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Der Fall Vera Zasulič – ein Mahnbeispiel für mangelnde Kollegialität

Im Dokument IMPERIAL SUBJECTS (Seite 52-132)

„Ich will nicht die Verantwortung für Ihre falschen Handlungen übernehmen!“ So zitiert Koni in seiner Erinnerungsschrift an den Fall Vera Zasulič, die er schon wenige Jahre nach dem Prozess begann und schließlich um 1904 in eine vorläu-fige Endversion brachte, den Justizminister Graf Pahlen.1 Zu diesem war er einige Tage nach dem Freispruch der Attentäterin einbestellt worden. Der Vorwurf der

„falschen Handlungen“ bildet den Auftakt für eine Verteidigungsansprache Ko-nis. In direkter Rede dargelegt, folgt der Leser beeindruckt dem angeschuldigten Gerichtsvorsitzenden, der aus dem Stegreif dem Minister in rhetorischer Ge-schliffenheit alle Vorwürfe zu widerlegen scheint. Punkt für Punkt arbeitet sich Koni vor und verteidigt sein Handeln seitenlang. Alle könnten seine den Prozess beschließende Rede nachlesen, es müsse eine Fehlinterpretation sein, wenn man diese als parteilich für Zasulič interpretiere. Er habe immer gesagt, dass dem Ver-teidiger ein fähiger Ankläger gegenübergestellt hätte werden sollen. Aleksandrov zu stoppen in seiner Auslegung der Gründe für Vera Zasuličs Tat, hätte ledig-lich eine kontraproduktive Reaktion der Geschworenen zur Folge gehabt. Diese wären misstrauisch geworden, dass man ihnen etwas vorenthalte. Dabei sei es doch so wichtig, dass die Gesellschaft an ihr Gericht glaube. Die Zeugen habe er genau nach gesetzlichen Vorschriften und der bisher üblichen juristischen Praxis zugelassen. Man könne ihn doch nicht dafür rügen, das Gesetz nicht verletzt zu haben. Schließlich sei Trepov selber schuld, wenn er nicht vor Gericht erscheine und kein Gegengewicht entstehe. Und ja, es sei beim Freispruch lärmig geworden im Gerichtssaal, aber hätte er etwa Ausschreitungen riskieren sollen, um die Ruhe in blutiger Form wiederherstellen zu lassen? Und über die Vorwürfe, „Nihilisten“

mit Eintrittskarten versorgt zu haben, darüber könne er nur die Schultern zucken.

Das Publikum habe aus Vertretern der mittleren gebildeten Schicht St. Peters-burgs bestanden.2

Auf diese umfassende Auflistung reagierte Pahlen – so schildert es Koni in seiner Erinnerungsschrift – mit Worten, die die einzig folgerichtigen zu sein

1 Anatolij F. Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 194. Wenn nicht anders angemerkt, wird jeweils aus der Version zitiert, die in der Gesamtausgabe abgedruckt ist und der im Wesentlichen die Überarbeitung von nach der Jahrhundertwende zugrunde liegt. Auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Manuskripten wird im Verlauf der Arbeit näher eingegangen.

2 Ebd., S. 194 – 201.

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Der Fall Vera Zasulič – ein Mahnbeispiel für mangelnde Kollegialität

scheinen: „Nun, Anatolij Fëdorovič, es kann sein, dass Sie sogar recht haben und ihre Verhaltensweisen juristisch richtig waren […].“ 3

Sein Handeln als juristisch korrekt zu belegen, ist Koni in seiner gesamten, in gedruckter Form um die 150 Seiten starken Erinnerungsschrift ein offensicht-liches Anliegen. Er rechtfertigt und erklärt sein Agieren im Prozess und ordnet es als streng vorschriftsgemäß ein: Er habe juristisch nur seine Pflicht getan und entgegen aller Vorwürfe keine Beeinflussung der Geschworenen in Richtung Frei-spruch vorgenommen. Inmitten der aufgeheizten Stimmung sei seine Prozess-führung so neutral und professionell wie möglich gewesen.

