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Totalitarismus und die Zerstörung des Urteilsvermögens

Im Dokument Die Macht der Unterscheidung (Seite 40-104)

Nicht nur die menschliche Solidarität fordert von uns, die Höhlen des Vergessens und die Welt des Sterbens als die zentralen Themen unseres politischen Lebens zu verstehen; Tatsache ist vielmehr, dass die wahren Probleme unserer Zeit nicht verstanden, geschweige denn gelöst werden können, wenn wir nicht erkennen, dass der Totalitarismus nur deshalb zum Fluch des Jahrhunderts wurde, weil er in so schrecklicher Weise dessen Probleme erledigte. (ÜT, S.17)

a) Angriff auf die Freiheit

– Zerstörung der politischen Dimension –

Urteilsfähigkeit in ihrer politischen Dimension bedarf als Voraussetzung der Pluralität und ist angewiesen auf die verschiedenen Meinungen und Perspektiven von Menschen, die nur im

öffentlichen Raum Bedeutung erlangen können, wo sie besprochen und gehört werden. Totalitäre Systeme haben die Pluralität als Bedingung menschlich-welthafter Existenz in bisher unbekanntem Maße infrage gestellt und mit der Verschiedenheit von Menschen auch den Raum des Politischen radikal zerstört. An die Stelle der Pluralität trat die Verlassenheit, die Menschen gleichermaßen voneinander isolierte und aneinander kettete, an die Stelle der Freiheit die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit, mit der die Ideologien den Lauf der Geschichte und das Schicksal der Menschheit vorherbestimmt haben. Die Erfahrbarkeit der wirklichen Welt wurde verbaut durch eine Fiktion, die – entworfen von den totalitären Ideologien – in der organisatorischen Umsetzung ihren

realitätsnahen Charakter gewann. Wie Arendt in ihrer Totalitarismus-Analyse diesen Prozess der allmählichen Zersetzung der politischen Urteilsfähigkeit beschreibt und welcher Methoden sich die totalen Herrschaftssysteme dabei bedienten, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.

Verlassenheit statt Pluralität

Die Welt wird bewohnt von Menschen, die sich voneinander unterscheiden und gerade dadurch ihre Einzigartigkeit und Besonderheit erfahren. Dass wir die Welt mit Anderen teilen, ist für Arendt die Grundvoraussetzung menschlicher Existenz, nicht nur eine conditio sine qua non, sondern die conditio per quam. In diesem Sinne heißt Leben für Menschen so viel wie ‚unter Menschen weilen‘

(inter homines esse) und Sterben so viel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines esse) (VA, S.15). Was hier beinahe wie eine naturgegebene Selbstverständlichkeit klingt, dass Menschen in eine Welt geboren werden, in der sie mit anderen leben, überschreitet jedoch alle

Natur in der Einzigartigkeit jedes dieser Individuen. Gleichartigkeit und Verschiedenheit von Menschen sind in Arendts Begriff der Pluralität untrennbar miteinander verbunden. Ohne

Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine

Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen. (VA, S.164)

Pluralität als grundlegende Verschiedenheit von Menschen verdankt sich, wie Arendt meint, der Schöpfung selbst und stellt damit eine der ontologischen Grundannahmen ihres Denkens dar. Arendt verweist in diesem Zusammenhang auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die in einer ihrer

Versionen berichtet, dass Gott nicht den Menschen, sondern die Menschen erschaffen habe: ‚und schuf sie einen Mann und ein Weib.‘ Dieser im Plural erschaffene Mensch unterscheidet sich

prinzipiell von jenem Adam, den Gott ‚aus einem Erdenkloß‘ machte, um ihm dann nachträglich ein Weib zuzugesellen, das ‚aus der Rippe‘ des Menschen erschaffen, Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch war. (VA, S.15) In der zweiten Version der Schöpfungsgeschichte ist die

Pluralität keine ursprüngliche mehr, sondern Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells (ebd.). Führt die erste Schöpfungsgeschichte an den Grund des Arendt’schen Denkens, so begegnen wir in der zweiten den Abgründen der Erfahrung, aus denen dieses Denken hervorgegangen ist, den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Erst das Ereignis der totalen Herrschaft konfrontierte Arendt mit der Zerstörbarkeit von Pluralität. Dass es tatsächlich möglich war, Menschen auf einen ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ zu reduzieren und sie völlig ihrer Individualität zu berauben, wie es in den Vernichtungslagern, den Laboratorien (VS, S.24) der totalen Herrschaft, geschah, rückte die Bedeutung der Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens.

