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Umweltveränderungen – Ausgangslage und Trends

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In diesem Kapitel sollen die Systemzusammenhänge von Armut und Umwelt untersucht werden. Dazu werden zunächst verschiedene Armutskonzepte vor-gestellt (Kap. 3.1.1) sowie die wichtigsten Strömungen der Vulnerabilitätsforschung skizziert (Kap. 3.1.2).

Dieser Forschungszweig befasst sich mit der Anfäl-ligkeit von Gesellschaften für Krisen, z. B. Katastro-phen und Konflikten oder gegenüber Umweltverän-derungen. Darauf aufbauend werden die in diesem Gutachten behandelten Armutsdimensionen darge-stellt: Einkommens- und Vermögensarmut, Krank-heit, Unterernährung, Mangel an Bildung, fehlen-des Sozialkapital sowie mangelnde gesellschaftliche Stabiliät(Kap. 3.2). In Kapitel 3.3 werden dann die wichtigsten globalen Umweltveränderungen kurz vorgestellt und insbesondere die Wechselwirkungen mit den Armutsdimensionen analysiert. Sowohl bei den Armuts- als auch bei den Umweltdimensionen werden Schlussfolgerungen erarbeitet, inwieweit die jeweiligen Ziele erreicht werden können, auf die sich die Weltgemeinschaft geeinigt hat.

Die Verwundbarkeit ( Vulnerabilität) armer Bevöl-kerungsgruppen wird nicht nur durch Umweltverän-derungen, sondern wesentlich auch durch globale Rahmenbedingungen beeinflusst, wobei die Bevöl-kerungsentwicklung, die künftige Entwicklung der Weltwirtschaft und die technologische Entwicklung zu den wichtigsten zählen. Die Analyse möglicher Entwicklungspfade dieser Rahmenbedingungen, ihre Zusammenhänge mit Vulnerabilität und mögli-che Ansatzpunkte für die Politik werden in Kapitel 3.4 behandelt.

Eine globale, quantitative Analyse der Vulnerabi-lität muss bei derzeitigem Wissensstand an der Kom-plexität und fehlenden Datengrundlage scheitern.

Zudem müsste sich eine solche Analyse auf einer Aggregationsebene bewegen, die eine Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen fraglich erschei-nen lässt. Auf regionaler oder lokaler Ebene kann die Vulnerabilität aber, entsprechende Datenlage vor-ausgesetzt, durchaus analysiert werden. Der Beirat legt hierzu in Kapitel 3.5 zwei Fallstudien zu Burkina Faso und Nordostbrasilien vor. Sie zielen weniger auf präzise politische Empfehlungen als vielmehr auf die

grundsätzliche Herangehensweise mit einer neu ent-wickelten Methodik.

Kapitel 3.6 schlägt die Brücke zur Politik. Dort wird mit der zusammenfassenden Analyse der inter-nationalen Ziele und ihrer Finanzierbarkeit der Hin-tergrund geliefert, vor dem die relevanten Politikpro-zesse in Kapitel 4 untersucht werden.

3.1

Konzeptionelle Grundlagen der Analyse

3.1.1

Armut als mehrdimensionales Konzept

Menschen in extremer Armut sind in ihrem tägli-chen Überlebenskampf unmittelbar auf natürliche Ressourcen und funktionierende Ökosysteme ange-wiesen. Von den Veränderungen der natürlichen Umwelt, die in den nächsten Dekaden zunehmend an Bedeutung gewinnen werden, sind sie besonders betroffen (Watts und Bohle, 1993). Um die Beziehung zwischen Armut und Umwelt eingehender analysie-ren zu können, soll zunächst das Armutskonzept vor-gestellt werden, das der WBGU verwendet. Es geht in diesem Gutachten um Armut in Entwicklungs- und Schwellen ländern (Kasten 3.1-1). Diese hat eine andere Qualität als Armut in Industrieländern – auch hier leben 130 Mio. Menschen von weniger als 50%

des Durchschnittseinkommens und werden als arm bezeichnet (UNDP, 2001a). Diese relative Armut drückt sich aber weniger in Form existenzbedrohen-den Mangels aus als in Form eines niedrigen Lebens-standards und geringer Partizipations chancen.

