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Überlieferung, Erschließung und Nutzung von Unterlagen der NS-Diktatur in der Abteilung Deutsches Reich

Als die Berliner Mauer 1989 fiel und im Ergebnis des folgenden deutsch-deutschen Vereinigungspro-zesses auch die bisher geteilten Überlieferungen aus dem Zeitraum 1933 bis 1945 im nunmehr neu zugeschnittenen Bundesarchiv wieder zueinander fanden, ahnte wohl kaum jemand, dass nach wei-teren 20 Jahren die Abteilung Deutsches Reich mit ihren Beständen zur benutzungsintensivsten im Bundesarchiv werden würde. Im vergangenen Jahr erreichten uns über 27.000 schriftliche Anfragen.

Das waren im Vergleich zum Jahr 2010 ca. 6.000 Anfragen mehr, was einer Steigerung von fast ei-nem Viertel entspricht. Und es lässt sich noch im-mer kein fallender Trend verzeichnen. Bis zum 31.

Mai dieses Jahres sind bereits 11.381 Benutzungs-eingänge erfasst.

Der absolute Schwerpunkt liegt auf der Nutzung der Unterlagen aus dem Zeitraum der nationalsozi-alistischen Gewaltherrschaft. Dazu gehören neben den Sammlungen des ehemaligen Berlin Document Center mit der 11 Millionen Karteikarten umfas-senden NSDAP-Mitgliederkartei sowie personen-bezogenen Unterlagen der SS, SA und anderer Gliederungen und Organisationen der NSDAP u.a.

auch die Akten zur Euthanasie sowie die Justizak-ten zum Beispiel des Volksgerichtshofs mit seinem obersten Ankläger. Einschlägig sind auch die Un-terlagen aus dem sog. NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die im Rahmen sei-ner Ermittlungen zu NS- und Kriegsverbrechern entstanden.

Wissenschaftliche, amtliche und private Interessen

Die zusammengeführten Bestände eröffneten Äm-tern, Historikern, Publizisten, Journalisten, Stu-denten und Schülern sowie vielen Privatpersonen weitergehende Chancen für Recherchen und Nach-forschungen. Neue wissenschaftliche Fragestellun-gen zur strukturellen, innen- und außenpolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Organisation und Wirkungsweise der NS-Diktatur traten in den Vor-dergrund. Die Mitarbeiter der Abteilung Deutsches Reich unterstützen die Nutzer vielfach auch bei der Klärung von Vermisstenschicksalen, bei den Er-

mittlungen zu NS- und Kriegsverbrechen, bei der Provenienzforschung von NS-Raubgut sowie bei der Überprüfung von Personen auf NS-Belastung im Zuge von Ordensverleihungen auf Bundes- und Landesebene.

Die Verbrechen des NS-Regimes, aber auch der Alltag in der Diktatur sind heute täglich medienprä-sent und haben nichts von ihrer „Anziehungskraft“

verloren. Die Übernahme von Tätern in höchste staatliche Ämter in der Frühphase der Bundesrepu-blik ist erst 60 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur in dem von ihr entfachten Zweiten Welt-krieg ein Schwerpunkt der historischen Forschung geworden. Erinnert sei an die jüngste kontroverse Diskussion zur Rolle des Auswärtigen Amts und seiner Beamten u.a. bei der Ermordung der deut-schen und europäideut-schen Juden.

Ungebrochen ist daher wohl auch das private Inter-esse, das Schicksal bzw. vermutete Verstrickungen von Großeltern, Eltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten in das totalitäre NS-Regime aufzuklären.

Inzwischen stellt bereits die Urenkelgeneration Fragen. Im Durchschnitt erreichen uns dazu täglich vierzig neue Gesuche.

