• Keine Ergebnisse gefunden

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück

Im Dokument IMPERIAL SUBJECTS (Seite 134-200)

Bogoljubov steht am Anfang von Konis umfangreicher Erinnerungsschrift zum

„Fall Vera Zasulič“. Dem jungen Narodnik, den Zasulič mit ihrer Attacke auf den Petersburger Stadthauptmann rächen wollte, widmete er die ersten sechs Seiten des Textes. Darin beschreibt er, wie im Dezember 1876 am helllichten Tag revo-lutionäre Aktivisten im Zentrum von St. Petersburg vor der Kasaner Kathedrale demonstrierten und allesamt verhaftet und zu langen Jahren der Zwangsarbeit verurteilt worden seien – unter ihnen auch besagter Bogoljubov.1

Nicht nur die Ausführlichkeit des Berichts und die prominente Position gleich zu Beginn des Textes machen deutlich, welch zentrale Bedeutung Koni der Ver-haftung und Verurteilung dieses Mannes zuwies. Auch im weiteren Verlauf der Schrift kommt er immer wieder auf die Art und Weise zu sprechen, wie der Staat mit Oppositionellen wie Bogoljubov umgegangen sei. So ist der ganze erste Teil der „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ den Jahren vor Zasuličs Schuss auf den Stadthauptmann gewidmet. Neben der Demonstration vor der Kathed-rale, der Verhaftung von Bogoljubov und der gegen ihn verhängten Körperstrafe sind auch die großen Gerichtsprozesse der 1870er- Jahre gegen Heerscharen an-geblicher Revolutionäre Thema.2 Koni stellt dabei einen ausführlich dargelegten Kausalzusammenhang zwischen dem repressiven Vorgehen der Behörden und den Taten von Vera Zasulič und ihresgleichen her. Gleichzeitig zeigt er auf, wie er versuchte, seinen Vorgesetzten von diesen Einsichten und den Konsequenzen daraus zu berichten.

Er verweist mit Nachdruck darauf, wie er bereits im Frühling 1877 in einem Gespräch mit Justizminister Graf Pahlen die gefährlichen Folgen der harten Hal-tung des Staates gegenüber jungen Oppositionellen angesprochen habe.3 Graf

1 Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 26 – 31. Koni nennt den Namen Bo-goljubovs erst am Schluss dieser Einführungsepisode. Beim Namen Bogoljubov handelt es sich um ein Pseudonym, vgl. Rindlisbacher: Leben für die Sache, S. 135.

2 Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 26 – 62.

3 Seit Mitte 1875 arbeitete Koni als Vizedirektor im Justizdepartement, bevor er Ende 1877 zum Vorsitzenden des St. Petersburger Bezirksgerichtes ernannt wurde, wo er sich dann in der Folge um den Zasulič- Fall kümmern musste, vgl. die Einleitung und Smoljarčuk:

Anatolij Fëdorovič Koni (1844 – 1927), S. 73 und 81 – 82.

Der Grund für diese Besprechung lag darin, dass der Zar beunruhigt von den andauernden Agitationsaktivitäten radikaler Gruppierungen in Russland eine außerordentliche Versamm-lung verschiedener Ministerien ins Leben gerufen hatte, die Vorschläge für erweiterte Maß-nahmen gegen dieses Phänomen entwickeln sollte. In Vorbereitung auf diese Zusammenkunft berief der Justizminister einige Berater zu sich, die ihre Meinungen einbringen sollten. Die

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück

Pahlen aber galt als Verfechter drastischer Maßnahmen. Er war der festen Über-zeugung, dass die harte gerichtliche Bestrafung von Gedankengut, das sich gegen die Selbstherrschaft richtete, die Revolutionäre stigmatisieren und ihre Appelle neutralisieren würde.4 Bereits 1872 hatte man eine spezielle Instanz für politische Aktionen eingeführt, das sogenannte „Außerordentliche Kollegium des Regie-renden Senates“.5 Als in den darauffolgenden Jahren junge Menschen den „Gang ins Volk“ unternahmen, kam es zu Gerichtsprozessen gegen Hunderte von Radi-kalen. Vergeblich hatten sie versucht, die breite Bevölkerung mit dem Verteilen von Broschüren und in direkten Gesprächen davon zu überzeugen, dass die Zu-kunft Russlands nicht in der autoritären Herrschaft durch den Monarchen liege.6 In den Massenprozessen sollte der Öffentlichkeit gezeigt werden, dass die Ideen der Narodniki vom Aufbrechen der Familie, der Neuverteilung von Eigentum oder der freien Liebe negative Konsequenzen für ganz Russland haben würden.7

