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Anforderungen an die urbane Transformation Im September 2015 wurden die Weichen für die

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Umwelt- und Entwicklungspolitik der kommenden Jahrzehnte neu gestellt. Die Weltgemeinschaft hat sich

auf 17 neue Ziele für nachhaltige Entwicklung geeinigt (SDGs), die auf die Transformation der Welt in Rich-tung Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Viele der SDGs sind für die Gestaltung der Urbanisierung relevant und eines dieser Ziele bezieht sich direkt auf Städte.

Der Auftrag des SDG  11 lautet: „Städte und Siedlun-gen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhal-tig machen“. Auch die Ziele des Übereinkommens von Paris vom Dezember 2015, die sich auf Klimaschutz, Anpassung und Resilienz gegenüber dem Klimawan-del sowie die Konsistenz von Finanzflüssen mit einer klimaverträglichen und klimaresilienten Entwicklung beziehen, werden ohne grundlegende Kursänderun-gen in den Städten nicht erreichbar sein. Im Rahmen der Habitat-III-Konferenz 2016 in Ecuador sollen diese Zielsysteme konkretisiert werden und es soll mit einer

„New Urban Agenda“ eine politische Strategie für die nächsten zwei Jahrzehnte entwickelt werden.

Aus Sicht des WBGU beinhaltet eine an Lebensqua-lität und Wohlstand der Menschen orientierte urbane Transformation zur Nachhaltigkeit die folgenden Anforderungen.

Anforderung Infrastruktur

Die Infrastrukturentwicklung konnte in der Vergan-genheit mit dem rasanten Urbanisierungsprozess nicht Schritt halten. Mehr als 850 Mio. Stadtbewoh-ner leben in inadäquaten Wohnverhältnissen. Welt-weit haben in Städten etwa 750 Mio. Menschen kei-nen Zugang zu angemessener sanitärer Versorgung und 150 Mio. Menschen keinen Zugang zu sauberem Trink-wasser (WWAP, 2015). In den Niedrigeinkommenslän-dern haben etwa ein Drittel der Stadtbewohner nen Zugang zu Elektrizität und etwa drei Viertel kei-nen Zugang zu moderkei-nen Energieträgern zum Kochen (IEA und World Bank, 2015). Diesen Menschen Zugang zu angemessener Basisinfrastruktur zu verschaffen, ist bereits eine erhebliche Herausforderung.

Zudem müssen bis Mitte des Jahrhunderts für etwa 2,5 Mrd. Menschen im Zeitraffer neue Wohnungen und städtische Infrastrukturen gebaut werden (UN  DESA, 2014). Die urbane Bevölkerung 2050 wird größer sein als die heutige gesamte Weltbevölkerung. Hier-aus folgen erhebliche HerHier-ausforderungen im BHier-ausek- Bausek-tor, denn in den nächsten drei Jahrzehnten müssen in etwa genauso viele Infrastrukturen hinzukommen, wie seit den Anfängen der Industrialisierung entstanden sind. Zusätzlich muss im gleichen Zeitraum der über-wiegende Teil bestehender Infrastrukturen erneuert werden. Etwa 85 % des neuen Wohnbedarfs wird in Schwellenländern erwartet, davon ca. 50 % in China (McKinsey, 2011). Die große Herausforderung wird

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Urbanisierungs-schub rechtzeitig die Weichen in Richtung Nachhaltig-keit zu stellen.

Die Errichtung dieser urbanen Infrastrukturen wird demnach erhebliche Auswirkungen auf den Ressour-cenverbrauch, die Treibhausgasemissionen sowie den Druck auf Ökosysteme haben und die zukünftige Lebensqualität der Menschen massiv prägen. Diese beschleunigte Infrastrukturrevolution wird also dis-ruptiven globalen Wandel auslösen. Das Zeitfenster bis 2050 eröffnet Spielräume, nachhaltige Städte für das 21. und 22. Jahrhundert zu schaffen. Gleichwohl besteht ein großes Risiko, dass die neu entstehenden, langlebigen Infrastrukturen im Wesentlichen nach dem Vorbild der vergangenen Jahrhunderte gebaut werden und somit unerwünschte und irreversible Pfadabhän-gigkeiten entstehen. Sollte etwa der Infrastrukturaus-bau mit einem CO2-Fußabdruck erfolgen, der demje-nigen der derzeitigen Infrastruktur aus Zement, Stahl und Aluminium in Industrieländern entspricht, könnte allein der Aufbau neuer Infrastrukturen in Schwel-len- und Entwicklungsländern zu 350 Gt CO2 -Emissio-nen führen (Müller et al., 2013). Dies allein entspricht bereits etwa einem Drittel des insgesamt noch zur Ver-fügung stehenden CO2-Budgets, wenn der Klimawan-del auf weniger als 2 °C begrenzt werden soll und mehr als drei Vierteln des Budgets, wenn der Klimawandel auf 1,5 °C begrenzt werden soll. Hinzu kommen der weitere Infrastrukturausbau in Industrieländern sowie die zukünftigen Emissionen, die durch die Infrastruktur determiniert werden. Damit würden sich ressourcen- und treibhausgasintensive Urbanisierungsprozesse in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verstetigen.