Über den Verweis auf die juristische Korrektheit suchte Koni in seiner Dar-legung einen Ausweg aus den politischen Druckversuchen und gesellschaftlichen Erwartungen, mit denen er nach dem aufsehenerregenden Gerichtsfall konfron-tiert worden war. Gleichzeitig versuchte er so, das Justizwesen aus der politischen Schusslinie zu nehmen, in die es mit dem Vorwurf der revolutionären Unter-wanderung geraten war.

Diese Bemühungen wurden aber – so erinnert sich Koni – von anderen Ju-risten torpediert. Wie ein Leitmotiv ziehen sich durch die „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ Episoden von mangelnder Solidarität seines Umfelds. Etwa ein Drittel der Schrift ist der Zeit nach dem Freispruch gewidmet und davon wiederum beschäftigt sich ein beträchtlicher Teil mit den Reaktionen, die Koni aus seinem Umfeld auf das Zasulič- Ereignis erhalten hatte. Den Anfang nimmt das Ganze im bereits erwähnten Gespräch mit Justizminister Graf Pahlen, als dieser seine Vorwürfe folgendermaßen bekräftigt: „Alle, alle sagen, dass Ihre Verhaltensweisen falsch waren […].“ „Was sind das schon für Leute?“ – zitiert Koni sich daraufhin selber – „Welche ernsthafte Bedeutung können die Meinungen von Leuten haben, die nichts von der Gerichtssache verstehen? Ihre Schreie betrüben mich überhaupt nicht; eine andere Sache sind Missbilligungen von ernsthaften Juristen, aber sol-che habe ich bis jetzt nicht gehört …“. Woraufhin Pahlen – von Koni weiterhin in Dialogform notiert – dem Petersburger Juristen deutlich macht, dass er sich irre, dass auch erfahrene Juristen dieser Meinung seien, darunter Semën Aleksandrovič Mordvinov. „Er?!“, ruft Koni aus.4 Der Verrat scheint total – denn dramaturgisch geschickt hat Koni wenige Seiten vorher einfließen lassen, dass der oberste Vor-sitzende der Petersburger Gerichtskammer und Senator Mordvinov (1825 – 1900) ihm persönlich versichert habe, man hätte den Prozess nicht anders führen kön-nen, als Koni dies getan habe.5 Diese dramatische Dolchstoß- Inszenierung bildet

3 Ebd., S. 202. In vollständiger Version heißt der Satz: „[…] aber das wird niemals verstan-den in verstan-den Sphären, in verstan-denen man Sie anschuldigt.“

4 Ebd., S. 194.

5 Ebd., S. 192.

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den Auftakt für eine lange Reihe von Vorfällen, in denen Koni die unzureichende Kollegialität seiner Berufsgenossen ins Zentrum stellt. Musterhaft erzählt sich dies an den Passagen zu Staatsanwalt Konstantin Ivanovič Kessel’ (1843 – 1918). Bereits im zweiten Teil der Erinnerungsschrift, die die Zeit vor Prozessbeginn beschreibt, berichtet Koni, wie Kessel’ den Auftrag zur Anklageführung im Zasulič- Fall er-halten habe und darüber völlig verstört gewesen sei. Koni führt aus, dass er Kessel’

schon aus ihrer gemeinsamen Zeit an den Gerichtsbehörden von Kasan Anfang der 1870er- Jahre gekannt und Sympathien für diesen gehabt habe. So habe er ihn in Kasan vor dem Unmut anderer Juristen geschützt und ihn mit Aufgaben betraut, die dieser trotz seiner mangelnden Begabung als Ankläger gut habe be-wältigen können.6 Gegen Schluss der Zasulič- Erinnerung kommt nun die Rede wieder auf Kessel’, und Koni berichtet in einem kurzen Exkurs:

Darüber, wie sich Kessel’ zu seiner Pflicht als Ankläger im Fall Zasulič verhielt, habe ich weiter oben schon gesprochen. Nun kam es so, dass er […] auch den Kassations-protest zum Fall aufsetzen musste. Darin hat er sich nicht geschämt zu sagen, indem er auf fiktive Verletzungen verwies […] dass die Verhaltensweisen des Vorsitzenden des Bezirksgerichts im Fall Zasulič sich deutlich zur Verdunklung der Wahrheit im Interesse eines Freispruchs von Zasulič neigten. Der Protest wurde zur Durchsicht ans Ministerium geschickt und wurde von da mit Billigung zurückgegeben und Kes-sel’ war offenbar außerordentlich erstaunt, dass ich aufhörte, ihm die Hand zu geben, ungeachtet seiner mehrfachen Versuche, sich bei Treffen mir gegenüber zu verhalten, als sei nichts vorgefallen.7