Ob Arendts Begriff der Pluralität auch zurückgeht auf ihre Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie Martin Heideggers, zu dem sie eine intensive persönliche und geistige Beziehung hatte, soll hier nicht diskutiert werden.53 Erwähnt sei nur, dass Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) vom Dasein in der Welt als ‚Mitsein mit Anderen‘ spricht, wobei

53 Hierzu u.a. Benhabib 1996; Heuer 1992; Nordmann 1994.

jedoch für ihn die eigentlich authentische Form des Daseins, in der sich dessen Sinn offenbart, das alleinige Sein zum Tode bleibt. Die Formen des ‚Mitseins‘ sind für ihn inauthentisch und verkörpern lediglich die ‚Verfallenheit des Daseins‘ an das ‚Gerede der Alltagswelt‘ und sein Verschwinden in der Erfahrung des anonymen ‚Man‘.54 Bei Heidegger folgt daraus eine Verachtung alles Alltäglichen und Öffentlichen, welche die wesentlichen Unterschiede verdecken und damit der Nichtigkeit

preisgeben würden.55 Arendts Begriff der Pluralität ist dieser Interpretation des Mit-Anderen-in-der-Welt-Seins entgegengesetzt, indem er gerade nach der Erfahrung des Totalitarismus jenen von Heidegger so verachteten Bereich des Öffentlichen in den Mittelpunkt stellt. Damit verlässt Arendt den luftigen Wohnsitz der Philosophen56 und wendet sich der Welt des Politischen zu, den

Angelegenheiten von Menschen im Plural, einem Bereich, der von der Philosophie traditionell missachtet worden ist. Denn die Philosophie habe, wie Arendt meint, von jeher nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt und ihn auch nicht haben können, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte (BWJ, S.203).

Der hier angesprochene Konflikt zwischen Philosophie und Politik liegt also in deren

unterschiedlichen Haltungen zur Welt begründet. Für den Philosophen ist der Wohnsitz das Denken, das sich von der Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen entfernen muss und in dieser

Weltabgeschiedenheit immer nur mit Abwesendem zu tun hat. Gemessen an anderen Orten der Welt, den Orten der menschlichen Angelegenheiten, ist der Wohnsitz des Denkens ein ‚Ort der Stille‘.57 (MZ, S.180) Im philosophischen Denken sucht der Einzelne nach Wahrheit und Erkenntnis und verlässt dabei die gemeinsame Welt. Politik aber gründet im Gegensatz dazu auf Pluralität.

54 Hierzu auch das Kapitel über Existenzphilosophie in: Benhabib 1998, S.74-110, oder Abschied vom luftigen Wohnsitz der Philosophen in: Heuer 1992, S.203-260.

55 So heißt es bei Heidegger: Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Sichtweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den ‚Dingen‘, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens

‚auf die Sachen‘, weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. In: Heidegger 1976, S.57.

56 Heuer 1992, S.203.

57 Zitat von Heidegger anläßlich einer Parmenides-Interpretation. In: Heidegger 1969, S.75.

Politik realisiert die Pluralität von Menschen, indem sie die absolut Verschiedenen in Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen (WiP, S.12) organisiert. Politik in diesem Sinne entsteht nicht im Menschen, sondern zwischen Menschen. Das Neue und Besondere an Arendts Politikauffassung ist, dass Menschen als politisch Handelnde und Urteilende überhaupt nicht unabhängig von anderen existieren können; dass es ein politisches Subjekt also gar nicht gibt. In ihrem Denktagebuch formuliert Arendt diese Erkenntnis schon im Jahre 1950 kurz und prägnant:

Der Mensch ist a-politisch (DT I, S.15). Nur dort, wo Menschen einander als Verschiedene anerkennen, kann überhaupt ein politischer Raum entstehen. In dieser Angewiesenheit auf die Anerkennung Anderer und den Raum, der zwischen ihnen entsteht, wird die Tragweite des Pluralitätsbegriffs deutlich.