Die neuen Zielsetzungen der SDGs wie auch des Übereinkommens von Paris würden bei weitem verfehlt und die Klimaschutzleitplanke durchbrochen. Insofern ist eine Abkehr von einem Großteil der gängigen Inf-rastrukturmuster notwendig. Die Neuerfindung der Städte im Zeitraffer ist demnach eine globale Heraus-forderung, die sich nicht mit inkrementellen Verbesse-rungen erreichen lässt, sondern transformative Strate-gien mit Leapfrogging-Effekt erfordert. Ob sie gelingt, hängt auch von internationaler Kooperation (z. B. von Technologietransfers oder der Stärkung des Städte-themas in den Vereinten Nationen) und den Autono-miespielräumen, die die Nationalstaaten den Städten einräumen, ab – aber eben auch und entscheidend vom Handeln der Stadtgesellschaften selbst. Die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt oder schei-tert in den Städten der Weltgesellschaft.

Es wird deutlich, dass es transformativer Maßnah-men bedarf, die die Form der Städte, ihre Stoffe und Materialien, ihren Betrieb und ihre Funktionen betref-fen. Für die neuen Städte und Stadtteile werden z. B.

klimaverträgliche Baustoffe benötigt, denn Stahl, Zement und Beton gehören zu den Treibern der globa-len Erwärmung. Allein in China wurde in den drei Jah-ren von 2008 bis 2010 mehr Zement verbaut als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert (Smil, 2014: 91).

Auch die Formen und Ausstattungen von Gebäuden müssen sich verändern, denn ein großer Teil der welt-weiten Treibhausgasemissionen entsteht durch Küh-lung und Beheizung von Gebäuden. Zudem sind völlig neue Muster urbaner Infrastrukturen notwendig, z. B.

in Bezug auf den Mobilitätssektor, wo ein Wandel der autogerechten in eine menschengerechte Stadt anzu-streben ist.

Die Transformation in den Städten impliziert kom-plexe Herausforderungen, da die Infrastrukturen von Elektrizität, Wärme, Wasserver- und -entsorgung, Abfall, Mobilität und der Gebäude innerhalb weniger Dekaden umgebaut werden müssen, unter Beachtung der Anforderungen an urbane Lebensqualität. Für die-sen raschen Kurswechsel wird es angesichts der Diver-sität der Städte keine universellen Leitbilder geben.

Die Anforderungen an eine transformative urbane Governance sind entsprechend hoch, denn dem not-wendigen fundamentalen Wandel stehen Blockade-mechanismen gegenüber, die sich nicht nur aus tech-nischen Pfadabhängigkeiten, sondern auch aus fest-gefügten Akteurskonstellationen sowie mangelnden finanziellen und institutionellen Kapazitäten ergeben.

In den kommenden drei Dekaden könnten die Weichen in Richtung einer nachhaltiger Urbanisierung gestellt, aber auch eine Kaskade von dann irreversiblen Fehlent-scheidungen in Gang gesetzt werden, die die Mensch-heit in eine Zivilisationskrise führen.

Anforderung urbane Lebensqualität

Im Prozess der urbanen Transformation geht es jedoch nicht nur um Städtegestaltung und Infrastrukturent-wicklung innerhalb der planetarischen Leitplanken, sondern auch um die Frage, wie für die aktuell mehr als 850 Mio. in Slums lebenden Menschen angemes-sene Wohnverhältnisse sichergestellt werden können und darüber hinaus, wie die urbane Lebensqualität von Menschen verbessert werden kann. Es stellt sich also die Frage nach dem guten Leben von Menschen in der Welt-Städte-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Über die Herausforderungen, Arbeit und Beschäftigung in Städten zu schaffen, hinaus, stellen sich zwei grund-sätzliche Fragen.

