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3 Die Regellosigkeit der Postmoderne

3.3 Die Dekadenz der Einheit

Die postmoderne Kritik an der Idee der Gesamtheit und Einheit setzt sich auf die Ebene des Territorialen fort. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die traditionelle Idee des Gesellschaftlichen weitgehend auf der Vorstellung beruht, eine Gesellschaft sei eine mehr oder weniger einheitliche Totalität, eine „Einzigkeit”, ein räumlicher wie imaginärer Zusammenhang des Kollektivs. Dieser Einheitsgedanke manifestiert sich phänomenologisch z.B. in der Konzeption des Nationalstaats, der auf Grundlage der Idee ethnischer Kohärenz entstand. Er kann als raumpolitischer Versuch gesehen werden, mit imaginär-institutionellen Mitteln fiktive Totalitäten und territoriale Abgeschlossenheiten für möglichst homogene Bevölkerungen zu bauen. Was bislang unter Gesellschaft verstanden wurde, war oft nichts anderes als der Inhalt eines territorial abgegrenzten, symbolgestützten und meistens einsprachigen Behälters — ein Kollektiv, das in einer gewissen nationalen Hermetik seine Selbstgewissheit fand. Lyotard beschreibt dies so:

71Jean Baudrillard, Das Andere selbst. Habilitation, Wien 1987 (frz. 1987), S. 47f.

„[...] man kann davon ausgehen, daß [...] mit dem Namen Nation eine Art Totalität, wenn nicht hervorgebracht, so doch wenigstens durchgesetzt wurde, die die verschiedenen Volksgruppen unter einer ökonomischen und politischen, manchmal auch religiösen und kulturellen Einheit zusammenfaßte.”72

Benedict Anderson hat die Nation eine „Erfindung” genannt73 und die nationalen Gemeinschaften als „vorgestellt” bezeichnet; vorgestellt deswegen, weil es trotz des oft starken Kollektivgefühls letztlich illusionär sei, all die anderen diesem Kollektiv Zugehörigen wirklich zu kennen. Daher bleibe auch die Gleichheit mit ihnen immer hypothetisch. Doch im Idealfall wohnt der Mensch dort in einem Ganzen, in dem Sein des Einzelnen und Sein des Ganzen sich entsprechen. Die Gemeinschaften, die sich solcherart am Schnittpunkt von Selbst und Ort aufhalten, sind wegen dieser Eigenschaften auf ein spürbares Gefälle zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremdem angelegt.

Dieses Innen-Außen-Gefälle zeigt sich u.a. auch in den Mechanismen, welche die Gesellschaften zur Bewältigung ihrer internen Probleme ausgebildet haben. Probleme, die innerhalb dieser gesellschaftlichen Totalität auftreten, müssen auf das Ganze rückbezogen werden. Sie tragen damit, wie bereits im Zusammenhang mit der Kritik beschrieben wurde, entweder zur Erhaltung und Entwicklung der Gesellschaft bei; andernfalls sind sie dysfunktional, das heißt, sie beeinträchtigen die Integration und damit die Wirksamkeit des

„Systems”. Insofern richtete sich geschichtlich der kollektive Hass besonders in Krisen- und Ausnahmesituationen gegen jene, deren tatsächliches oder vermeintliches Außenseitertum die gesellschaftliche Ordnung bzw. Einheit in Frage stellte: Juden, Fremde, Kranke, Behinderte, Homosexuelle — diese Gruppen wurden von der kulturellen Ordnung ausgeschieden und auch räumlich ausgegrenzt. Die in Krisenzeiten gestörte soziale Balance konnte v.a. durch zwei Mechanismen der Selbstreinigung wiederhergestellt werden: durch räumliche Ausweisung bzw. Verbannung des vermeintlich Inkommensurablen (diese ist z.B. nach Angola oder Australien erfolgt) oder, wie René Girard dargestellt hat, durch seine Opferung. Girard sieht in den Opferungen, die bis auf die Anfänge menschlicher Gemeinschaften zurückgehen und Bestandteil ihrer Ursprungsmythen sind, religiöse Phänomene, weil sie „mit der Erinnerung, dem Gedenken und dem Fortbestehen der Einmütigkeit verbunden sind. Diese wurzelt letzten Endes immer im Mord am versöhnenden Opfer”74. Der Sinn der Opferung ist darin zu sehen, dass das Opfer die Gemeinschaft vor „ihrer” Gewalt schützt und diese nach außen lenkt. Das Opfer „stellt die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft her, es verstärkt den sozialen

72Jean-François Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, Berlin 1977, S. 36

73Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 15

74René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987, S. 467

Zusammenhalt”75. Die Gemeinschaft konstituiert sich durch die Ableitung der Gewalt nach Außen, und die Ausstoßung des Opfers, ob als Opferung oder als Verbannung, rettet die Gemeinde.76

Die postmoderne Pluralisierung lässt auch das räumliche Verständnis nicht unangetastet.

