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DER UR-ZUSAMMENHANG DER MENSCHEN

Im Dokument BUCH HERMANN (Seite 119-200)

E

s steht völlig außer Frage, daß der Mensch, darin allen Or­

ganismen gleich, ursprünglich ein Gemeinschaftswesen ist, denn er gehört organisch einem über-individuellen großen Ganzen an. Er ist ein Glied in der Kette der Generationen, welche Kette gegenüber dem Einzelnen präexistiert. Artentod ist im Laufe der Erdgeschichte, soweit wir dies beurteilen können, allemal, auf für Kausalbetrachtung rätselhafte Weise, auf einmal erfolgt — auf einmal natürlich vom Standpunkt des Zeitmaßes der Natur, deren Augenblicke keine Sekunden sind:

bei alten Menschengeschlechtern hat es so mancher persönlich beobachten können, wie solche, in einer Generation noch zahl­

reich, lebenskräftig und gesund, nach zweien oder dreien plötz­

lich gar nicht mehr vorhanden sind. Die Ableger eines gleichen Baums verdorren, wenn dieser abstirbt, gleichviel wohin sie verpflanzt wurden, gleichzeitig mit dem Stammvater. So star­

ben im Laufe der Erdzeitalter ganze Stammbäume, als ob sie Individuen wären, aus. Dieser in der Sukzession nachweisbare unlösliche Zusammenhang besteht aber auch in der Simulta-neität. Bei Lebewesen, in deren Gestalt Individuum und Kol-lektivum verfließen, wie bei Siphonophoren und ähnlichen Tierkolonien, äußert sich dies körperlich. Bei in Staatenform lebenden Insekten, wie den Ameisen, Bienen und Termiten, äußert es sich in einem dem Zusammenspiel der körperlichen Organe an Vollkommenheit gleichwertigen konzentrischen Zu­

sammenwirken vielfacher, in Einzelwesen verkörperter Gat­

tungsinstinkte; bei Herdentieren in einem von der empfinden­

den Psyche her bestehenden Primat der Gruppe gegenüber dem Einzelnen. Aber auch die am einsamsten lebenden Organismen stehen irgendwie mit anderen in Korrelation. Zu solch

ursprüng-I2Ö Präexistenz des „Wir" in der individuellen Seele

lieh einsamen Tieren gehört der Mensch ursprünglich nun nicht;

seine normale Lehensform stellt, wie wir später genau zeigen werden, das Familienleben dar. Immerhin kann er, dank seiner größeren Individualisierung und Freibeweglichkeit, von der Existenz anderer im Einzelfalle mehr absehen als irgendein son­

stiges Tier. Nichtsdestoweniger präexistiert gerade beim Men­

schen das Gemeinschaftliche dem Einzelnen in besonders ein­

drucksvoller Form, nämlich in der ursprünglicher Bindung innerhalb der freier Entscheidung fähigen individuellen Seele.

In ihr, nicht ober- oder außerhalb ihrer lebt jenes „Urwir", dessen Begriff im heutigen deutschen Schrifttum eine wachsende Rolle spielt. Die Präexistenz des Gemeinschaftlichen gilt erstens im historischen Verstand, insofern das Kollektiv-Bewußtsein allemal als älter nachzuweisen ist als das persönliche, und inso­

fern Stammesgenossen unter Primitiven in Hierarchie ünd Arbeitsteilung beinahe bienen-artig zusammenhängen. Es gilt vor allem aber auch auf der Stufe höchster Verstandesklarheit.