In den „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ zitiert Koni seine eigene, dem Justizminister vorgetragene Analyse zu dieser Thematik:

Als ich an der Reihe war, verwies ich darauf, dass die revolutionäre Partei die Taktik geändert hat […], neue Kräfte unter der Jugend anwirbt und sie „ins Volk“ schickt, indem sie in ihnen das edle Mitgefühl mit der Armut des Volkes und den Wunsch ihm zu helfen weckt.8

Was könne man also gerade in den Schulen tun, um die Jugend davon abzubrin-gen, dem „falschen und gefährlichen Weg der Doktrin des ‚Ganges ins Volk‘“ zu

erste Sitzung der Sonderkonferenz [Osoboe Soveščanie] fand schließlich im Frühjahr 1877 statt, gefolgt von Treffen in losen Abständen bei außerordentlichen Geschehnissen. Petr A.

Zajončkovskij: Krizis samoderžavija na rubeže 1870 – 1880 godov. Moskva 1964, S. 59 ff.

Zitiert nach: GA2, S. 445 (Anmerkungen).

4 Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness, S. 278 – 79.

5 Troickij: Advokatura v Rossii i političeskie processy 1866 – 1904 gg., S. 164, „Osoboe prisutstvie Pravitel’stvujuščego senata“, kurz OPPS.

6 Vgl. die Einleitung und Haumann: Geschichte Russlands, S. 273 – 74.

7 Ana Siljak: Angel of Vengeance. The Girl Assassin, the Governor of St. Petersburg and Russia’s Revolutionary World. New York 2008, S. 196 – 97. Allein in den Jahren 1877/78 kam es zum Prozess gegen die Demonstranten vor der Kasaner Kathedrale in St. Petersburg, unter denen sich auch Bogoljubov befand sowie zum sogenannten „Prozess der 50“ und dem „Prozess der 193“, die nach der Anzahl Angeklagter benannt wurden. Beim „Prozess der 193“ saßen von den Tausenden verhafteten Aktivisten des „Ganges ins Volk“ von 1874 die knapp 200 als am gefährlichsten eingeschätzten Personen auf der Anklagebank. Vgl.

für die Prozesse Troickij: Advokatura v Rossii i političeskie processy 1866 – 1904 gg., S. 246 ff, 250 ff und 256 ff.

8 Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 39.

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück 134

folgen? – fragt Koni in seiner Erinnerungsschrift rhetorisch. Darauf gibt er sofort Antwort. An den Lehrplänen der Gymnasien gelte es anzusetzen. Die Naturwis-senschaften – die man sträflicherweise aus der Schule verbannt habe – könnten der Jugend beibringen, dass sich das Staatsleben „organisch“ zu entwickeln habe und „Sprünge“ weder der „physischen“ noch der „politischen Natur“ des Landes bekömmlich seien. Gleichzeitig – so empfiehlt Koni weiter – solle man auf die

„gesetzgeberische Tätigkeit des Staates“ setzen, die einen „legalen und ruhigen Ausweg“ biete, um die Bedürfnisse des Landes und seiner Bewohner zu befrie-digen.9 Seinen Vorschlägen lässt Koni deutliche Kritik an der vorherrschenden Situation im Russischen Reich folgen. Er spricht von den Problemen, mit denen die Landbevölkerung tatsächlich konfrontiert sei, wenn sie auf ihren kleinen Bo-denparzellen kein Auskommen mehr finden könne. Er spricht die zu langsame

„Maschine“ der Gesetzgebung an, die in ihrer Schwerfälligkeit die Jungen weg von den „Worten“ und hin zur „Tat“ treibe. Schließlich fasst er seine Kernbot-schaft nochmals zusammen: die Überarbeitung des Bildungssystems und die Beschleunigung der Gesetzgebung seien unabdingbar. Was aber die Menschen anbelange, die bereits wegen aufrührerischer „Propaganda“ festgenommen und angeklagt worden seien, so sei ihnen gegenüber „große Milde“ angebracht.10 Koni endet mit den Worten: „Das heutige System der häufig nicht durchdachten und brutalen Verfolgung rottet das Böse nicht nur nicht aus, sondern treibt auch noch die Verbitterung und Verzweiflung der Verfolgten bis an ihre Grenzen.“ 11

Auf diese Erläuterungen habe der Justizminister, wie Koni weiter berichtet, mit grundsätzlicher Zustimmung reagiert. Allerdings habe er auch angemerkt, dass man dazu das Gesetzbuch anpassen müsse, was momentan nicht angebracht sei.

