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Urbanisierung im globalen Kontext 2

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an der Gesamtbevölkerung eines Landes beziffert, liegt in Europa bei 73 %, in Lateinamerika bei 80 % und in Nordamerika bei 81 %, während der relative Anteil der Stadtbewohner in Asien (48 %) und Afrika (40 %) noch deutlich darunter liegt (UN DESA, 2015; Abb. 2.1-1).

Im 21. Jahrhundert wird sich das Städtewachstum vor allem auf Afrika und Asien konzentrieren (Abb. 2.1-3).

Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird der Urba-nisierungsgrad bis 2050 in Afrika auf 56 % steigen, in Asien auf 64 %. Nur noch mäßig ansteigen dürfte der Urbanisierungsgrad in Europa, Lateinamerika und Nordamerika. Im Jahr 2050 werden in Asien und Afrika voraussichtlich 73 % der globalen urbanen Bevölke-rung leben (UN DESA, 2015), heute sind es etwa 65 % (Abb. 2.1-4).

Große Unterschiede ergeben sich bei der Betrachtung des Urbanisierungsgrads in Abhängigkeit vom Entwick-lungsstand der Länder. Während er in Industrieländern von 78 % im Jahr 2015 voraussichtlich auf etwa 85 % im Jahr 2050 anwachsen wird, ist in Entwicklungs- und Schwellenländern ein Anstieg von 49 % auf 63 % zu erwarten. Aufgrund der höheren Bevölkerungs-zahlen in Asien und Afrika geht damit ein wesentlich höherer absoluter Anstieg der urbanen Bevölkerung einher (Abb. 2.1-2). In Indien beispielsweise stieg der Urbanisierungsgrad zwischen 2000 und 2010 zwar nur von 28 % auf 31 %, was jedoch einen absoluten Zuwachs von 85 Mio. Stadtbewohnern bedeutet (UN DESA, 2015). In Afrika und Asien werden im Zeitraum

2014–2050 etwa 90 % des Wachstums der Weltbevöl-kerung insgesamt erwartet. Dies entspricht ca. 2,2 Mrd.

Menschen (UN DESA Population Division, 2015), die Wohnraum, Arbeit und eine Versorgung mit grundle-genden Gütern und Dienstleistungen benötigen. Dies stellt viele Länder vor große Herausforderungen in den kommenden Dekaden, insbesondere hinsichtlich infor-meller Urbanisierungsprozesse (Kasten 2.1-1). Etwa die Hälfte des urbanen Zuwachses (1,24 Mrd. Menschen) wird voraussichtlich auf sieben Länder entfallen: Indien (404 Mio.), China (292 Mio.), Nigeria (212 Mio.), Indo-nesien, USA, Pakistan und die DR Kongo (jeweils über 50 Mio.; UN DESA, 2014).

In den kommenden Jahren wird sich die Verschie-bung innerhalb des Städtesystems weiter fortsetzen, mit einer wachsenden Anzahl an Metropolen und Megastädten (Kap. 2.2.1). Bis 1950 gab es nur zwei Megastädte mit mehr als 10 Mio. Einwohnern: New York und Tokyo. Bis heute ist die Zahl solcher Megastädte auf 28 gestiegen (Abb. 2.1-5); 2030 wird es voraus-sichtlich 41 Megastädte geben, die dann 14 % der urba-nen Bevölkerung (730 Mio. Einwohner) beherbergen werden. In der Größenklasse der „emerging megacities“

von 5–10 Mio. Einwohnern werden 2030 in voraus-sichtlich 63 Städten etwa 434 Mio. Einwohner leben (9 % der urbanen Bevölkerung weltweit). Der Anteil der urbanen Bevölkerung in Städten mit 1–5 Mio. Einwoh-nern (von der UN als „medium sized cities“ bezeich-net) dürfte im Zeitraum 1950–2030 in absoluten Zah-Abbildung 2.1-1

Anteil städtischer Bevölkerung nach Ländern und globale Verteilung von Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern (2014).