Erstens: Wie müssen Städte gestaltet werden, in denen Menschen sich wohlfühlen und ihre Potenzi-ale entfalten können? Seit geraumer Zeit setzt sich die Erkenntnis durch, dass Lebensqualität nicht nur vom

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Bruttoinlandsprodukt einer Gesellschaft und den indi-viduellen Einkommen abhängt. Menschen benötigen den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen wie Bil-dung, Gesundheit, Wohnung. Doch Lebensqualität und das subjektive Wohlbefinden in Städten müssen umfas-sender betrachtet werden. Wie sehen menschenfreund-liche Städte aus, und gibt es hierfür universelle Maß-stäbe? Wie wirken sich Architektur, die Gestaltung von Räumen, Plätzen, Gebäuden und Infrastrukturen sowie Baumaterialien auf die Lebensqualität von Menschen aus? Wie spielen urbanes Design, soziale Netzwerke, Identifikation und „Heimatgefühle“ sowie Gestaltungs-möglichkeiten von Menschen zusammen? Wenn Men-schen ihre Lebensqualität vor allem in ihrem unmittel-baren Lebensraum herstellen, ist der Urbanisierungs-schub bis 2050 eine große Chance, Städte menschen-gerecht zu entwickeln. Es gibt aber auch ein großes Risiko, schwer korrigierbare Fehlentscheidungen zu treffen. Die Lebensqualität in der Welt-Städte-Gesell-schaft wird also entscheidend davon abhängen, wel-che Entswel-cheidungen zu Urbanisierungspolitiken und -strategien weltweit getroffen werden.

Zweitens: Wie können Menschen auf dynamische Urbanisierungsprozesse Einfluss nehmen bzw. an ihnen teilhaben, wenn viele urbane Räume in kurzer Zeit tief-greifende Veränderungen durchlaufen oder vollständig neu aufgebaut werden? Menschenfreundliche Städte entstehen vor allem, wenn Bürger an ihrer Gestaltung mitwirken können. Zwei aktuelle Tendenzen lassen sich beobachten, die Anlass zur Sorge geben. Zum einen ist der Einfluss von großen Immobilieninvestoren in den Metropolen vieler Industrie- und Schwellenländer so prägend, dass Stadtverwaltungen und andere Verant-wortliche eine am Menschen orientierte, nachhaltige Stadtentwicklung und gute Lebensqualität nicht mehr hinreichend beachten werden. Obwohl Bürger zum Teil an Planungsverfahren beteiligt werden, nehmen Bürger-proteste gegen städtische Entwicklungsvorhaben zu (z. B.

Gezi-Park in Istanbul; Großbauprojekte im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien; Projekt „Stuttgart 21“ in Deutschland). Zum anderen waren 2012 am ande-ren Ende des Entwicklungsspektrums bereits mehr als 850 Mio. Menschen auf sich selbst gestellt. Sie leben in informellen, oft menschenunwürdigen Siedlungen, und ihre Zahl könnte sich bis 2050 mehr als verdoppeln. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob und wie Menschen angemessen an der Gestaltung der urbanen Entwicklung beteiligt werden können. Selbst die ambitioniertesten Energie- und Ressourceneffizienzprogramme sind aus der Perspektive einer am Menschen orientierten, nach-haltigen Stadtentwicklung im Sinne des „normativen Kompasses“ des WBGU kein Ersatz für die Beteiligungs-chancen von Menschen zur Gestaltung ihres unmittel-baren Lebensumfeldes.

Anforderung Umweltschutz

Städte sollen umweltfreundlich sein und den Men-schen einen gesunden Lebensraum bieten. Damit wird Umweltschutz in den Städten zu einer der wichtigsten Anforderungen für Lebensqualität und Wohlstand der Stadtbevölkerung und somit auch der urbanen Trans-formation.

> Luftverschmutzung innerhalb und außerhalb von Gebäuden ist das größte Umweltgesundheitsrisiko, das weltweit für knapp 7 Mio. vorzeitige Todesfälle pro Jahr verantwortlich gemacht wird, die meisten von ihnen in Städten (WHO Europe, 2015a: viii). In China ist die Luftverschmutzung eine der wichtigsten Todesursachen; auch indische Metropolen sind stark betroffen. Selbst in Industrieländern, die bereits viel in Luftqualität investiert haben, werden städtische Grenzwerte für Luftverschmutzung regelmäßig über-schritten. Insgesamt wurden 2010 in Europa durch Luftverschmutzung etwa 600.000 vorzeitige Todes-fälle verursacht (WHO Europe, 2015a: viii). Weltweit könnte sich die Zahl der vorzeitigen Todesfälle durch Luftverschmutzung außerhalb von Gebäuden bis 2050 sogar verdoppeln (Lelieveld et al., 2015).

