehr hervorbringen, all die Pläne, Programme und Entscheidungen, die kein Ereignis mehr zu Wege bringen können, all diese hochtechnisierten Waffen, die keinen Krieg mehr entfesseln können!”203

Baudrillard nimmt zur Kennzeichnung der Spätmoderne Metaphern in Anspruch, die in der Posthistoire-Diagnostik z. T. bereits eine gewisse Tradition aufzuweisen haben, etwa die Metaphorik der Leere, des Eises und der Kälte, der Stagnation, der kulturellen Erstarrung, aber auch des Krebses und der wuchernden Metastasen. Diese Terminologie entspricht der Sprache der Dekadenz, wobei hier jedoch abermals nicht nur bestimmte Elemente der Moderne, sondern gleich die Moderne als Ganzes beschrieben wird als etwas, dem die Zukunft abhanden gekommen ist. Baudrillards Prinzip des Posthistorischen beruht auf der Annahme, dass die Moderne von ihrer eigenen Entwicklung abgefallen sei und sich ins Gegenteilige und Dysfunktionale verwandelt habe, in eine Art rigor mortis oder Erstarrung gefallen sei.

Demnach sieht Baudrillard den Vorgang der sektoriellen und stratifikatorischen Ausdifferenzierung und Komplexitätssteigerung der Moderne nicht als einen fortschrittlichen Vorgang, sondern als eine barocke „Auswucherungs- und Trägheitslogik”, die zur Ausbildung von „übervollen, hypertrophen und saturierten Systemen” geführt habe.204 Der perennierende Neuerungsmechanismus der Moderne laufe ins Leere; die solcherart „stillgestellten Formen vermehren sich, und das Wachstum erstarrt in der Auswucherung”205.

Baudrillard führt vor allem zwei Beispiele des Verfalls durch Größe an, zum einen die politische Topographie, zum anderen die modernen Waffensysteme. Dass der postmoderne

202Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1985 (frz. 1983), S. 15

203Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992 (frz. 1990), S. 40 204Vgl. Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1985 (frz. 1983), S. 12ff

205Ibid. S. 14

philosophische Diskurs durch seine pluralistische, anti-totalitäre Option von Beginn an gegen ideologische Systeme wie den Kommunismus angearbeitet hat, haben wir bereits gesehen.

Schon aus diesem Grunde wurde das Ende der Sowjetunion nur als eine Frage der Zeit gesehen. Baudrillard fügt dem hinzu, dass mit dem Ende des Ostblocks ein „unterkühltes und erstarrtes” saturiertes System, in dem die Freiheit „zwangsverwaltet und stark unter Druck gesetzt” wurde, in kurzer Zeit in „übermäßige Verflüssigung und Zirkulation”206 übergegangen sei:

„Was bedeutet Glasnost? Die retroaktive Transparenz aller Zeichen der Moderne, immer schneller und aus zweiter Hand (fast ein postmodernes Remake unserer Originalversion der Moderne) — aller durcheinander gemischten positiven und negativen Zeichen, das heißt nicht nur der Menschenrechte, sondern auch der Verbrechen, Katastrophen und Unfälle, deren fröhliche Urständ man in der Ex-UdSSR seit der Liberalisierung des Regimes beobachten kann. Sogar die Wiederentdeckung der Pornographie und der Außerirdischen. Alles, was bisher zensiert wurde, wird nun gefeiert wie alles übrige auch. [...] Recycling von überholten Formen, übertriebenes Feiern von Reststücken, Rehabilitation durch Flickschusterei und eklektische Gefühlsduselei. Mit einer Tendenz zu starker Verwässerung und schwachen Intensitäten. In diesem Sinne war der Stalinismus die Moderne, und die jüngsten Ereignisse der ‚Befreiung’ entsprächen eher einem postmodernen Spannungsabfall. Ihre erstaunliche Mühelosigkeit und Schnelligkeit ist übrigens ein sicheres Zeichen dafür, daß wir den Abhang der Geschichte hinunterstürzen.”207