Zwangsarbeit und Judenverfolgung

Immer wieder erhalten wir auch Anfragen von ehe-maligen Betroffenen und ihren Angehörigen, von Wissenschaftlern und Heimatforschern zum Thema Zwangsarbeit. Das gemeinsam mit der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ aufgebaute und heute von der Abteilung Deutsches Reich ver-waltete Zwangsarbeiterportal bietet umfangreiche Informationen zu Anwerbung und zum Einsatz ausländischer ziviler Arbeitskräfte und Kriegsge-fangener, zu Organisation, Planung und Umfeld des Arbeitseinsatzes oder zu den Lebensumständen der Zwangsarbeiter, die aus zahlreichen deutschen und ausländischen Archiven zusammengetragen wurden. Außerdem gibt das Portal historische Hintergrundinformationen, Literaturhinweise und Auskünfte über Bemühungen zur Entschädigung und Wiedergutmachung. Das Bundesarchiv stellt jedem interessierten Partner ein offenes Online-Sektion 1 Überlieferungsbildung durch das Bundesarchiv

Pflegemodul für die Ergänzung und Aktualisierung zur Verfügung. Es gibt den beteiligten Institutionen die Möglichkeit, ihre Bestandsdaten selbst in der Datenbank zu erfassen, zu ergänzen und zu än-dern. Das Portal sichert somit einen stetig größer werdenden aktuellen Nachweis von Archivgut zur Zwangsarbeit im nationalen und internationalen Rahmen.

Eine weitere, der Abteilung Deutsches Reich über-tragene Aufgabe besteht in der Dokumentation des Schicksals der Opfer der Judenverfolgung in Deutschland. Das mehrfach an anderer Stelle be-schriebene Projekt der Erstellung und Pflege einer computergestützten „Liste der jüdischen Einwoh-ner im Deutschen Reich 1933-1945“ sowie das darin enthaltene „Gedenkbuch – Opfer der Verfol-gung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ hatte und hat das Ziel, möglichst alle deutschen Bürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die in dem genannten Zeitraum ihren Wohnsitz im Deut-schen Reich in den Grenzen von 1937 hatten, zu identifizieren, namentlich aufzulisten sowie Ort und Zeit ihrer Verfolgung und Ermordung zu doku-mentieren. Eine zweite, wesentlich erweiterte und auch die Gebiete der neuen Bundesländer und der ehemaligen deutschen Ostgebiete umfassende Auf-lage des Gedenkbuchs aus dem Jahr 1986 erschien 2006 als vierbändige Ausgabe.

Doch erst mit der Online-Stellung seiner Daten im Dezember 2007, die eine regelmäßige Aktualisie-rung ermöglicht, hat sich das Interesse weltweit um ein Vielfaches verstärkt. Die Datenbank enthält ca. 3,4 Millionen Datensätze mit Quelleninforma-tionen, die sich in rund 800.000 Personenclustern widerspiegeln. Täglich laufen hier 15 bis 20 Rück-meldungen mit Korrekturen und Ergänzungen der Informationen ein, erreichen uns Bitten von An-gehörigen der Holocaust-Opfer zur Klärung von Schicksalen oder zur Unterstützung bei der Suche nach Familienangehörigen. Selbst Überlebende, die sich zum Beispiel durch Emigration retten konnten, melden sich bei uns. Und so manche Person konnte dank dieser Rückkopplungen aus dem Gedenkbuch herausgenommen werden. Vom Engagement des Bundesarchivs bei der Schicksalsklärung zeugen auch die zahlreichen „Stolperstein“-Verlegungen zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust in allen Teilen der Bundesrepublik.

Das Bundesarchiv hält neben der digitalen Verbrei-tung von Erschließungsinformationen auch an der traditionellen Form der Präsentation von Doku-menten fest und ist – in Zusammenarbeit u.a. mit dem Institut für Zeitgeschichte und dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – beteiligt an der Herausgabe der mehrbändigen Edition „Die Ver-folgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“.

Beständestruktur und Erschließungsstand Um die angefragten Themen beantworten und auch die Recherchezeiten verkürzen zu können – fast 70 Prozent ihrer Arbeitszeit benötigen die Mitarbeiter/

innen der Abteilung für die Beantwortung der An-fragen – bedarf es aussagekräftiger Findhilfsmittel.

Wir wollen, wie im Leitbild des Bundesarchivs festgehalten, „einen umfassenden und schnellen Zugang zu unseren Quellen“ gewährleisten und die rechnergestützt entstandenen Erschließungsergeb-nisse möglichst schnell über Online-Findbücher transportieren. In diesem Sinne unternimmt die Ab-teilung große Anstrengungen und hat in den letz-ten Jahren mit 291 online gestellletz-ten Findbüchern durchaus gute Erfolge erzielt.

