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Das Urteilen als politische Tätigkeit

Im Dokument Die Macht der Unterscheidung (Seite 197-200)

- Zusammenfassung -

Im Ergebnis der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass die Begriffe und

Unterscheidungen, die Arendt in ihrer Analyse des Urteilsvermögens entwickelt, unmittelbar auf die Erfahrung und Analyse der totalen Herrschaft und den Traditionsbruch, der in dieser neuen

Herrschaftsform zutage getreten ist, antworten. Totalitäre Systeme haben nicht nur die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens in einem bisher noch nie da gewesenen Maße, sondern das Wesen des Menschen selbst infrage gestellt. In ihrer Analyse der totalen Herrschaft zeigt Arendt, wie alle

bisherigen Vorstellungen von Politik und Moral, Recht und Geschichte durch die totalitären

Bewegungen und ihre Ideologien deformiert und damit die Grundlagen der Urteilsfähigkeit in ihren unterschiedlichen Dimensionen zerstört werden konnten. Mit Hilfe von Ideologie und Terror gelang es den totalitären Herrschaftsapparaten, die Unterschiede zwischen Menschen, zwischen einzelnen Individuen und der Welt und damit auch zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Politischen, Moralischen und Juristischen zugunsten der historischen Notwendigkeit von Bewegungsgesetzen auszulöschen und Menschen damit als denkende, handelnde und urteilende Wesen überflüssig zu machen. Pluralität und Freiheit wurden der Zwangsläufigkeit eines Natur- oder Geschichtsprozesses geopfert, der in seinem unaufhaltsamen Voranschreiten die notwendigen Grenzen menschlich-welthafter Existenz niederreißen musste.

Die Zerstörung der Welt zwischen Menschen und der nur durch ihre Existenz garantierten

Wirklichkeit ging einher mit der Zerstörung der Individualität und des Gewissens jedes Einzelnen, weil der innere Dialog auf Dauer nicht fortgeführt werden kann, wenn es keine anderen Perspektiven gibt. Wenn die Unterschiede zwischen Menschen verschwinden, scheint auch die Fähigkeit, den Unterschied in der eigenen Person wahrzunehmen, verloren zu gehen. Wie weitgehend selbst die Fähigkeit zum inneren Dialog unter totalitären Bedingungen zerstört werden konnte, wird deutlich in der Feststellung Hitlers, dass es in Deutschland Denken nur noch im Vollzug des Befehls gäbe.

Totalitäre Systeme haben, wie dieses Zitat treffend beschreibt, mit dem Unterschied zwischen Welt und Selbst auch die menschliche Fähigkeit zu denken und mit sich selbst ins Gespräch zu kommen, abgeschafft. Denn das Denken braucht die Anwesenheit unterschiedlicher Menschen, die es

überhaupt erst ermöglicht, sich selbst als Anderen zu sehen, zu dem man in eine kritische Distanz gehen kann. Die Erfahrung des Unterschieds in der eigenen Person, die Erfahrung, sich selbst gewissermaßen von ‚außen‘ sehen zu können, ist angewiesen auf die Erfahrung der Pluralität, der

Verschiedenheit von Menschen in einer Welt, in der man selbst anderen erscheinen kann. Je mehr diese Pluralität vom Verschwinden bedroht ist, desto mehr ist auch die Fähigkeit von Menschen zu denken und zu urteilen gefährdet. An deren Stelle tritt die wirkungsmächtige Ideologie, die nicht nur das tägliche Leben bis in die Wohn- und Schlafzimmer hinein, sondern selbst die Gedanken von Menschen bis zur völligen Auslöschung der eigenen Person durchdringt.

Arendts Totalitarismus-Analyse zeigt, inwieweit die Zerstörung des öffentlich-weltlichen Raumes und die Unterordnung von Recht und Moral unter die totalitäre Ideologie in jedem Einzelnen das Gefühl erzeugen, dass es auf die eigene Person nicht ankommt und dass unabhängig davon, was man tut, bereits über das eigene Schicksal entschieden worden ist. Weltverlust und Selbstverlust gehen damit Hand in Hand. Unter solchen Bedingungen noch die eigene Urteilsfähigkeit zu bewahren, gelingt nur den wenigsten Menschen; die Erfahrung zeigt stattdessen, dass sich unter dem Druck des wachsenden Terrors die meisten Menschen fügen. Die Frage, die Arendt deshalb vor allem

interessiert, ist nicht, warum Menschen dem Terror nicht widerstehen – denn dazu muss man in ihren Augen schon ein Held sein -, sondern wie man verhindern kann, dass solche Systeme überhaupt entstehen können. Ihre Überlegungen zur Urteilsfähigkeit lenken die Aufmerksamkeit auf ein Vermögen, von dessen Präsenz der Zustand und Fortgang der Welt in entscheidendem Maße abhängen. Umso erstaunlicher ist es, dass mit Ausnahme Kants keiner der großen Philosophen sich mit diesem Thema eingehend beschäftigt hat. Arendt findet bei Kant jedoch genügend