Auf Konis Einwand, dass geringere Strafen auch „im Laufe der zarischen Barm-herzigkeit“ erreicht werden könnten, habe der Minister nur noch ein abwinkendes

„nicht sofort“ in die Runde geworfen. Die Sitzung sei danach mit einem gemein-samen „kalten Abendmahl“ beendet worden.12 Passend dazu scheinen auch Konis Vorschläge kaltgestellt worden zu sein. Er berichtet nämlich, wie er Pahlen ohne Erfolg darum gebeten habe, wenigstens die Resultate der internen Besprechung in einem kratkij žurnal schriftlich festzuhalten.13

9 Ebd., S. 39 – 40.

10 Ebd., S. 40 – 41.

11 Ebd., S. 42.

12 Ebd., S. 42 – 43.

13 Ebd., S. 44. Die Strategie der groß angelegten gerichtlichen Verurteilung Andersdenken-der sollte grandios scheitern. Die Anklage hatte in Andersdenken-der Regel kaum etwas gegen die Be-schuldigten vorzuweisen. Diese entsprachen mit ihrem Auftreten auch vielmehr naiven Jugendlichen als den erwarteten, Angst und Schrecken verbreitenden Fanatikern. Als

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück 135

Konis Analyse der gesellschaftlichen Spannungen und seine Kritik an der re-pressiven Vorgehensweise gegen die kritischen Stimmen im Land wurde von ihm im nachfolgenden Teil der Erinnerungsschrift ausgebaut und weiter konkretisiert.

In diesem zweiten Abschnitt stehen die Attacke von Vera Zasulič auf den Stadt-hauptmann und die Vorbereitungen rund um den Prozess gegen sie im Zentrum.14 Erneut führt Koni in Dialogform ein Gespräch zwischen sich und dem Justizmi-nister an. Er erinnert sich daran, wie er Pahlen zu verstehen gegeben habe, dass er als Gerichtsvorsitzender in einem Geschworenenprozess den Schuldspruch gegen die Attentäterin nicht garantieren könne, auch wenn der Justizminister dies gerne gehabt hätte.15 Dieser Episode folgen auf fast sechs Seiten Überlegungen Konis zu den Gründen, warum es durchaus möglich sei, dass Vera Zasulič trotz ihres unbestrittenen Angriffs auf Trepov freigesprochen werden könnte. Koni verfasste den Erinnerungstext, als der Ausgang des Prozesses bereits bekannt war, trotzdem bemühte er sich stets, seine Erzählung zum Fall chronologisch aufzubauen. Er zeichnet deshalb das Bild des Gerichtsvorsitzenden A. F. Koni, der sich kurz vor Prozessbeginn besorgt über die angespannte Atmosphäre in St. Petersburg gab. So argumentiert er mit dem Stadthauptmann und meint, dass in jedem anderen Land dessen brutales Vorgehen gegenüber Gefangenen Konsequenzen gehabt hätte. Er berichtet von der Stimmung in der Gesellschaft St. Petersburgs, die Anfang 1878 vom schwierigen Verlauf des Kriegs auf dem Balkan bestimmt werde. Vertrauens-verlust in die russische Armee, Kritik an der Regierung und Trauer um die Opfer würden zu einer unruhigen Gefühlslage in der Hauptstadt beitragen, die auch auf die Geschworenen am Prozess nicht ohne Einfluss bleiben dürfte.16 Im Anschluss an diese außenpolitischen Schwierigkeiten zählt Koni innenpolitische Missstände auf. Wirtschaftliche Probleme und mangelnde Freiheiten, wohin man blicke. We-der von ökonomischem Wohlstand noch von „Glaubenstoleranz“ [veroterpimost’]

oder Selbstverwaltung könne auch nur die Rede sein. Schließlich kommt er wie-der auf das „klassische Bildungssystem“ zu sprechen, das keinerlei „lebendiges Wissen über die Heimat, die Sprache und die Natur“ beinhalte.17 Diesen Reigen Mittel der Propaganda waren die Prozesse untauglich, weil ihre Dynamik zu wenig kont-rolliert werden konnte. Tatsächlich kam es zu zahlreichen Freisprüchen und viel milderen Urteilen, als von den politischen Instanzen kalkuliert. Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness, S. 279 und Siljak: Angel of Vengeance, S. 198 – 99 ff.