Um die Armut von Ländern und Menschen zu mes-sen, sind heute Einkommens indikatoren weit verbrei-tet, weil sie aufgrund verfügbarer Daten einen inter-nationalen Vergleich relativ einfach ermöglichen. Sie werden aber vor allem im Kontext der Entwicklungs-politik als unzureichend kritisiert (Reddy und Pogge, 2002; UNDP, 2003c; Kap. 3.2.1). Denn neben metho-dischen und konzeptionellen Schwierigkeiten

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geln sie nicht wider, dass Armut mehr bedeutet als nur unzureichendes Einkommen.

Der WBGU legt diesem Gutachten ein breites Armutskonzept zugrunde und betrachtet Armut als Mangel an Zugangs- und Verfügungsrechten in einem umfassenden Sinn. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Arbeiten von Amartya Sen her-vorzuheben, der in den 1970er und 1980er Jahren das Konzept der Fähigkeiten erarbeitete (Sen, 1981;

Drèze und Sen, 1989). Ausgehend von Verfügungs-rechten entwickelte er eine Definition von Armut, die sich nicht nur mit materiellem Wohlergehen aus-einandersetzt, sondern auch mit Chancen: Diese ent-stehen aus dem, was arme Menschen tun oder nicht tun können (Fähigkeiten), und aus dem, was sie tun oder nicht tun (Funktionen) (Sen, 1999). Legt man die Befähigung einer Person, bestimmte Ziele errei-chen zu können, als Indikator zugrunde, erweitert sich das Verständnis von Armut. Sie umfasst dem-nach neben einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen oder ungleicher Einkommens verteilung auch unzu-reichende Ernährung, mangelnde Gesundheit und Gesund heits versorgung, unzureichende Bildung oder fehlende soziale Netzwerke und Partizipati-onschancen (Kap. 3.2). Bestimmte Bevölkerungs-gruppen, wie etwa Kinder, ältere Menschen, Frauen, die Land bevölkerung, indigene Gemeinschaften usw.

sind meist überproportional von Armut betroffen (Kasten 3.1-2).

Indikatoren, die über das Einkommen hinausge-hende Dimensionen berücksichtigen, sind der Index für menschliche Entwicklung (HDI) und der Index für menschliche Armut (HPI) des Entwicklungs-programms der Vereinten Nationen (Kasten 3.1-3).

Menschliche Entwicklung im Sinne Sens zielt auf den Abbau von Unfreiheiten und Hemmnis-sen, welche die individuellen Wahl- und Handlungs-möglichkeiten einschränken. Damit ist implizit auch die Forderung nach zivilen und politischen Rechten und der Beteiligung an Entscheidungen auf verschie-denen gesellschaftlichen Ebenen verbunden (Kasten 3.1-4).

Ein breites Verständnis von Armut, welches über Einkommensarmut hinaus geht, wird häufig auch von den Armen selbst geäußert (Robb, 1999; Chambers, 1995; Jodha, 1991). Seit einigen Jahren werden durch die Weltbank und andere Organisationen partizipa-tive Armuts einschätzungen (Participatory Poverty Assessments) durchgeführt, besonders in Verbin-dung mit den Partizipations prozessen bei der Erstel-lung von Strategiepapieren zur Armutsbekämpfung (Kap. 4.2.10). Partizipative Armuts ansätze fordern die direkte Einbeziehung der Armen bei der Defini-tion und Messung von Armut.

Armut ist also nach Auffassung des WBGU ein mehrdimensionales, dynamisches, geschlechts- und ortsspezifisches Phänomen. Armutsbekämpfungs-politik muss nach Auffassung des Beirats zum Ziel haben, die Chancen armer Menschen und Gruppen in Entwicklungs ländern zu verbessern. Dazu ist es insbesondere notwendig, die Wechselwirkungen zwi-schen Armut und Veränderungen der natürlichen Umwelt zu betrachten.