Dort äußert es sich, und zwar je weiter die individuelle Differen­

zierung fortschreitet, nicht desto weniger, sondern desto mehr, in einer echt-organischen Korrelation der verschiedenen Anlage­

typen untereinander, und am eindrucksvollsten wohl in der inneren Forderung nach solcher Ergänzung, welche jeder von seinem freien Subjekt her selbstverständlich stellt. So ergänzen einander Könige, Künstler, Staatsmänner, Priester, Krieger, Händler, Arbeiter; so brauchen Fürsten und Dichter einander, Schaffende und Verstehende, Käufer und Verkäufer, und dies zwar grundsätzlich nicht anders, wie Bienen und Klee einander benötigen. Es gibt schlechterdings keine Betätigung des Men­

schen, mit der einzigen Ausnahme der religiös-metaphysischer Selbstverwirklichung zugewandten, welche nicht solches Kor­

relationsverhältnis voraussetzte. Es ist schon so, wie ich es in meiner 1906 geschriebenen „Unsterblichkeit" — wohl dem Werk der bisherigen philosophischen Literatur, welches am radi­

kalsten den Zusammenhang des Lebens gegenüber dem Einzel­

nen als das Primäre hinstellt — immer wieder als Leitmotiv wiederholte: für das Individuum selbst ist das Individuum das

Das Individuum ist sich selbst das Letzte nicht 127 Letzte nicht. Wie sehr es sich hier um Elementar-Organisches handelt, beweist letztgültig die eine Tatsache, daß es keinen Be­

ruf gibt und daß keiner auch nur denkbar ist, dessen Begriff nicht voraussetzte, daß er seinen Mann ernährt und dessen Wurzel nicht insofern animalisch wäre. Denn einen rein-geistigen

„Beruf" gibt es nicht; auf der Ebene des Geistes gibt es nur Beruf un g im Sinn von Sendung, Begnadung, und für Berufung fehlt dementsprechend auch ein von der Gemeinschaft her vor­

herbestehender Betätigungsrahmen.

Das skizzierte Kollektive im Menschen — eine ausführliche Beschreibung k ö n n e n wir uns hier sparen ( U , V I , V I I , A , I I ,

3) — liegt augenscheinlich auf der gleichen Existenzebene wie das der Tiere und Pflanzen. Um ein geistiges Problem handelt es sich hier überhaupt nicht, sondern einzig und allein um einen Natur-Tatbestand. So sollte die normale Stellung des denkenden Menschen dazu eine ebenso schlicht und ehrfürchtig anerkennende sein wie gegenüber den sonderbaren Eigenschaf­

ten eines Minerals. Doch da es sich in diesem Falle um ihn selber handelt, so ringt sich der Mensch, wofern das Denken bei ihm eine Rolle spielt, zu solch schlichter Weisheit schwer durch.

Und dem ausgesprochensten Denker unter weißen Menschen, dem Deutschen, fällt es besonders schwer, gerade dort kein Problem zu sehen, wo tatsächlich keines vorliegt. Der Deut­

sche erscheint — im Gegensatz zu den meisten Völkern, denen zu Weniges problematisch ist — darin unterentwickelt, daß ihm das Organ für das Selbstverständliche und dessen besonderen Sinn fehlt. Er versteht schwerer als alle, daß nur praktische Probleme einer Lösung fähig und insofern im eigentlichen Sinne überhaupt Probleme sind, und daß die unmittelbare prak­

tische Lösbarkeit vom freien Willen her überall aufhört, wo Individuum, Wille und Intellekt nicht letzte Instanzen sind. So läßt der Deutsche nur sehr schwer die Tatsache eines unauf­

löslichen Mysteriums gelten, als welches doch schon die bloße Tatsache seines persönlichen Lebens ist, und versteigt sich all­

zu leicht dahin, im qualifiziert Irrationalen als solchen ein Ver­

standes- oder Vernunftproblem zu sehen. Daher fast alle

Theo-128 Kollektivum im Menschen seinem Unpersönlichen zugehörig

rien darüber, wie sich der Einzelne dem Kollektivum gegenüber verhalten „soll" Einer solchen Mentalität gegenüber hilft nur Grenzbestimmung, deren klassisches Vorbild die Kantsche Vernunftkritik darstellt. Und da können wir nichts Besseres tun, als ohne weiteren Ubergang zunächst einige axiomatisch gewiß wahre Thesen aufzustellen, deren Richtigkeit sich später an der Betrachtung von Erfahrungstatsachen erweisen wird.