14 Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 62 – 90.

15 Ebd., S. 72 – 74.

16 Ebd., S. 74 – 76. Vgl. zum Russisch- Osmanischen Krieg als zeitgeschichtlichem Hinter-grund zum Zasulič- Prozess auch Richard Pipes: The Trial of Vera Z. In: Russian History 37 (2010), S. 53. Etwas lapidar meint Pipes: „The Russian people will forgive their leaders any cruelties but never defeat on the battlefield.“

17 Koni: Vospominanija o dele Very Zasulič. In: GA2, S. 77 – 78.

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück 136

an Missständen beendet Koni mit dem Verweis auf die kontraproduktive Wir-kung der großen Gerichtsprozesse gegen die Narodniki. Zwar habe man von den fast tausend Angeklagten nur einen verschwindend kleinen Teil verurteilt. Aber die Freigelassenen seien in St. Petersburg geblieben und hätten von ihren Erleb-nissen im Gefängnis berichtet. Gerüchte von Selbstmord und Wahnsinn hätten die Runde gemacht. Die Bevölkerung habe den offiziellen Beteuerungen nicht geglaubt, dass diese Leute alle „ehrlos, eigennützig“ und „lasterhaft“ seien. „Alles kam zusammen, zerrte von verschiedenen Seiten an den Nerven, und die Mittel-schicht St. Petersburgs, aus der die zukünftigen Richter im Fall Zasulič kommen sollten, war angespannt, zerrüttet und ungesund empfindsam.“ 18

In Konis Interpretation der Geschehnisse steht Bogoljubovs Verhaftung – stell-vertretend für den harschen Umgang mit politisch Andersdenkenden – am Anfang einer Ereigniskette, an deren Ende eine aufgewühlte hauptstädtische Gesellschaft und eine freigesprochene Attentäterin zu finden sind. Der Angriff auf Trepov wurde von Koni in seiner Erinnerungsschrift als „Lehrstück“ für die verheerenden Folgen repressiver Politik beschrieben. Ob er dieses Lehrstück möglicherweise so-gar selber bewusst in seinen Implikationen verschärfte, indem er am Prozess dem brutalen Verhalten Trepovs viel Platz ließ, so die Hintergründe von Zasuličs Tat ins Bewusstsein der Geschworenen rückte und damit dem Freispruch Vorschub leistete, sei dahingestellt.19 Sicher ist, dass Koni den Fall in seiner Erinnerungs-schrift ausdrücklich in den gesellschaftlichen und politischen Kontext einordnete,

18 Ebd., S. 78 – 80.

19 Borisova argumentiert, dass Koni die Umstände während des Prozesses bewusst ins Zen-trum gerückt und so das brutale Vorgehen Trepovs, das den Anlass für Zasuličs Tat ge-wesen war, öffentlich verurteilt habe. Sie führt dies auf Konis Überzeugung von einem erweiterten Recht auf Selbstverteidigung zurück, zu dem dieser 1865/66 seine Dissertation verfasst hatte, Tat’jana J. Borisova: „Neobchodimaja oborona obščestva“. Jazyk suda nad Zasulič. In: Novoe literaturnoe obozrenie 5 (2015), S. 103 ff. Vgl. zu Konis wissenschaft-lichen Arbeit zum Abschluss seiner Universitätszeit „Über das Recht auf notwendige Verteidigung“ [O prave neobchodimoj oborony] ebd., S. 104 ff. Koni untersuchte darin erstmals für Russland die Frage nach der gewaltsamen Verteidigung von Rechten im Fall von Bedrohung derselben unter anderem auch durch Staatsbeamte. Vgl. Smoljarčuk:

Anatolij Fëdorovič Koni (1844 – 1927), S. 29 ff zu den Umständen und S. 33 ff zum Inhalt der Arbeit. Für Konis eigene Erinnerungen an das Werk und die Folgen, die es für ihn hatte, vgl. unten, S. 326. In der Regel wird Konis den Prozess gegen Zasulič abschließende Erklärung als ausgewogen und einem extremen Urteil der Geschworenen – also sowohl Freispruch als auch harten Schuldspruch – entgegenwirkend interpretiert, vgl. in diesem Sinne z. B. Siljak: Angel of Vengeance, S. 243 – 45 oder Regula Spalinger- Bichsel: A.