Nach der organisatorischen und räumlichen Zu-sammenführung der Koblenzer und Potsdamer Überlieferungsteile verwaltet die Abteilung derzeit insgesamt 1.268 Bestände, darin eingeschlossen 358 Nachlässe. Darunter befinden sich neben den vielen kleineren staatlichen und NS-Beständen einige wenige zentrale Ministerialbestände und solche oberster Behörden mit sehr umfangreichen Mengenüberlieferungen wie zum Beispiel das Auswärtige Amt, das Reichsinnenministerium, das Reichssicherheitshauptamt, das Reichsjustiz-ministerium, das Reichsgericht, das Reichsfinanz-ministerium, das Reichsschatzministerium und der Reichsfinanzhof.

Während etwa der Bestand Auswärtiges Amt oder große Teile des Reichswirtschaftsministeriums und beinahe alle NS-Bestände im wesentlichen endgül-tig archivisch bearbeitet und in Teilfindbüchern on-line gestellt werden konnten, sind andere große und benutzungsintensive Bestände bisher noch nicht über Online-Findbücher recherchierbar.

Dafür gibt es neben der bereits angesprochenen hohen Auslastung durch die Benutzung eine Rei-he weiterer UrsacRei-hen. Ein Hindernis resultiert zum Beispiel aus der bisher nicht erfolgten Umsignie-rung von wichtigen Beständen, deren überlieferte Signaturen für die Datenbank nicht kompatibel sind oder große Lücken aufweisen. Einige Be-stände, deren inhaltliche Auswertung wegen ihrer Überlieferungslage zudem unmöglich ist, erfordern eine gänzlich neue Verzeichnung. Die Zusammen-führung der auseinandergerissenen Koblenzer und Potsdamer Überlieferungssteile und die Einar-beitung der Sachaktenüberlieferung in den BDC-Sammlungen und im NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sowie von Unterlagen aus anderen Abgabestellen in die vorhandenen Be-stände sind oftmals mit umfangreichen Ordnungs- und Umsignierungsarbeiten sowie intensiven Ver-zeichnungsarbeiten verbunden.

Außerdem harren die noch im Ausland, insbeson-dere in Russland und weiteren osteuropäischen Ländern befindlichen Reichsakten der Erschließ-ung nach ihrer eventuellen Rückgabe.

Neue Recherchemöglichkeiten

Die einem Quantensprung gleichende Freischal-tung der Suchmaschine BASYS-INVENIO im Herbst des letzten Jahres, die eine bestandsüber-greifende und absehbar auch abteilungsübergrei-fende Suche über alle in der Datenbank erfassten Bestände mit ihren Erschließungsinformationen ermöglicht, erleichtert vor allem den Nutzern in den Lesesälen die Auswertung und verkürzt zudem auch die Recherchezeiten durch Mitarbeiter in der Benutzungsvorbereitung. Dennoch bleibt es in den kommenden Jahren eine Herausforderung für die Abteilung Deutsches Reich, die noch existierenden Erschließungsrückstände trotz der großen Zahl von Anfragen zeitnah abzubauen und die Qualität der Erschließungsaussagen merklich zu verbessern.

Simone Walther

Archivdirektorin Dr. Simone Walther, geb. 1958 in Leipzig, Studium der Geschichte und Archivwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1984 Promotion, bis 1990 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralen Parteiarchiv der SED, 1990-1991 stv. Arbeitsbereichsleiterin für die archivwis-senschaftliche Erschließung im Institut für Geschichte der Ar-beiterbewegung, 1992 u.a. Arbeitsgruppenleiterin im Verbund Archiv/Bibliothek/Technische Werkstätten beim Parteivor-stand der PDS, seit Januar 1993 beim Bundesarchiv, derzeit stv. Leiterin der Abteilung Deutsches Reich

Referenten der Sektion 1: Dr. Henning Pahl, Dr. Simone Walther, Evelyn Grünspek, alle Bundesarchiv (v.l.n.r.)

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Sektion 1 Überlieferungsbildung durch das Bundesarchiv

Spezifika in der Überlieferung zentraler staatlicher ziviler Stellen der