Baudrillards Befreiungsbegriff findet sein Analogon in der „Emanzipation der Minderheiten”

von Lyotard. Doch im Gegensatz zu Lyotard ist diese „Befreiung” bei Baudrillard nicht mit einem Fortschritt zum Besseren verbunden. Lyotards Denken wurde noch von der idealistischen Vorstellung geleitet, dass sich aus der Erosion der diskursiven wie der territorialen Totalitäten und der Ausbildung autonomer Sphären — der Befreiung ethnischer, sozialer oder religiöser Gruppen aus dem „zentralistischen Diskurs der Majoritäten” —, ein Zugewinn an Freiheit ergäbe. Doch anders als Lyotards „Emanzipation der Minderheiten”

beinhaltet Baudrillards Freiheitsbegriff keine positiven Hoffnungen. Die Befreiung ist für Baudrillard eine potentiell katastrophische Form.

206Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994 (frz. 1992), S. 51f.

207Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994 (frz. 1992), S. 54ff. bzw.

S. 60

Die vorläufig aus dem Zerfall des geschlossenen Ganzen hervorgehenden Teile bezeichnet Baudrillard als „Fraktale”208, weil Fraktale im Kleinen dieselben Merkmale wie die großen Formen besitzen, aus denen sie hervorgegangen sind. Daher sei auch nichts verschwunden, nur sei alles jetzt zerfallen und finde gerade im Zerfall und der fraktalen Vervielfachung den Weg, um weiter zu bestehen. Die großen Systeme, die großen Imperien, die Meta-Erzählungen haben sich aufgelöst, aber sie haben „eine Möglichkeit für ihre Fortführung in anderer Form gefunden, nicht wie bisher durch eine Art dynastischer Abfolge, sondern durch eine fraktale Zersplitterung, durch eine Einzellern ähnliche Form der Fortsetzung des Gleichen ins Unendliche: im Detail. [...] Mikro-Imperien, Mikro-Diktaturen, Mikro-Autarkien, die in sich alle Merkmale der Makro-Strukturen tragen, alle Übel des Imperiums.”209 Totalität, und damit auch das von der Postmodernetheorie verneinte Totalitäre, wird durch den bloßen Verfall nicht angetastet, sie setzt sich lediglich jenseits der großen Formen fort.

Das zweite Beispiel eines Verfalls durch Größe betrifft die modernen Waffensysteme, deren Zusammenbruch, so Baudrillard, zu Wiederbelebung der Kriegsszene führe. Er stellt diese These vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation auf, die einen Krieg durch seine eigene Überpotentialität praktisch unmöglich gemacht hatte. Er war zu einer unmöglichen Form der Konfliktbewältigung zwischen den Supermächten geworden, indem er entweder ein Atomkrieg oder überhaupt keiner war. So wurde die Situation eines „reinen Krieges”210 erzeugt, und zwar in dem Sinne, dass der reine Krieg ein unmöglicher Krieg ist: ein Krieg ohne Zeit und Raum, eine leere und reine Form:

„Der Punkt, an dem die zerstörerischen Kräfte sich gegenseitig überbieten, bedeutet das Ende der Kriegsszene. Zwischen dem Vernichtungspotential und seiner Zweckbestimmung gibt es keinen Zusammenhang mehr, also ist es auch sinnlos, sich seiner zu bedienen. Das System schreckt sich selber ab, und was daraus paradoxerweise folgt, ist der vorteilhafte Aspekt der Abschreckung: der Krieg findet keinen Raum mehr.”211

Ironisch spricht sich Baudrillard, ähnlich wie André Glucksmann212, daher für die Beibehaltung der atomaren Hochrüstung aus:

„Also muß man die Hoffnung gerade auf das Weiterbestehen des nuklearen Wettlaufs und Wettrüstens setzen. Das ist der Preis für den reinen Krieg, das heißt für seine leere

208Vgl. Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992 (frz. 1990), S.