Quelle: UN DESA Population Division, 2014 Anteil urbaner Bevölkerung

>80%

60% – 80%

40% – 60%

20% – 40%

< 20%

Urbane Agglomerationen

Megacities >10 Mio. Einwohner Großstädte 5–10 Mio. Einwohner Mittelstädte 1–5 Mio. Einwohner Städte 0,5–1 Mio. Einwohner

45 len am stärksten zunehmen, von 128 Mio. Einwohnern

auf 1,13 Mrd. Einwohner. Der relative Anteil der Bevöl-kerung in Städten von 0,5–1 Mio. Einwohnern betrug im Jahr 1950 erst 8,8 % und wird voraussichtlich bis 2030 auf 10,1 % ansteigen, was absolut gesehen wenig mehr als einer halben Milliarde Einwohner weltweit entspricht. Städte mit weniger als 300.000 Einwohnern beherbergen den größten Anteil der globalen urbanen Bevölkerung. Auch wenn sich ihr relativer Anteil von 60 % im Jahr 1950 auf 38 % im Jahr 2030 verringern wird, werden 2030 etwa 1,9 Mrd. Menschen in diesen Städten leben (UN DESA, 2015; UN DESA Population Division, 2014). Während Mega- und Millionenstädte somit relativ betrachtet den größten Zuwachs erfah-ren, stellen Städte mit weniger als einer halben Million Einwohner in absoluten Einwohnerzahlen weiterhin die bedeutendste Größenklasse dar. Die globale Verteilung verschiedener Stadttypen hat wichtige Implikationen für die Funktionsweise nationaler und internationaler Städtesysteme und ist daher alles andere als nur eine statistische Marginalie: Die Konfiguration der nationa-len Städtesysteme ist relevant z. B. für lokale Konzen-trationsüberlastungen, nationale Dezentralisierung und Zentrum-Peripherie-Gefälle sowie zugleich für die glo-bale urbane Zukunft (Kap. 2.2.1).

Stadtschrumpfung als Entwicklungstrend

Dem globalen Wachstum der Städte und der städtischen Bevölkerung steht als gegenläufiger Prozess die Stadt-schrumpfung gegenüber, was weder ein neues noch ein räumlich begrenztes Phänomen ist (Hollander et al.,

2009; Martinez-Fernandez et al., 2012). Derzeit finden Schrumpfungsprozesse in größerem Ausmaß vor allem in den USA (im Rust Belt, z. B. Detroit), in Europa (z. B.

Ruhrgebiet, Manchester, Liverpool) und Japan (Soren-sen, 2006; Wiechmann, 2008), in den Altindustrieregi-onen Chinas und in den PeripherieregiAltindustrieregi-onen (d. h. über-wiegend ländlich geprägten Räumen) vieler Entwick-lungs- und Schwellenländer statt. Weltweit prognosti-zieren die Vereinten Nationen in der Dekade 2014 bis 2024 für 3 % der Städte (>300.000 Einwohner) einen Bevölkerungsrückgang (UN DESA Population Divi-sion, 2014). Für 19 Länder wird bis 2050 ein Rück-gang der absoluten urbanen Bevölkerung erwartet, dar-unter u. a. Japan, Russland, Deutschland und Kuba (UN DESA, 2015). In Deutschland verzeichneten z. B. 23 %

Abbildung 2.1-3

Megatrend Urbanisierung. Jakarta, Indonesien.

Quelle: Frauke Kraas/WBGU Abbildung 2.1-2

Zuwachs der Stadtbevölkerung (2002–2015): Weltkarte. Die aufgrund einer rasterbasierten Kartentransformation

(Kartenanamorphote) verzerrt dargestellte Gebietsgröße der Länder in der Weltkarte spiegelt die Anzahl der Stadtbewohner wider, die in den jeweiligen Ländern zwischen 2002 und 2015 in den Städten neu hinzugekommen sind.

Quelle: © www.worldmapper.org

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der Gemeinden (mit mindestens 5.000 Einwohnern) zwischen 1990 und 2010 einen Bevölkerungsrückgang;

bei Klein- und Mittelstädten sind gar 41 % schrump-fend (BBSR, 2015), in Frankreich 18 %, in Ungarn sogar 51 % der Gemeinden (Wiechmann, 2015).