F. Koni und die russische Gerichtsrhetorik. Zürich 1993 (unveröffentlichte Dissertation), S. 72 ff. Spalinger- Bichsel verweist darauf, wie Koni den Geschworenen Optionen für einen Schuldspruch mit mildernden Umständen erklärte.

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück 137

und so nicht zuletzt seine eigene Fähigkeit betonte, die größeren soziopolitischen Zusammenhänge zu erkennen und alternative Ideen zu entfalten.

Sein Fokus auf Ursache und Wirkung, sein Plädoyer für ein Bildungssystem, das einen realistischeren Zugang zum Russischen Reich und seiner Gesellschaft vermitteln sollte, seine Forderung nach mehr Selbstbestimmung und persönlichen Freiheiten, nach dem entschiedenen, aber nie von „Sprüngen“ gekennzeichneten Angehen von Problemen mit den Mitteln der Gesetzgebung, und insbesondere seine Aufforderung zur Milde gegenüber Oppositionellen, all dies zeigt deutlich Konis gesellschaftspolitische Positionen auf. Im nachfolgenden ersten Kapitel werden diese zu gängigen liberalen Ansichten in Beziehung gesetzt. Der Schwer-punkt liegt dabei nicht nur auf dem Inhalt der politischen Analyse, sondern auch auf Konis Selbstdarstellung als Jurist, der behauptete, diese Zusammenhänge und ihre Konsequenzen nicht nur zu verstehen, sondern auch andere davon zu über-zeugen. In den „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ ist der Justizminister Adressat von Konis Zukunftsvisionen und Vorschlägen zum justizpolitischen Umgang mit den Narodniki. In anderen autobiografischen Schriften, in denen Koni um die Jahrhundertwende auf seine Karriere zurückblickte, rückte gar der Zar persönlich ins Zentrum seiner Bemühungen. Auch in diesen Selbstzeugnissen zeichnete Koni von sich das Bild eines Menschen, der stets politisch und in gro-ßen Zusammenhängen dachte und den Zugang zu Entscheidungsträgern offensiv nutzte, um seine eigenen Vorschläge einzubringen. Im Zuge der Radikalisierung der liberalen Bewegung rund um die Zeit der ersten Russischen Revolution von 1905 hinterfragte Koni seine Involvierung in den Kreis dieser Entscheidungsträger allerdings grundsätzlich und fand zu einer neuen Selbstdarstellung, die im zweiten Kapitel thematisiert wird. Darin positionierte er sich weit weg von politischen Einflussmöglichkeiten. Bezeichnenderweise nahm in dieser Erzählung der Ge-richtsprozess gegen Vera Zasulič eine Schlüsselrolle ein. Diese Auseinandersetzung und die darin inhärente Distanzierung von zu viel Machtnähe wurde von Koni in der frühen Sowjetzeit – ausgeführt im dritten Kapitel – nahtlos weitergeführt und manifestierte sich in einer Vielzahl an autobiografischen Praktiken, mit denen er in den 1920er- Jahren Rechtfertigung und Kontextualisierung seiner eigenen Handlungen in der Zarenzeit betrieb. Gleichzeitig zeigt sich dabei aber, dass er durch das Schreiben neuer Erinnerungstexte oder das Veröffentlichen älterer autobiografischer Schriften auch in Zeiten ideologischen Wandels das „Lehrstück“

der Causa Zasulič nicht vergaß, sondern an seinen politischen Analysefähigkeiten festhielt und sich erneut aktiv für die Verbreitung seiner eigenen Interpretationen von Geschichte und Gesellschaft einsetzte.

Der Fall Vera Zasulič – ein politisches Lehrstück 138

2.1 Memoiristische Rückschau auf ein Berufsleben unter autokratischer Herrschaft

Als Koni in den Jahren 1904 bis 1907 Erinnerungstexte zu zentralen Ereignissen in seinem Berufsleben verfasste, befand er sich bereits seit einiger Zeit in einem Prozess des schrittweisen Rücktritts von seinen Ämtern. 1896 hatte er den Posten des Oberstaatsanwalts am Kriminalkassationsdepartement aufgegeben und ledig-lich seine Tätigkeit als Senator am entsprechenden Departement beibehalten. 1900 tauschte er auch diese Aufgabe gegen den deutlich weniger aufwendigen Einsitz in der Allgemeinen Versammlung des Senats. Die geringere Arbeitsbelastung setzte Ressourcen für andere Tätigkeiten frei. So erreichte Konis autobiografische Refle-xion mit der Jahrhundertwende quantitativ eine bisher ungekannte Dimension.