Anknüpfungspunkte für ihre eigene Analyse des Urteilens, wenngleich sie diese nicht, wie man vielleicht erwarten würde, in der Moralphilosophie Kants sucht, sondern in seiner Analyse des Geschmacksurteils. Was sie an der Kritik der praktischen Vernunft und den anderen moralischen Schriften Kants kritisiert, ist vor allem die fehlende Rede vom sogenannten Mitmenschen (DT II, S.818), also von der Pluralität. Kants Moral inklusive des Kategorischen Imperativs sei eine Moral der Ohnmacht, weil es darin wirklich nur um das Selbst und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft ginge. Solche Gesinnungsethik aber ist für Arendt nur in Grenzsituationen247 zulässig, wenn man für die Welt Verantwortung nicht mehr übernehmen kann (ebd., S.818). In Kants Analyse der ästhetischen Urteilskraft hingegen meint Arendt die Quellen einer Ethik der Macht (ebd., S.818) finden zu können, weil hier die mit anderen geteilte Welt im Mittelpunkt steht.

247 Der Begriff stammt von Jaspers, wird aber von Arendt in abgewandeltem Sinne benutzt. Hierzu Arendt, LG, S.191.

Der im eigentlichen Sinne politische Charakter des Kant’schen Geschmacksurteils erschließt sich für Arendt aus dessen Welthaftigkeit. Weil das ästhetische Urteil letztendlich darüber entscheidet, wie die Welt zwischen Menschen aussehen soll, weil dieses Urteil niemals zwingen, sondern nur überzeugen kann und deshalb immer auf den Dialog angewiesen ist und weil schließlich in diesem Urteil entschieden wird, wer in der Welt zusammengehört, wohnt ihm eine politische Dimension inne, die Arendt ihrer eigenen Analyse des Urteilsvermögens zugrunde legt. Die von Kant herausgearbeiteten Kriterien der Kommunikabilität und Publizität von Geschmacksurteilen zur Wahrung der Unabhängigkeit und Transparenz solcher Urteile erweisen sich gleichermaßen als unabdingbare Voraussetzungen der Urteilsfähigkeit im politischen Sinne und zeigen die enge Verbindung zwischen Denken und Handeln auf, die sich in Arendts Analyse des Urteilens

wiedererkennen lässt. Das Denkvermögen ist – entgegen der philosophischen Tradition - bei Kant von seinem öffentlichen Gebrauch abhängig und somit an das Vorhandensein einer solchen

Öffentlichkeit als Grundlage jeder Meinungsbildung gebunden. Als Verbindungsglieder zwischen der Zweisamkeit des Denkens und der Pluralität der Welt fungieren der Gemeinsinn, der die

unterschiedlichen Erfahrungen in die gemeinsame Welt einbindet, und die erweiterte Denkungsart, mit deren Hilfe die Erfahrungen anderer in das innere Zwiegespräch hineingeholt werden. Es ist genau diese enge Beziehung zwischen Welt und Person, vermittelt durch die innere Repräsentierung der Anderen, die für Arendts Analyse der Urteilsfähigkeit so charakteristisch ist und in der Rezeption immer wieder zu Missverständnissen geführt hat.

So erweist sich der von Beiner behauptete Bruch zwischen Kant’schen und Aristotelischen Auffassungen in Arendts Analyse des Urteilens eher als Antwort auf den Bruch in der Tradition selbst, der im Totalitarismus zutage getreten ist und den bedrohlichen Bedeutungsverlust des Politischen in modernen Massengesellschaften anzeigt. Arendts Untersuchung der Tätigkeiten von

‚vita activa’ und ‚vita contemplativa’ dient deshalb gerade nicht der Erneuerung zweier Pole, sondern der Frage, wie viel ‚Welt’ eigentlich den unterschiedlichen Tätigkeiten des ‚tätigen’ und

‚geistigen Lebens’ innewohnt. Dass dabei Handeln und Urteilen gemeinsam als die politischen Fähigkeiten par excellence hervortreten, ändert nichts an ihrer unterschiedlichen Verortung. Das Urteilen bleibt dem distanzierten Betrachter vorbehalten, während die Handelnden etwas Neues beginnen und damit unmittelbar in das Weltgeschehen eingreifen. Wie eng dennoch beide Vermögen miteinander verbunden sind, zeigt sich, wenn die Welt verloren geht und Handeln nicht mehr möglich ist. Unter den Bedingungen der totalen Herrschaft, wo die Welt des Politischen radikal zerstört wird, können Urteilen und Denken sogar an die Stelle des Handelns treten, weil sie Menschen daran

Im Dokument Die Macht der Unterscheidung (Seite 197-200)