Während die Schrumpfung von Städten in den 1980er und 1990er Jahren in Europa auf Sub- und Ex urbanisierungsprozesse zurückzuführen war, also auf die Wanderung aus Innenstädten an die Stadtränder bzw. Wohnstandortverlagerungen aus Verdichtungs-räumen in benachbarte ländliche Regionen, stellen Stadtwachstum und -schrumpfung in einigen Regionen heute parallele Prozesse dar (Turok und Mykhnenko, 2007). Dabei handelt es sich um komplexe, teils in loka-len Produktionszykloka-len wurzelnde Prozesse mit ökono-mischen, demographischen, räumlichen und sozialen

Ursachen. In den ehemaligen Ostblockstaaten waren demographische Effekte (Abwanderung und sinkende Geburtenrate) hauptverantwortlich für die städti-sche Schrumpfung. In vielen altindustriellen Städten und Regionen sind Deindustrialisierungsprozesse die primäre Ursache für Schrumpfungsprozesse. Gerade Städte mit einer importkonkurrierenden Branchen-struktur, die den Wandel zu einer Dienstleistungs- und wissensbasierten Industrie nicht zeitgleich einleiteten, gehören zu den Verlierern des strukturellen Wandels und der Globalisierung der Wirtschaftsverflechtung.

Diesen Städten gingen durch die günstigeren Produk-tionsbedingungen im Ausland nicht nur Arbeitsplätze verloren. Ihre relative wirtschaftliche Bedeutung ver-ringerte sich zusätzlich durch den Erfolg der exportori-entierten Städte. Sie sind heute durch hohe

Arbeitslo-0,7 Mrd. bzw. 30% urban1950 1990

2,3 Mrd. bzw. 43% urban 2030

5,1 Mrd. bzw. 56% urban

60%

3%4%

17%

9%

7%

50%

7%

7%

20%

7% 9%

38%

15%

9%

22%

6% 10%

>10 Mio.

5–10 Mio.

1– 5 Mio.

0,5–1 Mio.

0,3–0,5 Mio.

<0,3 Mio.

Abbildung 2.1-5

Verteilung der globalen urbanen Bevölkerung (absolut und relativ) nach Stadtgrößenklassen (1950, 1990 und 2030).

Quelle: WBGU nach UN DESA Population Division, 2014

Abbildung 2.1-4 Urbane Bevölkerung (Säulen) und Urbanisie-rungs grad (Linien) nach Region (1950–2050).

Quelle: WBGU basierend auf Daten aus UN DESA Population Division, 2014

0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000

1950 1970 1990 2010 2030 2050 0

20 40 60 80 100

Jahr

Urbanisierungsgrad [%]

Urbane Bevölkerung [Mio.]

Afrika Asien

Lateinamerika und Karibik

Europa Nordamerika Ozeanien

47 sigkeit und Abwanderung gekennzeichnet (Ezcurra und

Rodriguez-Pose, 2013; Daut et al., 2014). Eine weitere Konsequenz sind Wohnungsleerstände. Da Immobilien langlebige Güter sind, drückt sich das durch Abwande-rung entstehende Überangebot von Wohn- und Gewer-beraum im lokalen Immobilienpreisverfall aus. Trotz weitreichender politischer Eingriffe wie Subventionen und Investitionszuschüsse, konnten die Abwande-rungsprozesse in diesen strukturschwachen Regionen kaum aufgehalten werden.

Schrumpfungsprozesse waren in der Stadt- und Regionalplanung lange Zeit in einer von

Wachstums-prämissen geleiteten Politik ein „nicht vorgesehenes“

Phänomen (Wiechmann, 2009). In jüngster Zeit werden Stadtschrumpfungsprozesse zunehmend in der Stadtpla-nung adressiert, vor allem in Deutschland (BBSR, 2015).

Neben der Entwicklung neuer wirtschaftlicher Stand-ortstrategien und Konzepte zum planungsgestützten Rück- und Umbau von verwaisten Wohngebieten sowie der Wiederbegrünung vormals bebauter Flächen setzt dies einen Paradigmenwechsel – weg von wachstums-orientierter Planung – voraus (Wiechmann und Pallagst, 2012). In Anbetracht meist sinkender Steuereinnahmen in schrumpfenden Städten kann dieser Umbau Städte Kasten 2.1-1

Entwicklung informeller Siedlungen weltweit:

Status Quo und Prognosen

Informelle Siedlungen entstehen aufgrund der rasanten Urba-nisierung zur Zeit vor allem in den Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer (Davis, 2006: 31). In Südamerika sind diese Prozesse verstärkt seit den 1940er Jahren, in Süd-asien seit den 1960er Jahren und in Afrika südlich der Sahara seit den 1970er Jahren zu beobachten (Bähr und Mertins, 2000; UN-Habitat, 2003). Wesentliche Gründe dafür waren und sind die unzureichende Schaffung von bezahlbarem, adäquatem Wohnraum durch den öffentlichen und privaten Wohnungsmarkt, schlechte Regierungsführung, ineffek tive Stadtplanung und geringe Investitionen in die städtische Infrastruktur. Zusätzlich fördern ein rasantes Bevölkerungs-wachstum sowie Migration, insbesondere von Menschen mit einem niedrigem sozioökonomischen Status, die informellen Urbanisierungsprozesse (UN-Habitat, 2014b; Kap. 7.3).

Aufgrund der Unterschiede im Verständnis von Informali-tät (Kasten 2.1-2), der DiversiInformali-tät informeller Siedlungen und den damit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten sowie der mangelhaften Datenverfügbarkeit zur Zahl der Bewoh-nerinnen informeller Siedlungen und deren Lebensbedingun-gen in vielen Ländern bestehen erhebliche Defizite in Bezug

auf die Datengrundlage (UN-Habitat, 2015d). Während es zu informellen Siedlungen keine Schätzungen gibt, lebten 2014 knapp ein Drittel aller Stadtbewohner in Schwellen- und Entwicklungsländern in Slums (UN, 2015d). Der relati-ve Anteil an Slumbewohnern sank zwischen 2000 und 2014 von 39 % auf 30 %, in Ost-, Südost- und Südasien sogar um mehr als 12 Prozentpunkte (Abb. 2.1-6, 2.1-7). Am höchs-ten bleibt der relative Anteil mit 55 % in Afrika südlich der Sahara. Insgesamt konnten die Lebensbedingungen von 320 Mio. Menschen zwischen 2000 und 2014 verbessert werden, indem sie entweder Zugang zu verbesserter Wasserversor-gung, verbesserten sanitären Anlagen, adäquatem Wohnraum oder weniger dichten Wohnbedingungen erhalten haben (UN, 2015d: 60). Die absolute Zahl an Slumbewohnern stieg jedoch global bis 2012 insgesamt auf 850 Mio. Menschen (UN DESA, 2015).

In Anbetracht der weiterhin hohen Urbanisierungsdyna-mik vor allem in afrikanischen und asiatischen Städten wird dort auch in naher Zukunft ein erheblicher Mangel an adäquatem, bezahlbarem Wohnraum bestehen, wenn diesem Problem nicht massiv entgegengewirkt wird (Kap. 7.3).

Andernfalls könnte die Anzahl der Bewohner informeller Siedlungen bis 2050 um 1–2 Mrd. Menschen weiter anwach-sen (UN DESA, 2013), mit erheblichen Auswirkungen auf die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit.

Abbildung 2.1-6

Derzeit leben ca. 850 Mio. Menschen in inadäquaten Wohnverhältnissen; informelle Siedlung in Seelampur, Delhi, Indien.

Quelle: Frauke Kraas/WBGU

Abbildung 2.1-7

Informelle Siedlungen temporärer Migranten in der Yamuna-Aue, Delhi, Indien.

Quelle: Frauke Kraas/WBGU

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vor große Herausforderungen stellen, bietet aber auch Chancen für eine nachhaltige Entwicklung.

2.1.2

Treiber der Urbanisierung

Das Wachstum von Städten weltweit wird durch unter-schiedliche Dynamiken vorangetrieben, die durch die naturräumliche Lage, Ressourcenausstattung, demogra-phische Strukturen, lokale bzw. nationale Ökonomien, politische Systeme und Infrastrukturen beeinflusst werden. Neben der Verstädterung, d. h. dem räumli-chen und bevölkerungsmäßig quantitativen Wachs-tum von Städten (begleitet auch von StadWachs-tumbau bzw.

Verdichtung, z. B. durch Hochhausbe bauung), versteht man unter Urbanisierung die Diffusion von Urbanität, d. h. von urbanen Qualitäten, Wirtschaftsweisen und Charakteristika als sozialem Phänomen (Heineberg, 2014: 31, 414 f.; Abb. 2.1-8). Erklärungsansätze von Urbanisierung beziehen sich primär auf demographi-sche, ökonomische oder gesellschaftliche Prozesse, die eng miteinander verwoben sind.