Kasten 3.1-1

Was sind Entwicklungs- und Schwellenländer?

Welche Länder zu den Entwicklungsländern zählen, ist nicht einheitlich definiert. Im Allgemeinen versteht man darunter Länder, deren Lebensstandard hinter den Län-dern Europas (ohne Osteuropa), Nordamerikas und Oze-aniens (Australien, Neuseeland, Japan) zurückgeblieben ist. Auf der Basis des Pro-Kopf-Einkommens klassifiziert die Weltbank Volkswirtschaften als Länder mit niedrigem Einkommen (≤765 US-$2003), Länder mit niedrigerem mitt-leren Einkommen (766–3.035 US-$2003), Länder mit höhe-rem mittleren Einkommen (3.036–9.385 US-$2003) und Län-der mit hohem Einkommen (9.386 US-$2003). Nach UNDP und OECD werden 137 Länder mit niedrigem und mittle-rem Einkommen als Entwicklungsländer bezeichnet.

Eine Untergruppe bilden die am wenigsten entwickelten Länder ( least developed countries – LDCs), deren Anzahl seit 1971 von 24 auf 49 gestiegen ist; sie weisen neben einem geringen Bruttoinlands produkt einen geringen

Lebensstan-dard, große ökonomische Vulnerabilität und eine Bevölke-rung von höchstens 75 Mio. Einwohnern aus.

Als Schwellenländer werden seit Mitte der 1970er Jahre Entwicklungsländer bezeichnet, die einen erfolgreichen Prozess nachholender industrieller Entwicklung durchlau-fen, also an der Schwelle zum Industrieland stehen (von daher auch Newly Industrializing Economies oder Coun-tries genannt). Die sozialen Entwicklungs indikatoren, wie die Alphabetisierungs rate, Säuglingssterblichkeit, Lebens erwartung oder Entwicklung einer Zivil gesellschaft, können dabei stark den wirtschaftlichen Indikatoren hin-terherhinken. Je nach Definition werden zur Gruppe der Schwellenländer unterschiedliche und unterschiedlich viele Länder gezählt. Zur Kerngruppe gehören heute Südafrika, Brasilien, Chile, Malaysia und Thailand. Auch die Küstenre-gionen Chinas, das insgesamt zu den Entwicklungsländern zählt, sind den Schwellenländern zuzurechnen. Wegen der enormen Größe Chinas wird das Land in Statistiken häu-fig separat ausgewiesen, um Durchschnittsangaben nicht zu verzerren.

Quellen: World Bank, 2004a; Hemmer, 2002; OECD DAC, 2003; UNDP, 2003c; UN OHRLLS, 2004; Nohlen, 2002

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3.1.2

Vulnerabilität der Armen gegenüber Umweltveränderungen

Arme in Entwicklungsländern sind durch Umwelt-veränderungen besonders betroffen, weil sie existen-ziellen Risiken (Krankheit, Hunger, Einkommens-ausfall usw.) stärker ausgesetzt sind und daher über nur schwach ausgeprägte Bewältigungs- und

Anpas-sungsfähigkeiten verfügen. Um die Verwundbarkeit der Armen gegenüber Umweltveränderungen min-dern zu können, müssen zunächst die Faktoren und Strukturen verstanden werden, die Vulnerabilität verursachen, verstetigen und damit der Suche nach menschlicher Sicherheit im Wege stehen. Dazu müs-sen interne Faktoren (z. B. Sozialstruktur, Landnut-zung) und externe Faktoren (z. B. Einbindung eines Landes in die Weltwirtschaft, Einfluss des globalen

31 Konzeptionelle Grundlagen der Analyse 3.1

Kasten 3.1-2

Beispiele für besonders verwundbare Gruppen Kinder, ältere Menschen, Frauen, die Land bevölkerung, indigene Gemeinschaften usw. verfügen oft in geringerem Maß über politische und bürgerliche Rechte sowie über den Zugang zu Einkommen, Gesundheitsversorgung, Ernäh-rung oder Bildung als andere gesellschaftliche Gemein-schaften und sind damit unmittelbarer von Umweltkrisen betroffen.