Nach einem Absatz fährt die Erinnerung kommentarlos fort mit Ausführungen zu den Reaktionen des Staatsrats auf den Freispruch. Zu Kessel’ scheint alles ge-sagt: Während sich Koni für den Berufskollegen eingesetzt hatte, hat dieser ihn im Fall Zasulič nicht unterstützt, was ihn auf lange Sicht disqualifiziert. Die Reaktion des Juristen auf den Zasulič- Freispruch dient Koni also als Lackmustest für sein Urteil über die entsprechende Person. Dass dies immer auch ein Urteil über deren Professionalität als Jurist war, zeigt ein weiteres Beispiel besonders deutlich: So habe der Justizminister Koni im persönlichen Gespräch gefragt, ob er denn we-nigstens die juristische Autorität von Andrej Aleksandrovič Saburov (1837 – 1916) akzeptieren würde. Saburov war einer der ersten Staatsanwälte am St. Petersburger Bezirksgericht gewesen und hatte auch in hoher Position im Justizministerium gearbeitet. Dieser Saburov, so legt es Koni Pahlen in den Mund, habe nun gesagt,

6 Ebd., S. 84.

7 Ebd., S. 214 – 15.

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er würde an Konis Stelle aufgrund des Zasulič- Urteils zurückzutreten. Daraufhin zitiert sich Koni selber: „Wenn er tatsächlich in diesem Sinne spricht – antwortete ich, während ich traurig ‚et tu quoque!‘ dachte – dann ist er für mich natürlich keine Autorität, sondern ein Mensch, der im Verwaltungsdienst die besten ge-richtlichen Traditionen vergessen hat.“ 8 Koni benutzt hier das sogenannte „du- auch“-Argument, mit dem eine Anklage mit dem Verweis auf das Verhalten des Anklägers zurückgewiesen wird. Unwillkürlich ruft das vorangestellte „et“ aber auch das „et tu, Brute!“ in Erinnerung, das Julius Caesar in Shakespeares gleich-namigem Drama ausruft, als der Kaiser im Moment des Verrates begreift, dass sogar sein Vertrauter Brutus in den Komplott involviert war.9 Saburov, der einst-mals geschätzte Pionier der reformierten Gerichte wird so in Konis Darstellung unmissverständlich zum Verräter der „besten gerichtlichen Traditionen“.

Der Zasulič- Fall bedeutete für Koni die bittere Erfahrung fehlender Rücken-deckung durch seine Berufskollegen. Die zahlreichen Episoden à la Kessel’ oder Saburov, die sich durch die „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ ziehen, ver-deutlichen, wie sehr ihn dieses Verhalten getroffen haben musste. Der festen Überzeugung, dass er selber den Fall juristisch einwandfrei geleitet hatte, unter-gruben die gegenteiligen Aussagen aus den eigenen Reihen den professionellen Anspruch der neuen Gerichte – und damit auch den Ruf von Koni persönlich – in gröbster Weise. Das nachfolgende Kapitel zeigt auf, wie Koni der Gefahr einer unsolidarischen und sich gegenseitig kritisierenden Juristenzunft mit einer Stra-tegie des öffentlichen Lobs entgegentrat. Mit dem exzessiven Verfassen biografi-scher Porträts seiner Kollegen arbeitete er an einer geschlossenen Berufsgruppe, die sich ihre Handlungsfähigkeit auch unter schwierigen Bedingungen erhalten sollte. Dabei knüpfte er an globalen Professionalisierungstaktiken ebenso an wie an innerrussische Diskussionen um die Rolle der Spezialisten und Experten für die Entwicklung des Landes. Gleichzeitig wurde Koni als Autor einer großen Zahl von biografischen Skizzen zwangsläufig selber mehr und mehr zur makellosen Richtinstanz über den Grad an Professionalität und Kollegialität der beschriebenen Juristen. In einer Wechselwirkung aus Selbst- und Fremddarstellung entwickelte er sich zum Modelljuristen.