Zum ersten: der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen; jeder atomistische Individualismus bedeutet deswegen falsche Welt­

anschauung. Zum zweiten: der Mensch ist „Kollektivum' mit einer anderen Schicht seiner, als er persönliches Wesen ist: deswegen ist es nicht minder falsch, das Individuelle aus dem Kollektiven abzuleiten oder es auf dieses zurückzubeziehen.

Zum dritten: was am Menschen kollektiv ist, gehört dem un­

persönlichen Teile seines Wesens, mithin dem Nicht-Ich, an;

deswegen bedeutet Identifizierung mit dem Kollektiven Ent­

persönlichung. Zum vierten: im Gegensatz zum Subjektiven, das in allen persönlichen Belangen letztinstanzlich entscheidet, tut es im Fall des Kollektivlebens ein Objektives. Hieraus aber folgt als fünftes Axiom: auf der Ebene des Kollektiv­

lebens steht Sachlichkeit höher als Persönlich-Sein. Die aufge­

zählten Axiome fassen, soweit ich sehe, die ganze Problematik ein, welche die Kollektivität dem persönlichen Leben bietet.

Und ihre Summe und ihr Zusammenhang ergeben eine Grund­

erkenntnis, welche viele geltenden Vorurteile mit einem Schlag erledigt: daß das Kollektivum als solches, obgleich es dem Indi­

viduum präexistiert und obgleich dieses sich in concreto nie ohne Schaden für sich selber von ihm lösen kann, in erster In­

stanz ein „unterhalb" des Persönlichen bedeutet. Das Kollek­

tivproblem ist das höchste Problem des Menschen-Tiers.

Daß es auf dieser untersten Stufe überhaupt Problem ist, liegt an dem schon früher behandelten allgemeinen Tatbestand, daß die Natur im Fall des Menschen die Form und Ordnung, deren er zu seinem Gedeihen bedarf, nur vorbereitet: seiner eigenen Initiative ist es überlassen, sie zu vollenden, oder auch nicht ( A , I I , 8 ) .

Tierischer Ursprung des Ideals der Sachlichkeit 129 Das vom Standpunkt des persönlichen Lebens Wichtigste an den aufgezählten Axiomen, mit dessen Erläuterung wir darum anheben wollen, ist dies, daß das im Menschen an der Kollek­

tivsphäre teilhabende dem unpersönlichen Teil seines Ge­

samtwesens zugehört, und daß sich daraus die besondere Norm und das paradoxale Ideal der „Sachlichkeit" ergibt; nicht etwa daraus, daß dem Geist Sachlichkeit als Wesensattribut eigne (Schelers Irrtum). Verschärft man sein inneres Unter-scheidungsvermögen proportional der Intensivierung der Fähig­

keit des Inne-werdens, so steht man bei der Betrachtung des hier behandelten Tatbestands zunächst vor einem vollständigen Rätsel. Es sind nicht ursprüngliche Gefühle, die eine Kollek­

tivität zusammenhalten, sondern wo Gefühle im Gemeinschafts­

leben nachzuweisen sind, bedeuten diese nachträgliche Projek­

tionen seelischer Energien auf Zusammenhänge, welche zunächst ohne sie bestehen. Es „treibt" und „drängt" die Menschen ur­

sprünglich von innen heraus, jedoch ganz blind, ganz irrational, ganz ohne Gefühlsbetonung, sich mit anderen zusammenzu­

schließen, das so entstandene Ganze den Teilen gegenüber, die eigene Person inbegriffen, voranzustellen und von ihm her zu denken und zu handeln. Daß bei solchen Zusammenschlüssen das anerkannte Ideal oder Programm nicht das Wesentliche sein kann, beweist die theoretisch unendlich große Anzahl mög­

licher Ideale und Programme, auf welche hin oder von denen her ein gleicher Zusammenschluß erfolgen kann: dieser selbst ist offenbar das Urphänomen. Hier handelt es sich ganz augen­

scheinlich um eine Verwirklichung mittels freier Initiative eben dessen, was auf allen untermenschlichen Stufen der Organismen-weit von selbst geschieht oder von vornherein da ist; es handelt sich um einen organischen Erfüllungsvorgang auf der Ebene des Unterindividuellen und Unterpersönlichen, aber doch dem Einzelnen und Einzigen notwendig Zugehörigen.