Benachteiligung von Frauen

Frauen und Mädchen sind in besonderer Weise physi-scher und psychiphysi-scher Gewalt ausgesetzt, weisen geringere Alphabetisierungs- und Einschulungsquoten auf und sind in politischen Entscheidungs gremien meist unterreprä-sentiert. Sie nehmen damit kaum Einfluss auf die Gestal-tung gesellschaft licher Veränderungen. Bestehende Rege-lungen im Erb-, Familien- und Bodenrecht verhindern oft die ökonomische Autonomie und Vermögensbildung in den Händen von Frauen. Dies hat zur Konsequenz, dass sehr viele Frauen in ökonomisch ungesicherten Verhältnissen leben. Ca. 70% der in Einkommens armut lebenden Men-schen sind Frauen. Zum Bestreiten des Familien unterhalts sind Frauen meist auf natürliche Ressourcen wie Wasser oder Feuerholz angewiesen, deren Verknappung für die Frauen einen erhöhten Zeit- und Kraftaufwand bedingt.

Frauen sind deshalb von Umwelt veränderungen besonders betroffen. Aus dem Sen‘schen Ansatz folgt die Notwendig-keit, die Rolle der Frauen durch Bildung, Schaffung von Erwerbs möglichkeiten und die Gewähr leistung von Eigen-tumsrechten zu stärken (empowerment). Dadurch sollen ihre Fähig keiten gestärkt und die Schlüssel rolle berück-sichtigt werden, die ihnen bei der Bewältigung zentraler Entwicklungs probleme wie der Kinder sterblichkeit oder des Bevölkerungs wachstums zukommt.

Benachteiligung indigener Gemeinschaften Nach Schätzungen der UN leben weltweit rund 350 Mio.

indigene Menschen, 70% davon in Asien. Etwa 70 verschie-dene Staaten beherbergen indigene Völker. Die Identifika-tion und DefiniIdentifika-tion indigener Völker ist aber umstritten.

Noch heute erkennen zahlreiche Regierungen die Bezeich-nung indigene Völker nicht an, weil sich daraus ein Recht auf Selbst bestimmung ableiten lässt. Die Arbeitsgruppe der UN verwendet daher die Bezeichnung indigene Gemein-schaften. In allen Gesellschaften sind indigene Völker über Jahrhunderte marginalisiert und ausgeschlossen worden.

Deshalb gehören sie heute fast ausnahmslos zu den am meisten benachteiligten und verwundbaren Gruppen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist wesentlich niedriger als bei nicht indigenen Gruppen, die Analphabeten quoten liegen um ein Vielfaches höher, die Gesundheitsversorgung ist schlech-ter, die Arbeitslosigkeit ist höher. Fragt man Ureinwohner

selbst, so ist Armut eine Folge der Missachtung ihrer Rechte und Identitäten als eigenständige Völker. Große Teile der indigenen Bevölkerungsgruppen leben heute nicht mehr in traditionellen Strukturen, sondern als Kleinbauern oder Tagelöhner an den Rändern der Städte. Die verbleiben-den, traditionell lebenden Ureinwohner zeichnen sich häu-fig durch eine sehr enge Verbindung ihrer Kultur mit der natürlichen Umwelt aus. Es besteht in der Regel eine aus-geprägte Verantwortung, das angestammte Land zum Nut-zen nachkommender Generationen zu erhalten. Das phy-sische und kulturelle Überleben dieser traditionell leben-den indigenen Völker hängt vom Schutz ihres Landes und ihrer natürlichen Ressourcen ab. Eine der Hauptforderun-gen indiHauptforderun-gener Interessens vertretunHauptforderun-gen ist daher auch der Zugang zu Land und natürlichen Ressourcen.