8 Ebd., S. 204.

9 Vgl. Jonas Pfister: Werkzeuge des Philosophierens. Stuttgart 2013, S. 126 ff zum „Tu Quoque“-Argument als Teil des Kapitels zu „Fehlschlüssen“ und Amanda Mabillard:

The History and Context of „Et tu, Brute?“. In: Shakespeare Online, 20. 08. 2006, www.

shakespeare- online.com/ettubrute.html, Zugriff vom 02. 06. 2016.

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1.1 50 Jahre Gerichtsreform 1914: biografische Jubiläumsschriften und autobiografische Erfolgsgeschichten

für ein verunsichertes Rechtswesen

Im August 1888 antwortete Koni dem Literaturwissenschaftler Aleksej Nikolaevič Veselovskij (1843 – 1918) auf dessen Bitte um seine Mitarbeit für ein biografisches Lexikon:

Ich wiederhole – der allgemeine Verdienst der Schöpfer der Gerichtsstatuten ist sehr groß […], aber für sich genommen ist keiner von ihnen herausragend – ihnen gebührt ein Platz in der Geschichte der Reform, aber nicht in einzelnen biografi-schen Skizzen.10

Er fügte einige wenige Namen von Gerichtsreformern an, über die man vielleicht etwas Biografisches schreiben könne, schränkte auch dies aber sogleich ein, indem er auf den Mangel an Quellen verwies. Zwei weitere Juristen nannte er unter dem Vorbehalt, dass sie noch lebten und eine Biografie deshalb grundsätzlich wenig sinnvoll sei.11 Koni erteilte den Publikationsplänen von Veselovskij damit eine umfassende und unmissverständliche Abfuhr. Umso verblüffender ist es, dass er nur wenige Jahre später seine Meinung radikal änderte. Ab den 1890er- Jahren begann Koni mit zunehmender Regelmäßigkeit biografische Porträts von den Gerichtsreformern und den ihnen nachfolgenden Juristen zu verfassen. Ein En-gagement, das 1914 zum 50. Jubiläum der Reform qualitativ wie quantitativ seinen Höhepunkt erreichte. Einer der Gründe für diesen Sinneswandel lag darin, dass mit den Jahren immer mehr Reformer verstarben und sich Anlässe häuften, wo diesen Akteuren mit biografischen Würdigungen gedacht werden sollte. Doch als Erklärung für den regelrechten Boom an Skizzen führt dies nicht weit genug.

Omnipräsent als Schreibanlass im Hintergrund lassen sich die mannigfaltigen Probleme im reformierten Rechtswesen ausmachen. Diese nahmen mit der voran-schreitenden Etablierung der neuen Berufe und Strukturen nach 1864 keineswegs ab, sondern verschärften sich tendenziell in den letzten Jahrzehnten vor dem Ende des Zarenreiches.12 Nachdem die neuen Gerichte schon wenige Jahre nach ihrer

10 GA8, S. 106 (Brief an Aleksej N. Veselovskij vom 29. 04. 1888).

11 GA8, S. 105 – 07 (Brief an Aleksej N. Veselovskij vom 29. 04. 1888).

12 Wortman hält treffend fest: „Die neuen rechtlichen Institutionen und Berufe wurden na-türlich mit Problemen konfrontiert, die alle neu gegründeten Organe antreffen würden.

Probleme, die mit der Zeit vielleicht hätten überwunden werden können. Aber der Fakt, dass diese Probleme die gleichen blieben oder in den letzten Dekaden des Imperiums gar zunahmen, legt nahe, dass sie eher strukturelle Kontinuitäten anstatt

Wachstums-50 Jahre Gerichtsreform: (auto)biografische Jubiläumsschriften und Erfolgsgeschichten