2.1.2.1

Demographische Einflussfaktoren

Verstädterung ist zunächst ein demographischer Pro-zess. Das Wachstum der städtischen Bevölkerung (rela-tiv und absolut) basiert auf natürlichem Zuwachs bzw.

auf Wanderungsgewinn durch Migration sowie auf Ver-änderungen administrativer Grenzen durch Eingemein-dung. Diesen Prozessen kommt zeitlich und regional unterschiedliches Gewicht zu (Jürgens und Bähr, 2009: 43).

In den Industrieländern war nach den ersten größe-ren Urbanisierungs- und Stadtgründungsphasen in der Antike und im Mittelalter eine weitere Urbanisierungs-phase mit starkem Anwachsen der Stadtbevölkerung zwischen 1750 und 1950 zu verzeichnen. Ausgelöst wurde sie durch den ersten demographischen Über-gang sowie nationale und internationale Wanderungs-bewegungen vom Land in die Städte, die durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft und die Indus-trialisierung bedingt wurden. In Duisburg etwa waren 1907 60 % der Bevölkerung zugezogen, davon 13 % aus dem Ausland (Stewig, 1983). Zwischen 1820 und 1920 emigrierten nach Schätzungen 50–55 Mio. Euro-päer nach Übersee (Netto-Migration unter Berücksich-Kasten 2.1-2

Zum (veränderten) Verständnis von Informalität

Der Begriff der Informalität wurde seit den 1970er Jahren in den Diskursen zur Wirtschaftsentwicklung in den Entwick-lungsländern geprägt (Hart, 1973; Schamp, 1989; Escher, 1999). Aufgegriffen und verbreitet wurde der Begriff von der International Labour Organisation in ihren entwicklungsöko-nomischen Studien. Dabei bezog sich der Begriff der Informa-lität ausschließlich auf nicht registrierte wirtschaftliche Akti-vitäten armer Bevölkerungsschichten, z. B. Straßenhändler, nicht registrierte Beschäftigte im Transport- und Reparatur-wesen oder Müllsammler in den Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer. Die Bereiche wurden in Abgrenzung zu formalen, staatlich registrierten Wirtschaftsaktivitäten gese-hen. Diese enge Sichtweise getrennter Sektoren wurde all-mählich erweitert hin zur Betrachtung von zwei sich über-schneidenden Wirtschaftskreisläufen (Santos, 1979). Prospe-rierende informelle Wirtschaftszweige berücksichtigt erst die neuere Literatur (Werna, 2001; Roy, 2009).

Mittlerweile wird die Interkonnektivität von formellen und informellen Ökonomien kaum mehr in Frage gestellt, denn eine Dichotomisierung von Formalität versus Infor-malität verstellt den Blick auf die vielfältigen Interaktionen der beteiligten Akteure. Eine Einordnung der verschie-denen Übergänge, Mischformen und Verschränkungen sozioökonomischer, politischer oder kultureller Aktivitäten, Arrangements oder Vorgehensweisen als formell oder infor-mell erscheint deshalb nicht angemessen.

Dem Rechnung tragend wurden neben staatlichen Orga-nisationen vermehrt zivilgesellschaftliche Netzwerke und

private Investoren in den Diskurs zu informellen Siedlun-gen einbezoSiedlun-gen (Mitlin und Satterthwaite, 2004). Daneben wurde die starre Gegenüberstellung zwischen Formalität und Informalität aufgeweicht. Die verschiedenen theoretisch-konzeptionellen Weiterentwicklungen, die die beiden Dimen-sionen miteinander verschneiden, ähneln sich dabei. So wird von „informality-formality continuum“ (Roy, 2005: 148),

„degrees of complementary and supplementary informalities“

(Altrock, 2012: 176 f.) oder der „co-production by formal and informal actors“ (Mitlin, 2008: 14) gesprochen. AlSayyad (2004) erklärte Informalität – in Anlehnung an Louis Wirth’s 1939 erschienenen Artikel „Urbanism as a new way of life“

– gar zu einer neuen urbanen Lebensform. Aufgrund der verbleibenden Unschärfe stellen andere Autoren den Nutzen des Informalitätsbegriffs mittlerweile ganz in Frage und ver-weisen auf eine von dem Begriff unabhängige Analyse von

„Verhandlungen von Macht, Legitimation und Ressourcen“

für die Stadtentwicklung (Herrle und Fokdal, 2011). Gerade auch dieser Ansatz verweist auf die Möglichkeit bzw. Not-wendigkeit der Legitimierung von Urbanisierungsprozessen außerhalb des formalen Rechtssystems (Herrle und Fokdal, 2011: 11 f.).