Dieses durchaus Lebendige nun aber erwächst beim Menschen auf dem Umwege über „Sachen"; es schließen sich Jugend- und Männerbünde, oder auf der Intellektualisiertheitsstufe Vereine und ähnliche Gemeinschaften zunächst vom Sachlichen her oder

Keyserling, Leben 9

130 Bestand von Kollektivum nicht von persönlichem Gefühl abhängig

auf Sachliches hin zusammen. Dann erst erfolgt die Ver­

lebendigung. Ist ein vom Sachlichen her oder auf solches hin geschaffener Zusammenhang einmal vorhanden, dann fehlt es auf die Dauer selten, daß nicht auch Herz und Gemüt dabei wären. So liebt jeder schließlich seine Berufsarbeit, welche immer sie sei und so gezwungenermaßen er sie zuerst übernahm. Auch der völkische oder staatliche Zusammenhang existiert unabhängig von bewußten Gefühlen. In der Regel erfolgt in diesem Fall Gefühlsbetonung erst oder nur im Augen­

blicke der Gefährdung — dann projiziert das Individuum seine persönlichen Emotionen auf die Gesamtheit. Am deutlichsten ist dieser Projektionscharakter auf die Kollektivität bezogener Gefühle an der Liebe zum König und besonders zum Feldherrn zu erkennen, welcher tatsächlich allemal persönlich geliebt wird, wo Identifikation des Einzelnen mit dem Heer erfolgt und dieses ihm durch den Heerführer symbolisiert wird. Hier gilt es genau zuzusehen, scharf zu denken und klar zu unterscheiden. Es ist nicht wahr, daß der Zusammenhang eines organischen Kollek-tivums vom Bestehen entsprechender persönlicher Gefühle ab­

hinge. Wohl sucht jeder Regierende oder Befehlende solche zu wecken, denn diese verstärken den Zusammenhalt. Aber wenn es letztlich auf das ständige Dasein patriotischer Leidenschaft ankäme, dann hielte kein Volk zusammen. Gemeinschaft in ihrem urtümlichen Verstand hat eben ihren Ort auf einer der vielen dem so komplizierten Menschenwesen zugehörenden un­

persönlichen Daseinsebenen. Dies ist es, was sie, wo sie wirklich besteht, so stark macht: über sie hat persönliche Einsicht und persönlicher Wille, hat, allgemeiner, geistige Initiative über­

haupt keine unmittelbare Macht. Das übliche Mißverstehen dieses Sachverhalts rührt wohl hauptsächlich daher, daß von der Sonderpsychologie des Schöpfers, Bildners oder Führers von Gemeinschaften her geurteilt wird, denn sie sind es, welche die später von Massen übernommenen Begriffe und Worte prägen.

In Wahrheit nun liegen die Dinge beim schöpferischen Ober­

haupt ganz anders als bei der Kollektivität als solcher: jener ist allemal eine Persönlichkeit, welcher Führung, Meisterung,

Kollektivum durch primäre soziale Triebe zusammengehalten 13I

Bildung und Gestaltung des Kollektivum s Künstier-Auf­

gabe ist. Ihm ist der Urzusammenhang der Gemeinschaft nur Material, persönlich steht er über ihr, und er liebt sie persönlich hauptsächlich in dem Sinne, wie der Schöpfer sein werdendes Werk liebt. Damit aber ist gesagt, daß von der Psychologie führender Persönlichkeit her das ursprüngliche Gemeinschafts­

problem überhaupt nicht verstanden, geschweige denn gelöst werden kann.