50 Jahre Gerichtsreform: (auto)biografische Jubiläumsschriften und Erfolgsgeschichten 55

Einführung mit zahlreichen Einschränkungen zu kämpfen hatten, wurden in den 1890er- und 1900er- Jahren zwar diverse Projekte zur Weiterentwicklung der Justiz angedacht, beinahe nichts davon aber umgesetzt. Insbesondere die Gesetzbücher verharrten in inkonsistenter und lückenhafter Form. Während die Gerichte sich bemühten, Anpassungen im geltenden Recht vorzunehmen, gelangen maßgeb-liche gesetzgeberische Maßnahmen aufgrund ideologischer Differenzen und Ri-valitäten innerhalb und außerhalb der staatlichen Bürokratie und des politischen Systems nur in sehr bescheidenem Maße.13 Ein neues Strafgesetzbuch, an dem jahrelang gearbeitet worden war, wurde nach der Jahrhundertwende lediglich zu einem kleinen Teil in Kraft gesetzt.14 Dieser Reformstau führte zum Nebeneinan-der von verschiedenen Rechtskonzepten und war symptomatisch für die völlig disparate und oftmals miteinander inkompatible Ausgestaltung der Institutionen des späten Zarenreiches.15 Die in der Revolution von 1905 erkämpfte Einführung eines Parlaments wurde zudem begleitet vom tiefen Misstrauen des letzten Za-ren Nikolaus II., der seine Beziehung zur Bevölkerung nach wie vor einzig in der Kategorie von „Beherrschung und dankbarem Gehorchen“ zu begreifen schien.

Unmissverständlich brachte sein Justizminister dies 1914 auf den Punkt, als er im Parlament erklärte, dass in Russland Gesetzlichkeit die „freie Manifestation des höchsten Willens der russischen Autokraten“ bedeute.16 Diese Haltung aus Regierungskreisen wurde von der politischen Opposition in einer Weise gekon-tert, die für das Justizwesen ebenfalls nicht unproblematisch war. Einige Anwälte nutzten die Gerichte gerade im Vorfeld und nach der Revolution von 1905 immer ausschließlicher als Arena des politischen Kampfes. Es wurde – beispielsweise mit Streiks – in einer Art und Weise verteidigt, die mit klassischer Rechtsprechung nur noch am Rande etwas zu tun hatte.17 Ein Stück weit spiegelte sich in dieser Nutzung des Rechts für die eigenen politischen Zwecke die Einstellung der

Auto-schmerzen waren.“ Richard Wortman: Russian Monarchy and the Rule of Law: New Considerations of the Court Reform of 1864. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 1 (2005), S. 162.

13 Vgl. William G. Wagner: Marriage, Property, and Law in Late Imperial Russia. Oxford u. a. 1994, S. 56 und 378 – 82 mit Fokus auf das Zivilrecht.

14 Lothar Schultz: Russische Rechtsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart einschliesslich des Rechts der Sowjetunion. Lahr 1951, S. 255.

15 Wortman: Russian Monarchy and the Rule of Law, S. 162.

16 Ebd., S. 152 und 156.

17 Jörg Baberowski: Rechtsanwälte in Russland, 1866 – 1914. In: Charles E. MacClelland/

Stephan Merl/Hannes Siegrist (Hrsg.): Professionen im modernen Osteuropa. Berlin 1995, S. 49 – 50. Vgl. dazu ausführlicher unten, Kapitel Polarisierung in Justiz und Politik um 1905.

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kratie zur Justiz.18 Waren die Anwälte aber nicht politische Aktivisten, wurden sie dafür oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, sich an ihrem Beruf übermäßig zu bereichern und kein Interesse an moralischen Grundwerten mitzubringen.19