Der Begriff der Informalität beschreibt meist die Grauzone von legalem und illegalem Handeln (Kap. 2.5.2.2) und umfasst grundsätzlich sowohl nicht konforme, legitime als auch illegal-kriminelle Prozesse. Auch wenn die Übergänge fließend sind, lassen sie sich grundsätzlich danach unterschei-den, ob durch die nicht konformen Prozesse das Gemeinwohl gefördert oder z.B. Überlebenschancen gesichert werden sol-len, oder ob sich Einzelne bzw. Gruppen an der prekären Situ-ation armer Bevölkerungsgruppen bereichern (Wehrmann, 2001).

49 tigung der Rückwanderungen), davon ca. 60 % in die

USA (Bähr, 2010), von denen sich viele in Städten auf der Suche nach Arbeit niederließen.

Das Städtewachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländern, das vor allem in Asien und Afrika erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert im Zuge der Dekolonialisierung einsetzte, verläuft heute wesentlich schneller als derzeit in den Industrielän-dern (Kap. 2.1.1). Es ist hier deutlich stärker auf die Geburtenüberschüsse aufgrund der jungen Alters-struktur zurückzuführen (Heineberg, 2014). Die Urba-nisierung in Entwicklungs- und Schwellenländern ist zu ca. 60 % auf natürliches Wachstum zurückzufüh-ren, fast das gesamte restliche Wachstum auf Migra-tion (Land-Stadt und Stadt-Stadt) und nur ein gerin-ger Teil auf Reklassifizierung administrativer Einheiten (UN DESA, 2015: 24). Das Verhältnis variiert jedoch regional: Während der urbane Bevölkerungsanstieg in Afrika südlich der Sahara zu etwa zwei Dritteln durch natürliches Wachstum bedingt ist (Tacoli et al., 2015), sank dieser Anteil in vielen asiatischen Ländern seit dem 1990er Jahren unter 50 % (UN DESA, 2015: 24).

Internationale Vergleiche werden jedoch durch Einge-meindungen, unterschiedliche Stadtdefinition und feh-lende Daten zu Migrationsbewegungen auf Stadtebene erschwert (Tacoli et al., 2015). Zudem sind Migrations-bewegungen schwer zu erfassen, da sie u. a. auch mul-tilokal sowie temporär (z. B. saisonal) erfolgen können.

Für Thailand wird z. B. geschätzt, dass ein Drittel aller Binnenmigranten jedes Jahr während der Trockenzeit temporär nach Bangkok migrieren (Tacoli, 2011).

Distanz und Dauer der Migration sind eng mit den Migrationsursachen verbunden (Kraas und Bork, 2012): Diese umfassen z. B. freiwillige Migration in Städte (etwa auf der Suche nach besseren Arbeitsmög-lichkeiten und Bildungs- und Gesundheitsversorgung), staatlich initiierte und gesteuerte Arbeitsmigration,

sai-sonale Arbeitsmigration sowie erzwungene Migration aufgrund von Krisen und Konflikten. In jüngster Zeit haben Bürgerkriege und Konflikte im Nahen Osten und in Afrika (vor allem Syrien, Afghanistan, Irak, Nigeria oder Eritrea) und Wirtschaftskrisen in den Westbalkan-staaten (vor allem Albanien, Kosovo oder Serbien) eine große Flüchtlingswelle in den Libanon, nach Jordanien, nach Pakistan, in die Türkei und nach Europa ausgelöst.

Während zum Beispiel in Deutschland 2013 127.000 Asylanträge gestellt wurden, waren es im Jahr 2015 knapp 500.000 Anträge bei insgesamt mehr als 1 Mio.

registrierten Flüchtlingen (BMI, 2016). Die Versorgung der Flüchtlinge mit Wohnraum ist eine große Heraus-forderung für Städte und Kommunen.