Die Unterschiede zwischen Menschen offenbaren sich in der Person, als die wir in die Welt treten und vor anderen erscheinen. Der Begriff ‚Person‘ meint bei Arendt die Einmaligkeit jedes Menschen, die ihn aus seinem Naturzustand als bloßem Gattungswesen heraushebt. Die Person enthüllt, wer einer ist, nicht was er ist. Nicht bestimmte Eigenschaften, Gaben oder Talente im Sinne einer

‚Essenz‘ von Menschen machen eine Person erkennbar, sondern die konkreten Worte und Taten, die Geschichten und Handlungen, mit denen sie vor anderen in Erscheinung tritt.58 Handelnd und

sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang ihrer Stimme in Erscheinung traten. (VA, S.169) Die von Arendt

gewählten Worte ‚offenbaren‘ und ‚enthüllen‘ verweisen darauf, dass die Person aber nicht identisch ist mit ihren Worten und Taten. Sie scheint vielmehr durch diese welthaften Äußerungen hindurch, ist undefinierbar und doch eindeutig identifizierbar. Sie kann in verschiedenen Rollen in Erscheinung treten und wird doch erkannt als die eine, einzigartige, die sie nun einmal ist. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Sonning-Preises verweist Arendt auf die ursprüngliche Bedeutung der Worte

‚persona‘ und ‚personare‘: das Substantiv ‚Maske‘ oder ‚Rolle‘ ist abgeleitet von dem Verb

‚durchklingen‘, ‚to sound through‘. On the stage which is the world we always appear and are

58 Das behauptet einen ‚Vorrang der Existenz vor der Essenz‘ - womit Arendt zu einer frühen Kritikerin eines

‚essentialistischen‘ Konzepts der Identität wird: Das ‚Was‘ legt jemanden auf bestimmte Merkmale fest, das ‚Wer‘

beschreibt eine Lebensgeschichte als einzigartige Konstellation von Ereignissen und Entscheidungen, Handlungen und Handlungsfolgen. Jaeggi 1997, S.73.

recognized according to the roles which our professions assign to us ... as physicians or lawyers, as authors or publishers, as teachers or students, and so on. It is through this role, sounding through it, as it were, that something else manifests itself, something entirely idiosyncratic and undefinable and still unmistakably identifiable, so that we are not confused by a sudden change of rules ... (SP, S.13)

Die Welt wird von Arendt als die Bühne für das Erscheinen der Person betrachtet; die Person bedarf zu ihrer Verwirklichung der Welt. Nur in der Welt kann das Personenhafte eines Menschen als etwas erscheinen, das demjenigen, der es in die Öffentlichkeit trägt, selbst nicht verfügbar, ja sogar

unbekannt ist. Darin besteht für Arendt der Unterschied zum Subjektiven, das objektiv viel leichter zu fassen und vom Subjekt in den Griff bekommen werden kann, wie es beispielsweise in der

Selbstbeherrschung andauernd praktiziert wird. Das Personenhafte hingegen ist nicht in diesem Sinne handgreiflich zu machen; es kann von allen anderen eher gekannt werden als von der betreffenden Person selbst und zeigt sich erst dann, wenn man sich auf das Wagnis der Öffentlichkeit (MZ, S.91) einlässt. Den Raum des Öffentlichen, der zwischen Menschen entsteht, wenn sie sprechend oder handelnd miteinander in Beziehung treten, bezeichnet Arendt auch als Welt. Sie verwendet den Weltbegriff jedoch in unterschiedlichen Bedeutungen, die sich nur aus dem jeweiligen Kontext erschließen lassen. Jaeggi unterscheidet zwischen dinglicher Welt und Welt als öffentlichem Raum59. Die ‚dingliche Welt‘ meint die durch den Menschen selbst geprägte Umwelt60, in die Menschen hineingeboren werden und die sie erst mit dem Tod wieder verlassen. Welt in diesem Sinne ist das, was über das bloße Leben, über die Natur hinausgeht. Es ist eine ‚hergestellte Welt‘, in der