Dabei unterschieden sich diese Rückblicke auf seine berufliche Tätigkeit stark von den kurzen autobiografischen „Erinnerungen eines Gerichtstätigen“ über seine Arbeit an den reformierten Gerichtsbehörden, die er wenige Jahre später in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichen sollte.20 Erstere widmeten sich viel ausführlicher und detailgenauer den bedeutendsten und auch politisch brisantes-ten Ereignissen seiner Karriere und waren nur mittelfristig für die Öffentlichkeit gedacht. Ein dominantes Element in diesen Schriften ist Konis Zusammenarbeit und Unterstützung, aber auch Zurückweisung durch hohe Politiker wie Senato-ren, Minister und Zaren. Es handelt sich dabei neben den bereits vielfach the-matisierten „Erinnerungen an den Fall Vera Zasulič“ um die beiden Texte „Die Entgleisung des Zarenzuges im Jahre 1888“ und „Die Triumvirn“, in dem Koni auf seine Zeit als Oberstaatsanwalt am Kriminalkassationsdepartement zurückblickt.

Den Zasulič- Prozess thematisiert Koni inklusive dessen Vorgeschichte sowie lang-fristigen Folgen des Freispruchs für ihn, das Gerichtswesen und die Justizpolitik in der vorläufigen, auf 1904 datierten Endversion auf über 150 Seiten.21 Ebenfalls

20 Vgl. dazu ausführlich TEILEINS.

21 Gegen Ende des Erinnerungstextes geht Koni auch auf Episoden ein, die zwar noch in losem Zusammenhang mit dem Ereignis von 1878 stehen, aber erst Jahrzehnte später stattfanden. Koni datierte das überarbeitete und aktualisierte Manuskript seiner eigenen Version zum Fall mit „15. August 1904“, vgl. GARF F. 564, op. 1, d. 200, l. 1 – 154, Datierung auf l. 154. Teile der Erinnerungsschrift hat Koni wohl schon früher verfasst, in IRLI F. 134, op. 1, d. 110, l. 31 – 132ob gibt es ein Teilmanuskript des Textes, das mit „Die Geschichte des Falls Zasulič, 1884 – 1885“ beschriftet ist, vgl. Datierung auf l. 31. Ein weiteres Manu-skript der gesamten Erinnerungsschrift gibt es im gleichen Archivgut auf l. 138 – 313ob.

Auf der letzten Seite ist dieses nun aber datiert mit „Sommer 1904 – 06“. Es ist unklar, ob Koni tatsächlich 1906 eine veränderte Version seiner Erinnerungsschrift verfasste oder ob dieses Dokument nicht erst in einer erneuten Bearbeitungsphase in den 1920er- Jahren entstand. Aus dieser Zeit scheint auch die bearbeitete Teilversion in GARF F. 564, op. 1,

Memoiristische Rückschau auf ein Berufsleben unter autokratischer Herrschaft

Memoiristische Rückschau auf ein Berufsleben unter autokratischer Herrschaft 139

datiert vom August 1904 ist Konis Erinnerungsschrift an die Entgleisung des Za-renzugs. Auf gut 30 rückseitig maschinengetippten Blättern berichtet Koni davon, wie im Oktober 1888 in der Nähe von Borki bei Charkow der Hofzug des Zaren Alexanders III. entgleist war.22 Während über 20 Menschen ums Leben kamen, entstiegen der Zar und seine gesamte Familie wie durch ein Wunder dem stark zerstörten Zug ohne nennenswerte Verletzungen.23 Zu diesem Zeitpunkt war Koni

datiert vom August 1904 ist Konis Erinnerungsschrift an die Entgleisung des Za-renzugs. Auf gut 30 rückseitig maschinengetippten Blättern berichtet Koni davon, wie im Oktober 1888 in der Nähe von Borki bei Charkow der Hofzug des Zaren Alexanders III. entgleist war.22 Während über 20 Menschen ums Leben kamen, entstiegen der Zar und seine gesamte Familie wie durch ein Wunder dem stark zerstörten Zug ohne nennenswerte Verletzungen.23 Zu diesem Zeitpunkt war Koni

Im Dokument IMPERIAL SUBJECTS (Seite 134-200)