Ethnische Diversifikation und multikulturelle Politik fordern die Idee der politischen Meta-Erzählungen von nationaler Kohärenz und nationaler Einheit heraus. Lyotard nimmt an, dass die Dekadenz der Wahrheit zu einer Zersplitterung der einheitlichen gesellschaftlichen Totalität und zur Entstehung eines nicht-homogenen Raumbegriffs führe — somit eine Dekadenz der territorialen Einheit vorwegnehme —, weil es in einer pluralistischen Welt nicht mehr möglich sei, ein Konsensmodell auf territorialer Basis aufrecht zu erhalten:

„Wir leben im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts und es sieht so aus, als ob eine scheinbar gegenläufige Bewegung in Gang gekommen ist. Eine Bewegung der Dekadenz der nationalen Einheit, in deren Verlauf Vielheiten freigesetzt werden, die von Grund auf von denjenigen verschieden sind, die vor der Errichtung nationaler Einheiten bestanden. [...] Man stellt den Zentralismus in Frage und in eins damit seinen soziopolitischen und ökonomischen Raum, dessen Eigenschaften die der euklidischen Geometrie sind: Isomorphie aller Regionen, Neutralität aller Richtungen, Kommutativität aller Figuren entsprechend den Transformationsgesetzen. [...] Was sich abzeichnet, ist eine (noch zu definierende) Gruppe von heterogenen Räumen, ein großes patchwork aus lauter minoritären Singularitäten; der Spiegel, in dem sie ihre nationale Einheit erkennen sollten, zerbricht.”77

Der von Lyotard beschriebene „heterogene” Raum kann nicht mehr mit dem Begriff der Einheit erfasst werden, sondern mit den Begriffen der Pluralisierung, Partikularisierung, Segregation und Separation. Dies sieht auch Virilio bei der Betrachtung der Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa:

„Die Forderung nach Unabhängigkeit einer Region oder einer Insel im Innern einer Nation (Bretagne, Flandern, Baskenland, Irland usw.) und auf höherer Stufe der Wunsch nach Emanzipation [...], all das ist letztlich ein und dieselbe Äußerung — nicht ein Rückfall in Stammes-, Regional- oder Nationalarchaismen, nicht eine Ablehnung breiterer Gemeinschaften, sondern die absolute Kritik einer Gesamtheit, einer Totalität.”78

Der postmoderne philosophische Diskurs impliziert, dass der Einheitsgedanke auch auf räumlicher Ebene seine Wirkung verliert. Dadurch entstehen territoriale Neuordnungsprozesse,

75Ibid. S. 19 76Ibid. S. 465

77Jean-François Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, Berlin 1977, S. 36ff.

78Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., Berlin 1978, S. 69

in deren Verlauf es zu völlig neuen Raumentwürfen und Raumvorstellungen kommt.79 Die dabei entstehenden Vielheiten sind verschieden von jenen, die vor Errichtung der nationalen Einheiten bestanden, es handelt sich nicht um einen bloßen Rückfall in vormoderne Zustände.

Der postmoderne Pluralismus tastet durch seine konsenskritische Option die Existenz jeder dauerhaften Einheit überhaupt an, sei sie territorial oder sozial. Lyotards Position ist hier die gemäßigtere; er lässt Einheit und Konsens als vorübergehendes, reversibles Phänomen noch zu, welches nur von den gegenwärtigen Beteiligten erreicht werde und Gegenstand eventueller Auflösung sei. Baudrillards und Virilios Positionen sind extremer, sie gehen von einer völligen Partikularisierung beziehungsweise Atomisierung der Gemeinschaften und der Territorien aus, und führen damit die postmodernen Imperative der Pluralisierung an ihr Ende.80

Die sich daraus ergebenden proteischen Gemeinschafts- und Raumentwürfe besitzen keine festen Grenzen mehr, sie sind weder geordnet noch dauerhaft definierbar. Obwohl Lyotard dies, im Gegensatz zu Baudrillard und Virilio, nie bis zum Ende ausführt und bei der Beschreibung der reinen (räumlichen) Separation in kleinere Einheiten stehen bleibt, ließen sich aus dem Vorgang der postmodernen Dekadenz eher „verdrehte” Räume und proteische kartographische Hologramme ableiten, anstelle der herkömmlichen Vorstellung von einer Geographie mit einer bestimmten Anzahl von klar unterscheidbaren Ländern, von denen jedes mit einer besonderen Farbe gekennzeichnet ist.

Die Konzeption eines amorphen postmodernen Raums tastet die Aufrechterhaltung der gruppenkonstituierenden Grundoppositionen von Innen und Außen bzw. Eigenem und Fremdem an. Einerseits arbeitet der postmoderne philosophische Diskurs an einer krisenhaften Überspitzung der Unterschiede und des Differenten, andererseits wird der von René Girard beschriebene Prozess der Ausstoßung des Inkommensurablen durch die fehlende Innen-Außen-Dialektik erschwert: ein in die Gefahr der Uneinigkeit geratenes Kollektiv kann nicht durch die Ausweisung des Fremden wiederhergestellt werden. Das Kollektiv kann sich nicht mehr durch ein „Opfer” vor seiner Gewalt schützen und diese Gewalt nach „außen” ablenken. Im Zusammenhang mit der Überspitzung der Unterschiede zeigt sich hier ein weiteres Mal, dass generell schwierige Bedingungen zwischen den Beteiligten zu erwarten sind.