In bezeichnender Diskrepanz zu diesem tristen Bild intensivierte sich im letz-ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Konis lobgefüllte Porträtpraxis. Hatte er noch vor Kurzem behauptet, dass die einzelnen Gerichtsreformer und ihre Nachfol-ger nichts „Herausragendes“ geleistet hätten, klang es nun ganz anders. Als 1889 Aleksandr Dmitrievič Gradovskij (geb. 1841) starb, der zwei Jahrzehnte an der St. Petersburger Universität gelehrt und wesentlich zur Entwicklung des rus-sischen Staatsrechts beigetragen hatte, hielt Koni vor einer Versammlung von Juristen – der „St. Petersburger Juristischen Gesellschaft“ – eine Rede, in der er die Leistung des Pioniers würdigte. Wenig später, an der Jahresversammlung der Gesellschaft Anfang 1892, trat Koni mit einem Vortrag auf, der im Titel durch die Abwandlung der Redewendung vom „alten Wein in neuen Schläuchen“ die Reformzeit und ihre Akteure als in allen Belangen neuartig charakterisiert und zum Thema macht: „Neue Schläuche und neuer Wein“ [Novye mecha i novoe vino]. In dieser Ansprache holte Koni zuerst lange aus, um die Entwicklung der neuen „Schläuche“ des reformierten Gerichts zu rekapitulieren. Ausgehend von der Situation in Frankreich berichtete er, wie sich in Russland das Justizministe-rium abmühen musste, um anständige Gebäude für das neue Gerichtswesen zu erhalten und so die Reform auch äußerlich umzusetzen.20 Den zweiten Teil des Vortrags widmete er dann ganz und gar dem neuen „Wein“, der diese Schläuche füllte. Er blickte auf die vergangenen gut 25 Jahre zurück und berichtete von den Anfangszeiten der Gerichtsreform und ihren besten Exponenten. In raschem Durchgang sprach er über die Bildung erster Kreise von Juristen, die ersten großen Prozessen und die ersten Vorsitzenden der Bezirksgerichte in den Hauptstädten.

Auch die Advokatur lobte er in den höchsten Tönen. Und die Geschworenen hätten sich – trotz mancher schwer verständlicher Entscheidungen – als würdig des Vertrauens erwiesen, das die neue Gerichtsordnung in sie gesetzt habe.21 Gut zwei Jahre später trat Koni erneut mit einer Rede vor der Juristischen Gesellschaft

18 Brian L. Levin- Stankevich: The Transfer of Legal Technology and Culture: Law Pro-fessionals in Tsarist Russia. In: Harley D. Balzer (Hrsg.): Russia’s Missing Middle Class.

The Professions in Russian History. Armonk New York u. a. 1996, S. 241.

19 Guido Hausmann: Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865 – 1917. Stuttgart, Köln 1998, S. 364.

20 Anatolij F. Koni: Novye mecha i novoe vino. Iz istorii pervych dnej sudebnoj reformy. In:

ders. (Hrsg.): Za poslednie gody. Sudebnye reči (1888 – 1896), Vospominanija i soobščenija, Juridičeskie zametki. Sankt- Peterburg 1896, S. 461 – 75.

21 Ebd., S. 475 – 92, zu den Geschworenengerichten S. 490 – 91.

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von St. Petersburg auf und sprach nun explizit an, was ihn antrieb: „Es kann sein, dass die vielköpfige Versammlung von mir eine seriöse wissenschaftliche Arbeit erwartet, die streng juristischen Charakter hat […].“ Aber – so führt er weiter aus – er könne nicht über Themen wie den Strafprozess in Italien und Deutschland reden, ohne auch den Puls in Russland zu fühlen. Und dann sei da eine zweite, rein persönliche Befangenheit. Er habe die letzten eineinhalb Jahre wegen Dienst und Krankheit nicht aktiv an der Tätigkeit der Gesellschaft teilnehmen können.

Und jetzt, wo er wieder hier spreche, suche er nach vertrauten Gesichtern, die in der Zwischenzeit verstorben seien:

Die Erinnerung an sie muss Platz in den Sitzungen einer wissenschaftlichen Versamm-lung haben […]. Ich denke, dass der Herr Vorsitzende nichts dagegen hat, mir zu er-lauben, in kurzen Worten an die seit dem Frühling 1893 verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft zu erinnern.22

Es folgen zehn Seiten Ehrung für die verschiedenen Juristen, bevor Koni sich schließlich doch noch dem Strafprozess im Ausland zuwendet.

Koni nutzte die Auftritte vor versammelter Juristenschaft also immer deut-licher, um in einer positiven Form an die Zeit der Reform und ihre wichtigsten Aktivisten zu erinnern. Die meisten dieser Reden wurden wenig später veröffent-licht und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. So erschien der Vortrag zum italienischen und deutschen Strafprozess nur einen Monat nach der

Koni nutzte die Auftritte vor versammelter Juristenschaft also immer deut-licher, um in einer positiven Form an die Zeit der Reform und ihre wichtigsten Aktivisten zu erinnern. Die meisten dieser Reden wurden wenig später veröffent-licht und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. So erschien der Vortrag zum italienischen und deutschen Strafprozess nur einen Monat nach der

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