Was Gemeinschaft ursprünglich zusammenhält, das sind die ursprünglichen sozialen Triebe — und indem wir diese behandeln, kommen wir zugleich in die Lage, das wahre Verhältnis von Individuum und Kollektivum richtig zu be­

stimmen (Aj II, 3). Der Mensch gehört nicht bloß einem Kollektivum an, er ist Kollektivum, und nicht zwar bloß körperlich, sondern gerade auch psychisch; und dieses psychi­

sche „Sein" wird durch das Dasein bestimmter ursprünglicher Triebe bestimmt und als Erscheinung geschaffen. Völlig falsch ist die Theorie, gemäß welcher der Mensch von Hause aus nur Individuum und Egoist wäre, und durch moralische Höher­

bildung Altruist und Gemeinschaftswesen würde: in jedem leben primäre kollektive Tendenzen, die auf der Ebene der Psyche als Naturgegebenheit eine über das Individuum hinaus­

reichende Einheit schaffen, welche in besonderer und höherer Form die physische Einheit der Tierkolonie spiegelt. Dies zuerst klar nachgewiesen und intellektgerecht gefaßt zu haben, ist das Verdienst der sogenannten Individualpsychologie; sie zuerst hat zumal dieses Wichtigste aufgezeigt, daß die Verkümmerung oder das Fehlen der sozialen Triebe ein Beweis richtiger Er­

krankung ist, womit der direkte Nachweis dessen erbracht ist, daß die sozialen Triebe dem Individuum als solchem or­

ganisch zugehören. Die Individualpsychologie hat hier insbe­

sondere auch gegenüber Henri Bergson recht, welcher (in seinem Alterswerk über die doppelte Wurzel von Moral und Religion) behauptet, daß das meiste an der Moral im weitesten Verstand aus dem bloßen Druck von Kollektiv-Notwendigkeit erschöp­

fend zu erklären sei, welcher Druck sekundär entsprechende

132 Person verkörpert ursprünglich überpersönliche Strebungen

Gewohnheit zeitige. Hiergegen ist ganz allgemein zu sagen:

nie entscheidet Äußerliches beim wesentlich seelisch bestimmten Menschenwesen letztlich. Bestände in der Region des Sub­

jektiven keine Entsprechung zur sachlichen Erforderlichkeit gemeinschaftsgerechten Verhaltens — welche Entsprechung unter anderen Geschöpfen einen Höchstausdruck im blinden Instinkt der Ameisen und Bienen findet —, die durch das bloße Dasein von Verstand und Wahlfreiheit immerdar gefährdete Menschengemeinschaft zerfiele nicht nur sporadisch, wie sie's in Revolutionszuständen tut oder wenn Verbrecher vorherr­

schen — sie wäre längst vollständig zerfallen und das Menschen­

geschlecht wäre damit ausgestorben. Tatsächlich besteht die erforderliche Entsprechung. Und somit haben wir die paradoxale Tatsache als weiter Unzurückführbares gelten zu lassen, daß das Individuum als solches, innerhalb seiner eigenen Seele, Neigungen hat, denen das Individuum nicht letzte Instanz ist. Dies erklärt denn die organische Möglichkeit der Sachlichkeit. Selbstverständlich gibt es solche auf über-organi-scher Ebene; die des schöpferischen Künstlers zum Beispiel ist rein geistigen Ursprungs und Sinns. Aber alles Höhere muß sich auf Erden in ihm entsprechendem Niederen verkörpern, um durch Verbindung mit den Triebkräften der Erde die Vitali­

tät zu erlangen, die ihm an und für sich fehlt; ohne solche Vitalität ist es aber auf Erden machtlos. So ist alle Sachlich­

keit organisch dadurch vorgebildet, daß der Mensch, von Hause aus ein denkendes Wesen, ursprüngliche Triebe hat, die nicht vom Individuum in ihm her und auch nicht auf dieses hin bestehen, sondern von einer Wirklichkeit her, welche das Denken nicht unmittelbar zu fassen vermag. Hier lasse man sich durch den Begriff eines ,,Wir", welches gegenüber dem Ich die höhere Instanz wäre, nicht irreführen. Wo immer das Bewußtsein so weit differenziert ist, wie beim Abendländer des 20. Jahrhunderts, präexistiert kein Wir jemals, in der Region des Subjektiven, dem persönlichen Selbst. Auf der Stufe, wo gegenständlich von einem „Urwir" die Rede sein kann, spielt das Denken noch keine Rolle. Eine neue und höhere Synthese

Sachliches bedeutet dem Menschen Gleiches, wie Spinne Netz 133

des Individuellen und des Kollektiven ist aber nur möglich vom Ich her, dank dessen Erweiterung. Dem Denken bleibt das Ich, wie reich ein Mensch sich immer entwickele, die letzte Real-Instanz.

