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Die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv: Überlieferung, Erschließung und Benutzung

Mit über 10.000 ausgehobenen Akteneinheiten pro Jahr gehört der Bestand DY 30 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zu den drei meistge-nutzten Beständen im Bundesarchiv. Die Benut-zungshäufigkeit spiegelt die Bedeutung der SED-Unterlagen für die historische Forschung wider.

Sie ist zugleich Indikator für die große Zahl von Benutzungen, die von den Mitarbeitern der Stif-tung betreut wird. Und sie belegt, dass sich die in den letzten beiden Jahrzehnten geleistete Erschlie-ßungsarbeit rentiert: Nach den Akten der Stiftung wird – über das Internet und vor Ort – recherchiert, relevantes Archivgut wird gefunden und zur Aus-wertung bestellt. Schließlich ist die hohe Zahl aus-gehobener Einheiten auch ein Beleg für den Erfolg des institutionellen Konstrukts, das der Gesetzge-ber nach der Wiedervereinigung geschaffen hat und das sich nun seit zwei Jahrzehnten bewährt.

Die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorga-nisationen der DDR im Bundesarchiv schuf Kon-tinuität in einer Phase des gesellschaftlichen Um-bruchs, sie gewährleistete den Zusammenhang der historischen Überlieferung und sicherte den sofor-tigen, allgemeinen Zugang zu bis dahin nicht oder nur teilweise zugänglichen Unterlagen. Es wurden Einbringungsverträge mit über 30 ehemaligen Par-teien und Massenorganisationen der DDR und mit mittlerweile über 370 Nachlassgebern geschlossen.

Unter den Parteien und Organisationen befinden sich SED, CDU, Liberal-Demokratische Partei, National-Demokratische Partei und Demokratische Bauernpartei, der Demokratische Block, die Natio-nale Front, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, der Kulturbund, die Freie Deutsche Jugend und viele weitere. Unter den Nachlässen sind zum Bei-spiel die von August Bebel, Rosa Luxemburg, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Erich Honecker zu nennen.

Herausforderungen der ersten Jahre

Durch die Einbringungsverträge wurde das Schrift-gut zum Stiftungsvermögen und kann nach den Vorgaben des Bundesarchivgesetzes erschlossen und benutzt werden. Die 30-Jahres-Schutzfrist für

den allgemeinen Zugang zu Sachakten gilt jedoch für das Archivgut der Stiftung nicht. Die Unter-lagen sollten nach dem Willen des Gesetzgebers sofort für die Aufarbeitung der SED-Diktatur zur Verfügung stehen. Diese Ausnahmeregelung stell-te die Mitarbeistell-ter der Stiftung vor ein ganz prakti-sches Problem: Benutzungen mussten sofort mög-lich gemacht werden, obwohl die Unterlagen zu einem großen Teil noch nicht erschlossen waren.

Das Schriftgut war 1989/90 zum Teil im Rahmen von Notübernahmen in den Büros, Abteilungen und Registraturen der Parteien und Organisatio-nen sichergestellt worden. Dieses Schriftgut war in der Regel ungeordnet, oft waren Provenienzen und Sachbetreffe vermischt, teilweise handelte es sich um zusammengeschnürte oder in Säcken verpack-te Papierstapel. Den anderen Teil der Unverpack-terlagen übernahm die Stiftung aus dem Zentralen Parteiar-chiv der SED, dem Zentralen GewerkschaftsarParteiar-chiv des FDGB und den übrigen Archiven der Parteien und Organisationen. Aber auch hierbei handelte es sich oftmals um nicht bearbeitetes Schriftgut.

Findmittel waren nur für einen Teil der Unterlagen vorhanden und von sehr unterschiedlicher Qualität.

Im ersten Jahr des Bestehens der Stiftung besuch-ten pro Tag durchschnittlich 40 Besucher den Benutzersaal in der Torstraße. 1993 wurden über 50.000 Akten aus allen Beständen zur Einsicht-nahme vorgelegt. Diese Zahl sollte sich in den fol-genden Jahren mehr als vervierfachen. 3.000 An-fragen wurden 1993 bearbeitet und über 600.000 Kopien von Archiv- und Bibliotheksgut hergestellt, davon allein 50.000 für die Enquête-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ des Deutschen Bundestags. Un-ter diesen Umständen konnten Akten oft nur not-dürftig für die Benutzung vorbereitet werden. Die Ermittlung der Akten erfolgte entweder mit Hilfe der vorliegenden Findhilfsmittel oder anhand von Aktenplänen, nicht selten aber auch durch zeitauf-wändiges Sichten der Akten. Die Unterlagen waren auf neun Liegenschaften in Berlin und Potsdam verteilt, jedes Jahr erfolgten neue Aktenübernah-men – die jüngste erst im Frühjahr 2012 von der Industriegewerkschaft Chemie-Glas-Keramik.