10, sowie: Jean Baudrillard, Die Rückwendung der Geschichte, in: Lettre International, Nr. 22, Herbst 1993, S. 13 - 16

209Jean Baudrillard, Die Rückwendung der Geschichte, in: Lettre International, Nr. 22, Herbst 1993, S. 13 - 16, hier: S. 14

210Paul Virilio legt eine andere Definition des „reinen Krieges” vor, siehe Resümee 2 211Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1985 (frz. 1983), S. 16f.

212Vgl. André Glucksmann, Philosophie der Abschreckung, Stuttgart 1984

und reine Form, für die hyperreale und ewig abschreckende Form des Krieges. Das ist der Punkt, an dem wir uns erstmalig zum Ausbleiben von Ereignissen beglückwünschen können. Ein Krieg wird, wie das Reale, nie wieder stattfinden. [...] In seiner erdumspannenden und ekstatischen Gestalt ist der Krieg zu einer unmöglichen Form des Austausches geworden.”213

Wir finden diese Entwicklung bei Mary Kaldor als „Rüstungsbarock” bezeichnet.214 Wie Baudrillard benutzt Kaldor das Adjektiv „barock”, um einen Niedergang durch übertriebene Ausdifferenzierung und Erstarrung zu bezeichnen. Auch sie legt dar — wissenschaftlich jedoch wesentlich fundierter als Baudrillard —, dass der „Rüstungsbarock” zwar nicht denkbar ohne die Ideologie des Fortschritts sei, jedoch im Laufe seiner Entwicklung so überdimensionale Waffensysteme hervorgebracht habe, dass er damit sogar den Fortschritt selbst behindere, indem er manierierte, sozusagen maßgeschneiderte Produktverbesserungen betone, die typisch für Industrien im Abstieg seien: „Der Rüstungsbarock verlängert künstlich das Leben von Industriezweigen, die andernfalls längst geschrumpft wären. Er bindet Ressourcen, die für Investitionen und Innovationen in Bereichen neuerer, dynamischerer Industrien gebraucht werden. [...] Indem das Waffensystem sich auf den von Herstellern und Abnehmern vorgezeichneten Bahnen immer weiter perfektioniert, hat es sich offenbar schon übernommen.

Es ist überdimensional, kostspielig, überzüchtet und immer weniger funktional geworden. Sein gesellschaftlicher Sinn besteht darin, ein immer komplizierteres Netz von Abhängigkeiten zwischen Soldaten, Seeleuten, Offizieren, Managern, Konstrukteuren, Arbeitern und Bürokraten zu knüpfen. Darüber hinaus verbreitet es noch einen gewissen Pomp, eine Art sozialer Ehrfurcht, wie sie barocke Kunst, barocke Architektur und barocke Technologie immer wieder ausgestrahlt haben — einen Pomp allerdings, der wohl schon ein Zeichen des Niedergangs ist.”215

Rückblickend haben die Atomwaffen des Kalten Krieges durch die Möglichkeit des Nuklearkriegs, der konzentriertesten menschengemachten Katastrophe, vorübergehend den Krieg als Mittel der Konfliktbewältigung unmöglich gemacht. Ihre Komplexitätsreduktion setzt einen gegenteiligen Prozess in Gang: er verringert den Aspekt der Abschreckung und gibt der Kriegspraxis wieder Raum. Insofern trägt der Verfall durch Größe dazu bei, den Krieg zu

„befreien”: ihn wieder möglich zu machen. Waffenruhe und Bedrohungspotentiale verabschieden sich in eine vielfältige, unüberschaubare und reale Kriegspraxis. Während der Verfall durch Größe auf räumlicher Ebene zu einer Vervielfachung potentieller Akteure führt, bewirkt er auf der Ebene der Waffentechnik eine Wiederbelebung der Kriegspraxis: insgesamt steigt der Krieg von der Stufe maximaler Größe und Vernichtungswirkung herab, um sich auf niedrigerer Ebene, dort aber möglicherweise umso lebhafter, neu zu organisieren.

213Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien (frz. 1983), München 1985, S. 16f.

214Vgl. Mary Kaldor, Rüstungsbarock, Berlin 1981 215Ibid. S. 25