Beziehen wir nun die folgenden Sätze der Einführung zu diesem Buch (die ich dem vorliegenden Zusammenhang ent­

sprechend ein wenig kürze) in die bisherigen Gedankengänge hinein: ,,Sachlich-sein-können ist eins der Unterscheidungs­

merkmale des Menschen-Tiers, und den Ergebnissen und Schöp­

fungen dieser Einstellung verdankt es seine heutige Macht­

stellung innerhalb der Natur. Das Sachliche stellt die Apparatur dar, dessen das Menschen-Tier zum Lebenskampf bedarf, gleich wie die Spinne des Netzes." Der Mensch als Verstandeswesen bedarf ganz allgemein der Herausstellung von aus der Vor­

stellung heraus Geborenem, um zu anderen Wesen und zu den Dingen in organische Beziehung zu treten. Doch nie hätte er einen gebieterischen und unwiderstehlichen Drang zum Erschaf­

fen der fraglichen Herausstellungen gespürt, wenn ihn nicht das Dasein in ihm selber lebendiger primärer Triebe, welche nicht vom Individuum in ihm ausgehen und sich auch nicht auf dieses beziehen, von früh an so tief beunruhigt hätte, daß er zur Hilfskonstruktion der Anerkennung einer besonderen Da­

seinsebene griff, auf welcher das Kollektive auf Individuelles bezogen werden konnte; denn nur vom Individuum her operiert Verstand, im Unterschiede vom Instinkt. Die fragliche kon­

struierte Ebene ist eben die des Sachlichen. Auch die früheste Erd-Verkörperung des an und für sich rein geistigen Soll-Motivs hat ihren Ort auf ihr: auf frühester Stufe wirken ethische Im­

perative nicht also, daß das Individuum um eines geistig Höheren willen „soll", was es nicht will, sondern auf die Weise, daß rein objektive Regel selbstverständlich befolgt wird, wobei persönliche Velleität überhaupt nicht in Frage kommt.

Tatsächlich nun aber sind auch intellektuell hochentwickelte Menschen überaus häufig im gleichen Sinne primitiv: auch sie stellen sich die Frage persönlichen Wollens, persönlicher Überzeugung, persönlicher Verantwortung gar nicht, wenn

134 Unterschied lebendiger Gemeinschaft vom sachlich-Kollektiven

ihnen einmal sachliche Notwendigkeit eingeleuchtet hat. Das macht, daß dem Verstände alles Allgemeingültige, alles Ob­

jektive, alles auf der Projektionsfläche des Sachlichen Belegene besser einleuchtet und darum wichtiger scheint, als das eigene Subjektive und Persönliche des Menschen, der mit dem also urteilenden Verstand begabt ist. So allein erklärt sich die so häufig zu beobachtende Erscheinung, daß Menschen, in welchen gar kein ursprünglicher Opfersinn lebt, dem bloßen Zwang der Logik folgend, Entschließungen fassen oder hinnehmen, die ihren Interessen äußerst abträglich sind. Die Allerwenigsten derer, von denen das Gemeinte gilt, sind so gemeinnützig ge­

sinnt, wie es der Wortlaut ihrer Bekenntnisse zu glauben nahe­

legt. So ist das normale erste Stadium nach dem Erlaß eines neuen einschneidenden Gesetzes dies, daß die meisten, welche ihm zustimmten, wenn nicht andere so doch sich selber fragen, wie es vielleicht zu umgehen sei. — Nun sagten wir, die Ebene der

legt. So ist das normale erste Stadium nach dem Erlaß eines neuen einschneidenden Gesetzes dies, daß die meisten, welche ihm zustimmten, wenn nicht andere so doch sich selber fragen, wie es vielleicht zu umgehen sei. — Nun sagten wir, die Ebene der

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