Sektion 1 Überlieferungsbildung durch das Bundesarchiv

Die ersten Jahre der Stiftung wurden von der Be-nutzerbetreuung ebenso geprägt wie von Umzügen, grundlegenden Ordnungsarbeiten und Bestands-bereinigungen. Deshalb musste die Erschließung nicht selten auf die aktuell nachgefragten Bestän-de beschränkt werBestän-den. Erst nach und nach konnte sie intensiviert werden. Dabei wurden zuerst die-jenigen Bestände bearbeitet,

die für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Rehabili-tierung ihrer Opfer und Fra-gen der Wiedergutmachung besonders stark nachgefragt waren. Es entstanden Find-bücher zu den Büros von Walter Ulbricht, Erich Hone-cker und Egon Krenz, zu den wichtigen Büros bzw. Abtei-lungen des ZK der SED, zu wichtigen Abteilungen im FDGB-Bundesvorstand, zu verschiedenen

Massenorga-nisationen und Nachlässen. Vordringlich erschlos-sen wurden auch Lohn- und Gehaltsunterlagen aller Bestände, da die Zahl der Anfragen zur Gel-tendmachung von Rentenansprüchen anfangs bei weit über eintausend pro Jahr lag.

Erschließung und Retrokonversion

Schon bald nach Gründung der Stiftung wur-de wur-deutlich: Je mehr Findbücher wur-den Nutzern zur selbstständigen Recherche zur Verfügung gestellt wurden, desto weniger Zeit musste für die Benut-zungsvorbereitung aufgewandt werden und desto mehr Kapazitäten hatten die Mitarbeiter wiederum für die Bestandserschließung. Die Bestände sicht-bar, d.h. recherchiersicht-bar, zu machen, wurde darum zum dringlichsten Anliegen der Stiftung. Deswe-gen wurden bereits in den ersten Jahren ältere, oftmals interne Findmittel kopiert und den Benut-zern im Lesesaal bereitgestellt. Deswegen erschien 1996 eine erste Beständeübersicht und 2006 eine zweite, stark erweiterte, in der erstmals das Archiv-gut zusammen mit dem BibliotheksArchiv-gut dargestellt wurde. Und deswegen auch beschritt die Stiftung offensiv neue Wege, um Erschließungsangaben für Nutzer recherchierbar zu machen. Seit 2003 entwickelte die Stiftung einen Weg zur Retrokon-version, d.h. Digitalisierung, und Online-Stellung älterer gedruckter bzw. handgeschriebener

Find-mittel, die von den Vorgänger-Institutionen stamm-ten. Das hier erworbene Know-how wurde in den Folgejahren auch anderen zur Verfügung gestellt.

Mittels Retrokonversion entstanden 145 elektroni-sche Findbücher mit Erschließungsinformationen zu über 250.000 Akteneinheiten, die zum größten Teil bereits im Internet bereitstehen. Heute sind es über 400 Online-Findbücher, die gegenwärtig von der Stif-tung in der Rechercheplatt-form ARGUS angeboten und aktuell gehalten werden.

Das klassische Findbuch hat durch das Internet neue Be-deutung erlangt: Neben dem strukturierten Navigieren kann der Benutzer per Voll-textrecherche über mehrere Bestände nach relevanten Akten suchen. Diese Mög-lichkeit bedeutet gerade für das DDR-Schriftgut, in dem Betreffe und Prove-nienzen so oft durcheinander gehen, eine enorme Vereinfachung und Verbesserung bei der Recher-che. Erstmals bot die Stiftung vor acht Jahren Find-bücher und die Beständeübersicht zur Recherche im Internet an. Mittlerweile ist es selbstverständ-lich, dass sie ihre Daten auch in nationale und inter-nationale Projekte einbringt und beim Aufbau von übergreifenden Internetplattformen mitarbeitet.

Einbindung von Digitalisaten

Seit 2007 stellt die Stiftung neben den Erschlie-ßungsinformationen auch Digitalisate von Archiv-gut ins Internet. Diese werden in das zugehörige Online-Findbuch eingebunden und sind somit im Kontext ihres Entstehungszusammenhangs recher-chierbar. Einzelne Strukturteile der Akten sind op-tisch hervorgehoben und können vom Nutzer wie Lesezeichen zum Einstieg an einer bestimmten Stelle der Akte genutzt werden.

Bis heute wurden insgesamt 1,3 Millionen digita-lisierte Seiten Archivgut bzw. 5.600 Akten (Stand:

Mai 2012) aus acht SED- und sieben Gewerk-schafts-Beständen in die Internet-Präsentation eingebunden. Sie sind jederzeit und von jedem Ort der Welt einsehbar. Für die Nutzer bietet die-ses Angebot einen neuen, komfortablen Weg der Bis heute wurden insgesamt

1,3 Millionen digitalisierte Seiten Archivgut bzw. 5.600 Akten

(Stand: Mai 2012) aus acht SED- und sieben

Gewerkschafts-beständen in die Internet-Präsentation eingebunden.