Benachteiligung von Menschen in ländlichen Gebieten

Im Durchschnitt hat die ländliche Bevölkerung ein nied-rigeres Einkommen, einen schlechteren Bildungs- und Gesundheitszustand wie auch einen schlechteren Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen als die Men-schen in der Stadt. Armut in der Stadt ist häufig charak-terisiert durch Arbeitslosigkeit, Beschäftigung im infor-mellen Sektor, Leben in Slums, hohe Bevölkerungsdichte, Gesundheits probleme durch Luftverschmutzung, kontami-niertes Wasser, giftigen Abfall sowie den Verlust informel-ler soziainformel-ler Sicherungs systeme. Dagegen drückt sich Armut auf dem Land meist durch fehlenden Landbesitz, semi-feu-dale Verhältnisse, Dominanz des Agrarsektors, Subsistenz-wirtschaft und mangelnden Zugang zu sozialen Diensten aus. Viele Landlose sind gezwungen, sich auf marginalen Böden ihr Auskommen zu sichern. In ländlichen Gebie-ten sind Kleinbauern, Landlose, Indigene, Flüchtlinge, Frauen und Nomaden am stärksten bedroht. In den meis-ten Entwicklungs ländern existiert ein Stadt-Land-Gefälle, das in den vergangenen Jahrzehnten kaum und auch heute im Rahmen der Kreditvergabepolitik von IWF und Welt-bank nicht hinreichend berücksichtigt wird. Beispielsweise fließen nur sehr wenig Mittel in den Ausbau der finanziellen Infrastruktur auf dem Land. Durch fehlende Möglichkeiten der Mikrokreditaufnahme verringern sich die Chancen der ländlichen Bevölkerung, der Armut zu entkommen (Kap.

5.6). Diese Gründe führten dazu, dass die Landflucht im 20.

Jahrhundert stark ausgeprägt war. Dieser Urbanisierungs-trend wird sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen:

Die Weltbank prognostiziert, dass 4 Mrd. der 7 Mrd. Men-schen in Entwicklungs- und Transformationsländern im Jahr 2030 in städtischen Gebieten leben werden, 2050 wer-den es 5–6 Mrd. von 8 Mrd. Menschen sein.

Quellen: Engelhard und Otto, 2001; OECD, 2002b; Sen, 1981, 1999; UN, 2001a; Psacharopoulos und Patrinos, 1994;

Feiring, 2003; IFAD, 2001; Ekbom und Bojö, 1999; World Bank, 2003d

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Klimawandels) berücksichtigt werden. Die dahinter stehende Leitfrage lautet: Was macht ein Individuum oder eine soziale Gruppe besonders verwundbar?

Während herkömmliche Armutskonzepte auf das Niveau des Einkommens oder Konsums abhe-ben und erweiterte Armutskonzepte die Fähigkei-ten bzw. MöglichkeiFähigkei-ten von Menschen in den Vor-dergrund stellen (Drèze und Sen, 1989), konzen-trieren sich Verwundbar keits konzepte auf den exis tenz bedrohenden Verlust von Faktoren wie Ein-kommen oder Handlungs- und Verfügungsrech-ten. Mit Vulnerabilitäts konzepten wird der Unter-suchungsgegenstand Armut zerlegt und unter dem Blickwinkel der Prozesse, Mechanismen und sich ändernder Handlungsspielräume betrachtet, die eine nachhaltige Überlebens sicherung heute oder künf-tig gefährden. Daher eignen sie sich besonders zur Untersuchung der Wirkung heutiger und prognos-tizierter Umwelt veränderungen auf die Lage der Armen.