Neben der nationalen und internationalen Migra-tion ist die mit dem demographischen Übergang ver-bundene Alterung der Bevölkerung eine zentrale Her-ausforderung. Während der Anteil der über 60-Jähri-gen weltweit zurzeit bei 12 % liegt, hat er in Europa bereits 24 % erreicht (UN DESA Population Division, 2015). In den USA wird dieser Alterungsprozess noch stark durch Zuwanderung abgemildert. Bis 2050 wird – außer in Afrika – voraussichtlich in allen Weltregi-onen mindestens ein Viertel der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein (UN DESA Population Division, 2015).

Vor allem in Abwanderungsregionen bleiben die älteren Menschen zurück. Schrumpfung und Alterung sind hier eng miteinander verknüpfte Prozesse, die einen Trans-formationsprozess aufgrund fehlender finanzieller Mit-tel erschweren (Sorensen, 2006: 237). Der zunehmende Altersdurchschnitt der urbanen Bevölkerung stellt viele Städte vor neue Herausforderungen in Bezug auf Wohnraum, Wohnumfeld, Verkehr und soziale Dienst-leistungen.

2.1.2.2

Wirtschaftliche Einflussfaktoren

Ein wichtiger Anziehungsfaktor von Städten auf Migranten, ist das größere und breitere Arbeitsplatz-angebot. So wurde die Urbanisierung in Industrielän-dern ab dem 19. Jahrhundert stark durch die Industri-alisierung vorangetrieben (Kap. 2.2.2). Die Globalisie-rung sowie die Revolution im Transport- und Kommu-nikationswesen haben zu einer Reorganisation globaler Ökonomien mit einer zunehmenden Verbindung von Märkten und globaler Arbeitsteilung geführt (Hall und Pfeiffer, 2000).

Städte mit einem exportorientierten Branchenmix profitieren durch die zunehmende Integration in den Weltmarkt, da die zusätzliche Nachfrage der auslän-dischen Märkte die lokale Wirtschaft stärkt und neue Arbeitsplätze schafft. Lokale Wirtschaftszweige, die primär Güter für lokale und regionale Märkte herstel-len, profitieren ebenfalls durch den stärkeren lokalen Abbildung 2.1-8

Städte als soziokulturelle, religiöse und ökonomische Anziehungspunkte, Dhaka, Bangladesch.

Quelle: Frauke Kraas/WBGU

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Konsum (Moretti, 2010) sowie von Verknüpfungen entlang der Wertschöpfungskette (Dauth et al., 2014).

Städte mit ausreichend Bauland und einem unbürokratischen Planungssystem bzw. geringen regu-latorischen Einschränkungen reagieren auf Bevölke-rungsdruck mit Neubau von Häusern und Wohnungen.

Wenn Angebotsengpässe bestehen, führt der Bevölke-rungsdruck vor allem zu höheren Immobilienpreisen ( Glaeser et al., 2005). In Städten mit einem hohen Anteil an Armutsgruppen und geringem Bestand an günsti-gem Wohnraum wachsen bei Angebotsengpässen vor allem die informellen Siedlungen (Kap. 7.3). Anderer-seits kann die Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum auch zu Bevölkerungswachstum in den jeweiligen Städ-ten führen. Ein Beispiel ist das Städtewachstum im „Sun Belt“ der USA (Glaeser und Gottlieb, 2009). Der damit einhergehende Urban Sprawl, d. h. die flächen extensive Ausbreitung der Städte, führt zu ökologischen Nach-haltigkeitsdefiziten (Kap. 4.2.3, 4.3).

Immer mehr Unternehmen berücksichtigen bei ihren Standortentscheidungen die Wohnortwünsche hoch qualifizierter Arbeitnehmer, um knappes Know-how anzuziehen (Geppert und Gornig, 2010). Das Angebot an lokalen Gütern, wie kulturellen Einrichtungen und Freizeit- und Konsummöglichkeiten, die die Attraktivi-tät einer Stadt steigern und die Migrationsentscheidung vieler Haushalte beeinflussen, begünstigt daher die

Immer mehr Unternehmen berücksichtigen bei ihren Standortentscheidungen die Wohnortwünsche hoch qualifizierter Arbeitnehmer, um knappes Know-how anzuziehen (Geppert und Gornig, 2010). Das Angebot an lokalen Gütern, wie kulturellen Einrichtungen und Freizeit- und Konsummöglichkeiten, die die Attraktivi-tät einer Stadt steigern und die Migrationsentscheidung vieler Haushalte beeinflussen, begünstigt daher die

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