Sie sind jederzeit und von jedem Ort der Welt einsehbar.

Auswertung. Für die Mitarbeiter der Stiftung wirkt die Online-Nutzung des Archivguts arbeitserleich-ternd, und das Archivgut selbst wird geschont, da die Originale im Magazin bleiben können.

Benutzungsschwerpunkte

Kontinuität herrscht auch bei den Benutzungsthe-men: Untersuchungen zu den internationalen Be-ziehungen, zur Kultur- und Medienpolitik, zu so-zial- und wirtschaftshistorischen Fragestellungen machen seit zwei Jahrzehnten den größten Teil der wissenschaftlichen Benutzungen aus. Zahlreich sind daneben Untersuchungen zum Staatswesen und den Rechtsverhältnissen in der DDR, For-schungen zur Geschichte der Parteien und Massen-organisationen, namentlich zur SED, biografische Analysen sowie Forschungen zur Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung vor 1945.

Der Großteil der Benutzungen erfolgt heute für wissenschaftliche Zwecke und im Rahmen der his-torisch-politischen Bildungsarbeit. Amtliche An-fragen sind gegenüber den Anfangsjahren deutlich zurückgegangen, denn Justizverwaltungen, Staats-anwaltschaften, Untersuchungsausschüsse und Enquête-Kommissionen haben ihre Arbeit weitest-gehend abgeschlossen. Von privater Seite wurden und werden die Bestände für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, für Rehabilitationen und für den Nachweis von Rentenansprüchen herange-zogen.

Archiv und Bibliothek

Bei ihrer Arbeit profitieren Nutzer und Mitarbeiter gleichermaßen vom engen räumlichen Beieinan-der des Archivguts mit dem umfangreichen Be-stand der Bibliothek der Stiftung. Sie ist eine der bedeutendsten Spezialbibliotheken zur deutschen Geschichte und insbesondere zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ihren Grundstock bildet das Bibliotheksgut, das gemeinsam mit dem Archiv-gut nach den Regelungen der Einbringungsverträ-ge an die Stiftung überEinbringungsverträ-geben wurde – insEinbringungsverträ-gesamt über 1,4 Millionen Bände. Darunter befinden sich auch Protokolle, Berichte, Zeitschriften und Flug-schriften aus der Frühphase der Arbeiter- und Ge-werkschaftsbewegung, die bis in die 1830er Jahre zurückreichen. Ergänzt wurde der Bibliotheksbe-Sektion 1 Überlieferungsbildung durch das Bundesarchiv

Gäste des wissenschaftlichen Symposiums, v.o.: Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, im Gespräch mit Professor Dr. Joachim Hofmann-Göttig, Oberbürgermeister der Stadt Koblenz, und Dr. Ingeborg Berggreen-Merkel, Abteilungsleiterin bei dem Beauftragten der Bundesregie-rung für Kultur und Medien. Unten: Professor Dr. Hartmut Weber, Präsident des Bundesarchivs a.D., im Gespräch mit Professor Dr. Rainer Blasius

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stand seit 1993 durch fortlaufende Erwerbungen, nationale und internationale Tauschbeziehungen, eine große Zahl an Belegexemplaren sowie geziel-te Erwerbungsreisen in die Länder Osgeziel-teuropas, die seit dem Jahr 2000 von der Deutschen Forschungs-gemeinschaft finanziell gefördert werden.

Wie im Archivbereich ist es auch das vordringliche Anliegen der Bibliothek, die Bestände zu erschlie-ßen und für die Nutzer einen einheitlichen Recher-chezugang im Internet anzubieten. Dazu werden nicht nur die Rückstände aufgearbeitet, sondern auch über 30 alphabetische Kataloge mit je eige-ner Systematik zusammengeführt und in ein digi-tales Datenformat konvertiert. Dass schon ein gutes Stück des Weges hinter uns liegt, zeigt die Zahl von

470.000 Titeln, die bereits online recherchiert und bestellt werden können. Dass noch ein weiter Weg zu gehen ist, zeigt die Zahl von über 800.000 Ti-teln, die weiterhin nur über konventionelle Katalo-ge, d.h. Karteikarten, recherchierbar sind.

Henning Pahl

Archivoberrat Dr. Henning Pahl, geb. 1973 in Bielefeld, Stu-dium der Geschichte und Politikwissenschaft an den Univer-sitäten Bamberg, Münster, Besançon und Frankfurt am Main, 2004 Promotion, seit 2004 im Bundesarchiv: Referendariat bis 2006, 2006-2009 Leiter der „Erinnerungsstätte für die Frei-heitsbewegungen in der deutschen Geschichte“ in Rastatt, der-zeit Leiter des Referats StA 1

Der Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz und damit