Die Verwundbarkeitsforschung hat sich seit den späten 1980er Jahren aus der Katastrophen forschung und der Forschung zur Ernährungssicherheit entwi-ckelt und gewinnt seit dem Ende der 1990er Jahre auch in Untersuchungen zum Globalen Wandel an Bedeu-tung. Über Forschungsnetzwerke wie das

Internatio-nal Human Dimension Programme of Global Envi-ronmental Change (IHDP) hinaus hat das Konzept auch in politikberatende Institutionen wie den IPCC Einzug gehalten und wurde zudem von den Verein-ten Nationen aufgegriffen (Bohle, 2001; IPCC, 2001b;

Kasperson und Kasperson, 2001b). Vor allem UNEP, FAO, die International Decade for Natural Desas-ter Reduction (IDNDR, jetzt ISDR) sowie der aktu-elle Bericht „World Social Situation 2003“ an die UN-Vollversammlung greifen Ansätze der Vulnera-bilitätsforschung auf oder stellen sie in den Mittel-punkt ihrer Betrachtungen (UNGA, 2003). Schließ-lich operiert auch die Weltbank in jüngster Zeit mit diesem Konzept. Das Vulnerabilitätskonzept wird von den durchführenden Organisationen verstärkt wahrgenommen, weil es einen Rahmen zur Entwick-lung von Politikoptionen bietet. Im Folgenden wer-den zunächst die wichtigsten Denkrichtungen der Vulnerabilitätsforschung dargestellt und daraus das vom WBGU entwickelte integrative Analysekonzept für Vulnerabilitätsabschätzungen abgeleitet. In Kapi-tel 3.5 wird dieses Analysekonzept schließlich ange-wandt.

Kasten 3.1-3

Mehrdimensionale Armut messen – der Index für menschliche Entwicklung und menschliche Armut

Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen ( UNDP) hat das erweiterte Armutsverständnis von Sen aufgegriffen: „Armut ist der Raub der wichtigsten Lebens-grundlagen. Diese beinhalten ein langes und gesundes Leben, eine angemessene materielle Versorgung und die Partizipation am gesellschaftlichen Leben“. Da Einzelindi-katoren diesem Ansatz nicht gerecht werden, hat das Pro-gramm 1990 einen aggregierten Indikator eingeführt – den Index der menschlichen Entwicklung (HDI). Bei diesem Index werden die drei Dimensionen Gesundheit, Bildung und Lebensstandard durch die Lebenserwartung bei der Geburt, durch die Alphabetisierungs- und

Einschulungs-quote sowie durch ein gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen operationalisiert.

Während der HDI die Gesamtfortschritte bei der menschlichen Entwicklung eines Landes messen soll, spie-gelt der 1997 eingeführte Index für menschliche Armut (HPI) wider, wie sich diese Fortschritte verteilen, und misst den Anteil der Menschen, die nicht an der Entwicklung teilhaben. Die Konstruktion des HPI ähnelt der des HDI (Tab. 3.1-1).

HDI und HPI haben den Vorteil, dass sie Mangeler-scheinungen und Fortschritte abbilden können, die nicht monetär fassbar sind. Zu kritisieren ist aber der hohe Aggregations grad der Indikatoren sowie das Problem, dass Schwächen bei einer Dimension durch Stärken einer ande-ren Dimension kompensiert werden können. Für diese Dif-ferenzierung fehlt zur Zeit noch die konzeptionelle Grund-lage. Schließlich werden wichtige Dimensionen, wie etwa politische Freiheit, Unsicherheit und Ausgrenzung, nicht berücksichtigt.

Quellen: UNDP, 1997; Kanbur, 2002; Ravaillon, 2003

Index Lebensdauer Wissen Lebensstandard

HDI Lebenserwartung bei der Geburt

Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen und Einschulungsquote

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (US-$-Kaufkraftkapazität) HPI Wahrscheinlichkeit

zum Zeitpunkt der Geburt, keine 40 Jahre alt zu werden

Analphabetenrate bei Erwachsenen

Mangelhafte Versorgung, gemessen am Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu sauberem Wasser sowie am Anteil der untergewichtigen Kinder unter 5 Jahre

Tabelle 3.1-1

Zusammensetzung von HDI und HPI.