Menschen aus der Natur die objektive Gegenständlichkeit einer eigenen Welt errichtet (VA, S.125) haben, eine ‚künstliche Welt‘, zum Schutz vor der Natur und um sich selbst Halt und Heimat zu geben. Die Haltbarkeit der Gegenstände verleiht der Welt als dem Gebilde von Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich das sterblich-unbeständige Wesen des Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüsste; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen (VA, S.124). Die Welt als ‚öffentlicher Raum‘ konstituiert sich demgegenüber als

Beziehungsgeflecht zwischen Menschen, die sprechend und handelnd in Erscheinung treten und dadurch weltliche Realität gewinnen. Insofern die Welt Erscheinungsraum ist, ist sie - im Gegensatz

59 Jaeggi 1997, S.49-66.

60 Ebd., S.53.

zum Innerlichen, Unsichtbaren, Privaten - öffentlich. Dieser Öffentlichkeit der Welt kommt realitätskonstitutive Kraft zu.61 Welt in diesem Sinne entsteht dadurch, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, die öffentlich in Erscheinung treten, vor anderen sichtbar und hörbar werden. Sie bedarf der Pluralität von Menschen. Menschsein, Pluralität und Welt als öffentlicher Raum sind für Arendt unmittelbar aneinander gebunden. Menschen im eigentlichen Sinne kann es ... nur geben, wo es Welt gibt, und Welt im eigentlichen Sinne kann es nur geben, wo die Pluralität des

Menschengeschlechts mehr ist als die einfache Multiplikation von Exemplaren einer Gattung. (WiP, 109)

Umgekehrt bedeutet das, wo Menschen zu Exemplaren einer Gattung zusammengeschmolzen werden, wie es unter den Bedingungen der totalen Herrschaft geschieht, geht nicht nur die Pluralität, sondern auch die Welt verloren. Hier zeigt sich, wie eng Arendts Begriffe von Welt, Person und Pluralität mit der Erfahrung des Totalitarismus verbunden sind. Wenn wie unter totalitären Bedingungen alle gleichermaßen funktionieren, gibt es keinen Raum mehr zwischen Menschen, in dem Welt entstehen und die Person sich in ihrer Unterschiedenheit von anderen zeigen kann. An die Stelle der Pluralität tritt dann die Verlassenheit weltloser und vereinzelter Menschenwesen.

Verlassenheit bedeutet in diesem Zusammenhang, sowohl die Welt als auch die Person als Ausdruck der eigenen Unverwechselbarkeit in der Welt verloren zu haben. Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. Zu einer politisch tragfähigen Grunderfahrung kann Verlassenheit natürlich nur in dem zweiten Fall werden (EU, S.729).

Verlassenheit als Grunderfahrung (EU, S.727) der totalen Herrschaft geht zurück auf die

Entstehung moderner Massengesellschaften im 20. Jahrhundert. Im zweiten Teil ihrer Totalitarismus-Analyse62 untersucht Arendt die historischen Ursachen, die nach dem Ersten Weltkrieg zum

Zusammenbruch der Nationalstaaten und der bürgerlichen Klassengesellschaft als deren einzige(r) zugleich soziale(n) und politische(n) Strukturiertheit (EU, S.505) geführt haben. Sie beschreibt, wie

61 Ebd., S.58.

62 Hierzu das Kapitel über den Imperialismus, in: EU, S.207-471.

im Zuge von Massenarbeitslosigkeit und Inflation immer mehr Menschen aus der bisherigen

Klassenstruktur heraus- und in jene gleichförmigen Massen hineingeschleudert wurden, die vor allem durch den radikalen Schwund gemeinsamer Interessen wie auch der Achtung vor sich selbst

gekennzeichnet waren. ‚Interesse‘ ist hier ganz wörtlich zu verstehen als inter-esse, als das, was zwischen Menschen ist und für Arendt die Welt als öffentlichen Raum bedeutet. Was nicht erst in totalitären Systemen, sondern in Anfängen bereits in modernen Massengesellschaften verloren geht, ist dieser Raum des Politischen selbst. Der Begriff ‚Interesse‘ darf hier nicht verwechselt werden mit einem Interesse, das – wie z.B. in der marxistischen Theorie - das vorgeblich gemeinsame Anliegen einer bestimmten Klasse oder Gruppe bezeichnet. Ebenso wenig ist damit die Begeisterungsfähigkeit vieler Menschen für die Ideologien gemeint, wie sie von den zur selben Zeit entstehenden