> Wasserknappheit und Wasserverschmutzung betref-fen bereits heute sehr viele Städte: Weltweit liegt rund die Hälfte aller Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern in Gebieten, die von Wasserknappheit betroffen sind (Richter et al., 2013). Es ist zu erwar-ten, dass sich die Wasserknappheit durch den Klima-wandel und das Wachstum dieser Städte erheblich verschärfen wird (z. B. Lima wegen der Abhängigkeit von Gletscherwasser, Mexiko-Stadt und Lahore wegen Grundwasserverknappung). Wasserver-schmutzung ist ein typisches Problem urbaner Ver-dichtungsräume, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, wo unbehandelte Abwässer die Wasserressourcen in den städtischen Einzugsgebie-ten kontaminieren. Besonders risikoreich ist es, wenn zu den städtischen Abwässern unbehandelte Industrieabwässer hinzukommen.

> Abfallentsorgung ist überwiegend ein Problem der Städte. Im Vergleich zu anderen Ländergruppen generieren die Städte in Industrieländern den meis-ten Müll pro Kopf, aber die Zuwachsrameis-ten gehen zurück. In Entwicklungs- und vor allem in Schwel-lenländern steigen die Mengen aber stark an. Bis 2025 kann es weltweit zu einer Verdopplung der Abfallmengen kommen (Hoornweg et al., 2013). In vielen Vierteln gibt es keine geordnete Sammlung und Abtransport, was erhebliche negative Auswir-kungen auf die öffentliche Gesundheit hat. Etwa 70 % der Siedlungsabfälle, teilweise Sondermüll, landen auf Deponien, die oft Oberflächengewässer,

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Treib-hausgase emittieren (ISWA, 2012: 5). Dezentrale Verbrennung von Abfall mit unzureichender Technik verschärft die Luftverschmutzung.

Die Anforderung geht aber über den lokalen urbanen Umweltschutz weit hinaus, da Städte auch (Mit-)Ver-ursacher globaler Umweltprobleme sind, die die natür-lichen Lebensgrundlagen langfristig und in komple-xen Kausalzusammenhängen bedrohen. Riesige Tage-baulandschaften, Rodungen von Primärwäldern für Palmölplantagen und Viehzucht, Elektronikschrott-berge in Afrika und Asien, Plastikstrudel in den Mee-ren, großflächige Mais- und Sojamonokulturen und nicht zuletzt der Klimawandel werden vor allem durch den Konsum in den Städten verursacht. Hier konzen-triert sich die Nachfrage nach Ressourcen. Städte sind zugleich die Knotenpunkte der weltweiten Rohstoff-ströme für den Bau, für Konsumgüter oder für Pro-dukte aus der Land- und Forstwirtschaft.

Die damit verknüpften systemischen Fernwirkun-gen oder ökologischen Fußabdrücke steiFernwirkun-gen mit dem Entwicklungsstand und dem Urbanisierungsgrad steil an und sollten daher bei städtischen Umweltstrategien von vornherein mitbedacht werden. Auch beim Klima-schutz spielen städtische Räume eine Schlüsselrolle, denn sie sind für etwa 70 % der globalen Energienut-zung und der globalen energiebedingten CO2 -Emissio-nen verantwortlich (Seto et al., 2014). In den Städten wird sich die Zukunft des Weltklimas entscheiden.

Die Menschen in Städten sind aber auch Betrof-fene des Klimawandels. Viele der Risiken, die durch die anthropogene Erderwärmung entstehen, betreffen Städte, wie z. B. häufigere, stärkere bzw. länger andau-ernde Extremereignisse (Starkniederschläge, Hitzewel-len, Dürren, Sturmfluten), Meeresspiegelanstieg und Gletscherschmelze. Dies wird tiefgreifende Auswirkun-gen auf ein breites Spektrum städtischer Funktionen, Infrastrukturen und Dienstleistungen haben; die ent-sprechenden Anpassungsherausforderungen und die damit verbundenen Kosten sind erheblich.

3. Ein normativer Kompass für die

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