Quelle: UNDP, 2003c

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3.1.2.1

Ansätze in der Vulnerabilitätsforschung

Die konzeptionellen Vorstellungen von Vulnerabili-tät sind in diesem noch jungen und zahlreiche Dis-ziplinen umfassenden Forschungsfeld sehr vielfäl-tig (Kap. 3.1.2.2, 3.1.3.3). Eine gemeinsame, diszipli-nenübergreifende Sprache zu entwickeln, stellt eine große Herausforderung dar. Die in diesem Gutach-ten vorgestellte Vulnerabilitätsanalyse des WBGU (Kap. 3.5) ist daher nur eine von zahlreichen mög-lichen methodischen Näherungen zur Untersuchung des Armut-Umwelt-Nexus. Dies verdeutlicht der fol-gende Überblick über die wichtigsten Forschungs-ansätze. Dabei wird gezeigt, dass die Vulnerabilitäts-forschung stärker als andere Forschungsfelder durch heterogene Ansätze, datentechnische Probleme und unzureichende Methoden und Modelle geprägt ist (Corell et al., 2001). Bisher gelang es nur unzu-reichend, die auf verschiedenen räumlichen Skalen (lokal, regional, global) wirksamen Faktoren für Vul-nerabilität mit ihren systemaren (wie Ökosystem-schäden, Beeinträchtigungen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems) und sozialgruppenspezifi-schen Wirkungen (wie Beeinträchtigung von Hand-lungsspielräumen, Verarmung, Existenzkrise, Tod) in einem integrativen Konzept zu vereinen. Der WBGU behandelt diese beiden Wirkungsseiten in den Kapi-teln 3.2 (Dimensionen der Armut) und 3.3 (Umwelt-veränderungen).

Auf einem vom Stockholm Environment Institute 2001 veranstalteten Workshop wurde versucht, ein integratives Konzept zur Analyse von Verwundbar-keit zu skizzieren (Kasperson und Kasperson, 2001a).

Dabei hat sich der Blick der Forschung von der Kon-zentration auf ein singuläres Stressereignis auf die Analyse eines ganzen Bündels von Beeinträchtigun-gen und Stressfaktoren ausgeweitet. Umwelt und gesellschaftliche Faktoren spielen dabei gleicher-maßen eine Rolle, das System Mensch/Umwelt wird über verschiedene Systemebenen und Akteursgrup-pen hinweg als Ganzes betrachtet. Abbildung 3.1-1 zeigt wesentliche Elemente dieses Ansatzes einer integrierten Vulnerabilitätsforschung (Kasperson und Kasperson, 2001b).

Für die Zielsetzung des vorliegenden Gutachtens ist die Unterscheidung zwischen sozialer und bio-physikalischer Vulnerabilität sinnvoll (Brooks und Adger, 2003). Während der Ansatz der biophysikali-schen Vulnerabilität im Wesentlichen der Sichtweise der Natur katastrophen forschung entspricht und sich insbesondere mit Systemanfälligkeiten und -risiken – etwa daraus drohenden Ökosystemschäden oder wirtschaftlichen Schäden – befasst, beschäftigt sich das Forschungsfeld der sozialen Vulnerabilität mit der Anfälligkeit von Menschen und ihren Überle-bensbedingungen innerhalb eines sozialen Systems.

3.1.2.2

Biophysikalische Vulnerabilität

Bei der biophysikalischen Vulnerabilität (Brooks und Adger, 2003) geht es vorwiegend um die Ver-wundbarkeit von Systemen, wobei teilweise in sol-chen Studien auch krisenanfällige Regionen und

Bei der biophysikalischen Vulnerabilität (Brooks und Adger, 2003) geht es vorwiegend um die Ver-wundbarkeit von Systemen, wobei teilweise in sol-chen Studien auch krisenanfällige Regionen und

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