Bewegungen propagiert wurden. Denn diese Ideologien waren weder aus einem Interesse an der Welt entstanden noch auf ein solches gerichtet. Sie antworteten vielmehr auf die Erfahrung der Verlassenheit moderner Massen, indem sie ihnen eine neue Bestimmung als Mitwirkende an historischen Prozessen von noch nie da gewesenem Ausmaß in Aussicht stellten.63

Wird Verlassenheit wie in modernen Massengesellschaften zu einer Erfahrung, die das Verhältnis vieler Menschen zur Welt und zu sich selbst bestimmt, so bietet sich hier also ein idealer

Anknüpfungspunkt für totalitäre Bewegungen und ihre Ideologien, die einer bestimmten Gruppe von Verlassenen Halt und Geborgenheit innerhalb der Gemeinschaft von ‚Auserwählten‘ versprechen.

Die Verlassenheit bleibt jedoch auch innerhalb dieser neuen Gemeinschaft bestehen, wird aber nicht mehr als solche erlebt, weil es in dem neuen Zusammengeschweißtsein von Menschen überhaupt keinen Raum für die persönliche Erlebens- und Erfahrungsfähigkeit gibt. Verlassen werden sich unter solchen Bedingungen eher diejenigen fühlen, die noch über eine Vorstellung von Pluralität und Freiheit verfügen oder aber diejenigen, die als Nicht-Zugehörige aus der Bewegung ausgeschlossen werden. Die Mehrheit aber, die in Gesellschaft von Gleichen das Gleiche oder etwas anderes zum gleichen Zweck tut, ist eingebunden in ein funktionierendes Ganzes, wo sie ihrer Verlassenheit nicht mehr Gewahr wird. Totalitäre Bewegungen heben die Verlassenheit nicht auf, sondern organisieren

63 Arendt verweist in diesem Zusammenhang auf Himmler, der sich sehr gut auf die Mentalität der Massenmenschen verstand, die er innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung zu organisieren hatte. Diese Leute, so Himmler, seien völlig uninteressiert an den Problemen des Alltags, was sie interessiere, seien allein weltanschauliche Fragen und das große Glück, auserwählt zu sein, an einer Aufgabe mitzuarbeiten, die in Geschichtsabschnitten rechnet und deren Spur auch nicht in Jahrtausenden untergehen kann. (Himmler in einer Rede 1937, zit. in EU, S.511)

sie auf neue Weise zu ihren Zwecken. Der weltliche Zwischenraum wird nicht wiedergewonnen, sondern durch den Terror, der die verlassenen Menschen aneinander kettet, vollkommen zerstört.

Entscheidend ist für Arendt, dass damit zum erstenmal in der Geschichte die Verlassenheit zur Grundlage menschlichen Miteinanderlebens gemacht worden ist, eine Erfahrung, die vorher politisch sozusagen noch niemals produktiv geworden ist (EU, S.703).

Der Erfolg der totalitären Bewegungen – und hier unterscheidet sich Arendts Analyse von anderen Erklärungsversuchen totaler Herrschaft64 – beruht im Wesentlichen darauf, dass diese es verstanden, an die realen Erfahrungen und Ängste von Menschen in modernen Massengesellschaften

anzuknüpfen und sie für ihre Ziele zu nutzen. Totalitäre Bewegungen antworten vor allem auf die Verlassenheit moderner Massenmenschen, indem sie die voneinander isolierten Individuen in ihre Organisation einbinden und ihnen damit wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vermitteln. Binnen kürzester Zeit gelingt es ihnen auf diese Weise, alle Bereiche der Gesellschaft von den obersten Institutionen des Staates bis in den privaten Bereich jedes Einzelnen hinein im Sinne ihrer Ideologie zu vereinnahmen. Diese als ‚Gleichschaltung‘ bezeichnete, zum größten Teil - noch vor dem eigentlichen Beginn des Terrors - freiwillig vollzogene Anpassung weiter Teile der

Bevölkerung an den neuen Zeitgeist macht auf eindrückliche Weise deutlich, in welchem Maße das Urteilsvermögen von Menschen zerstört werden kann, wenn diese, verlassen von anderen und von sich selbst, in der Welt nicht mehr zuhause sind. Verlassenheit, wie Arendt sie versteht, zersetzt die Urteilsfähigkeit von Menschen, weil die Stimmen Anderer als Voraussetzung für die eigene

Urteilsbildung nicht mehr gehört werden. In der Verlassenheit sind Menschen abgeschnitten von jedem Gegenüber, mit dem sie in einen Dialog treten könnten. Weder außen noch innen gibt es einen Gesprächspartner, der zum Urteilen herausfordert und eine Entscheidung verlangt.

64 Wie schon im Aufbau ihrer Totalitarismus-Analyse deutlich wird, geht es Arendt nicht darum, den Begriff

‚totalitär‘ systemhaft oder statisch zu begreifen; sie betont vielmehr den Bewegungscharakter und die Strukturlosigkeit der totalitären Systeme und kommt von daher auch zu ihrer Einschätzung, dass gerade die Zerstörung des Politischen im Mittelpunkt totaler Herrschaft steht. Der im Gegensatz dazu stehende Totalitarismus-Begriff von Friedrich, der von einem monolithischen Machtsystem ausgeht, hat jedoch die populäre Auffassung des Begriffs zumindest in der deutschen Rezeption bis heute vorrangig geprägt. Vgl. Friedrich/ Brzezinski, 1957. Zur Diskussion des Totalitarismus-Begriffs vgl. auch Institut für Zeitgeschichte 1980.

Abschaffung der Freiheit

So wie Arendt in der Pluralität die Grundbedingung alles Politischen erkennt, sieht sie in der Freiheit dessen eigentlichen Sinn. Freiheit und Pluralität bedingen einander; beide sind notwendige

Voraussetzungen der Urteilsfähigkeit im politischen Sinne. Der Begriff der Freiheit erfährt jedoch in Arendts Theorie eine der modernen Tradition zuwiderlaufende Neubestimmung und muss deshalb genauer analysiert werden. Unter Freiheit wird hier nämlich weder eine ‚innere‘ Erfahrung im Sinne des Freiseins von äußerem Zwang oder der philosophischen Willensfreiheit des Einzelnen, noch im liberalen Sinne eine Freiheit von anderen65 verstanden. Freiheit besteht vielmehr in der Fähigkeit, gemeinsam mit anderen etwas Neues anfangen zu können: Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden. (VZ, S.201) Freiheit in diesem Sinne beginnt also nicht, wie es beinahe die gesamte neuzeitliche Tradition nahe legt, dort, wo Menschen sich aus dem Zusammenleben mit anderen, d.h. aus dem politischen Bereich, zurückgezogen haben, sondern gerade im Heraustreten aus dem Umgang mit sich selbst in die gemeinsame Welt. Freiheit im Arendt’schen Sinne kann deshalb nur dort existieren, wo das Zusammenleben von Menschen politisch organisiert ist. Ohne einen politisch garantierten

öffentlichen Bereich hat Freiheit in der Welt keinen Ort, an dem sie erscheinen könnte, und wenn sie auch immer und unter allen Umständen als Sehnsucht in den Herzen der Menschen wohnen mag, so ist sie doch weltlich nicht nachweisbar. Im Sinne einer nachweisbaren Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache. (VZ, S.201f)

Mit ihrem Freiheitsbegriff erinnert Arendt an die antike Tradition, in der Freiheit als explizit politisches Phänomen verstanden wurde, das allein im Miteinandersprechen und -handeln erfahrbar war. Der Bereich der Polis zeichnete sich nämlich gerade dadurch aus, dass sich hier Bürger zum Besprechen der gemeinsamen öffentlichen Belange versammelten, wobei die Zwänge des täglichen Lebens außen vor blieben. Die Freiheit des Politischen fing also erst da an, wo der Bereich des rein Notwendigen durch Herrschaft gemeistert worden war, so dass Herrschen und Beherrschtwerden zwar Voraussetzungen des politischen Bereichs, aber nicht dessen Inhalt waren. Mit dieser klaren

65 Schnabl, 1999, S.328.

Im Dokument Die Macht der Unterscheidung (Seite 40-104)