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Tunesien: Mühsame, aber erfolgreiche Politik gegen regionale und soziale Disparitäten

Sigrid Faath

Le processus du développement intégral que nous avons adopté tout au long des vingt dernières années, a fait de l’interdépendance et de la complémentarité des volets

économique et sociale du développement.

Präsident Ben Ali, 7.11.2007

1. Regionale und soziale Disparitäten in Tunesien: Der Ist-Zustand

Die tunesische Republik ist mit 164.000 qkmder kleinsteStaat in Nordafrika und ist geo-graphisch stark mediterran geprägt, auch wenn im dünnbesiedelten Süden saharisches Klima vorherrscht und wegen der Konzentration der Bevölkerung und der Wirtschaftsak-tivitäten in der Küstenzone ein Gefälle zu den Gouvernoraten im Landesinnern entlang der algerischen Grenze besteht. Dennoch sind die regionalen Disparitäten in Tunesien von Natur aus weniger stark ausgebildet als in den anderen nordafrikanischen Staaten.

Dies gilt ebenfalls für die sozialen Disparitäten, die nicht zuletzt wegen einer konsequen-ten und auf Inklusion bzw. soziale Kohäsion angelegkonsequen-ten staatlichen Entwicklungspolitik sowohl unter Staatspräsident Habib Bourguiba (1956-1987) als auch dem seither amtierenden Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali kontinuierlich abgebaut und gemildert wurden.

1.1. Regionale und soziale Disparitäten und Zonen mit Entwicklungsdefiziten

Die regionalen Disparitäten in Tunesien sind eng mit der Bevölkerungsentwicklung sowie der unterschiedlichen Dynamik in den verschiedenen Wirtschaftszonen des Landes kor-reliert. Auch wenn in Tunesien durch eine restriktive Familienplanungspolitik das Bevöl-kerungswachstum stark gebremst wurde (Wachstumsrate 2007 unter 1 %), so hat sich die Gesamtbevölkerung von 3,5 Mio. Einwohner 1950 über 4,2 Mio. 1960, 5,1 Mio. 1970, 6,4 Mio. 1980, 8,0 Mio. 1990 (davon 37 % unter 15 Jahren) auf 10,23 Mio. 2008 erhöht

und wird im Jahre 2025 voraussichtlich 11,6 Mio. Einwohner betragen (2035: 12,7 Mio., davon dann aber nur noch 18 % unter 15 Jahren).1 Mit diesem Bevölkerungsanstieg war eine kontinuierliche Binnenmigration aus den Gebieten im Landesinnern in die urbanen Zonen an der Küste2 verbunden, so dass nicht nur die Städte in der Küstenzone/dem Lito-ral deutlich anwuchsen und sich das relative Entwicklungsgefälle zum Landesinnern ver-schärfte,3 sondern sich auch die Urbanisierungsrate drastisch nach oben entwickelte und von 33 % zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1956 (1966: 40,1; 1975: 47,9; 1984: 52,8;

1994: 59,8) auf 64,9 % im Jahr 2004 anstieg.4

So deutlich sich in den letzten Jahrzehnten der Urbanisierungsprozess vollzogen hat, so deutlich hat sich aber auch das hierarchische und geographische Ungleichgewicht in-nerhalb des urbanen Designs Tunesiens verfestigt.5 Der Großraum Tunis (Grand Tunis) ist nicht nur mit gegenwärtig rund 2,3 Mio. Einwohnern (= rund 35 % der gesamten städ-tischen Bevölkerung Tunesiens) das traditionelle demographische Zentrum Tunesiens, sondern zudem das dominante Wirtschaftszentrum des Landes und die Region mit der höchsten Infrastrukturdichte. Erst mit großem Abstand folgen eine Reihe von weiteren Groß- und mittleren Städten. Zu den Großstädten mit einer Einwohnerzahl von mehr als 100.000 zählen Sfax, die zweitgrößte Stadt des Landes mit 350.000 Einwohnern, das na-hezu gleichgroße touristische Zentrum Sousse sowie die Städte Bizerte, Kairouan und Gabès mit Einwohnerzahlen um 150.000. Zu den etwa ein Dutzend mittleren Städten mit

1 Vgl. zur Bevölkerungsentwicklung www.eds-destatis.de/de/downloads/sif/dn_05_04.pdf.

2 Diese Städte bilden – vom Großraum Tunis im Norden über die urbanen Zonen Na-beul/Hammamet, Sousse/Monastir/Mahdia und Sfax bis in den Süden nach Gabès – die soge-nannte litorale Achse („axe littoral“); der massive Urbanisierungsprozess der Küstenzone wird von Geographen wie Pierre Signoles als „exemplarischer Fall einer Küstenzonenentwicklung“

(„un cas exemplaire de littoralisation“) bewertet; vgl. Signoles, Pierre: La Tunisie, pionnière et fragile, in: Troin, Jean-François (Hrsg.): Le Grand Maghreb, Paris 2006, S. 181-210. Derzeit leben im Litoral knapp die Hälfte aller Tunesier: etwa 23 % in der Metropolregion Groß-Tunis und weitere 23 % in der Küstenzone Sousse-Monastir-Sfax.

3 Am sichtbarsten ist dieser Prozess in der Hauptstadt Tunis, deren Einwohnerzahl von 560.000 (1956) über 1,1 Mio. (1984) auf derzeit über 2,25 Mio. Einwohner anstieg; generell hat sich die Anzahl von Städten (Orte mit über 10.000 Einwohnern) von 79 (1960), 138 (1975) und 257 (1994) auf gegenwärtig 264 erhöht; vgl. Troin (2006), a.a.O. (Anm. 2), S. 76 ff. (Transitions urbaine ou la montée irrépressible des nouveaux citadins); vgl. auch Chabbi, Morched:

L’urbanisation en Tunisie, transformations et tendances, in: Boumaza, Nadir (u.a.): Villes ré-elles, villes projetées. Villes maghrébines en fabrication, Paris 2005, S.219-245.

4 Dies ist nach Libyen (2005: 86 %) die höchste Urbanisierungsrate in Nordafrika. Die im Zusammenhang mit der Urbanisierung in Tunesien auftretenden Disparitäten hinsichtlich der Raumverteilung der Bevölkerung zeigt im Detail die Tabelle im Anhang.

5 Vgl. zu Details und erläuternden Karten Signoles (2006), a.a.O. (Anm. 2) und Belhedi, Amor:

Le système urbain tunisien. Analyse hiérarchique démo-fonctionelle sur la base de la rang-taille, 2004, unter: www.cybergeo.-eu/index3877.html.

Kapitel VI : Tunesien 165 Einwohnerzahlen zwischen 50.000 und 100.000 zählen die sieben Gouvernoratshaupt-städte Béja, Kasserine, Gafsa, Tataouine, Médenine sowie die an der Küste gelegenen Städte Nabeul und Monastir; hinzu kommen die großen Touristenzentren Hammamet und Houmt Souk, der Industriestandort Moknine/Ksar Hlal oder Städte im Umfeld der Metro-polregion Tunis wie Msaken. Ein besonderes Wachstum erfuhren allerdings in den letzten Jahrzehnten die rund 130 kleinen Städte, deren Mehrzahl heute eine Bevölkerungsgröße zwischen 15.000 und 30.000 Einwohnern aufweist; der größte Teil dieser Städte mit einem rasanten Bevölkerungswachstum und allen negativen stadtplanerischen Konse-quenzen findet sich im westlichen und südlichen Tunesien, wo sie Zielort der lokalen Landflucht waren, sowie im Umfeld der Großstädte, in erster Linie natürlich Tunis, aber auch Sfax, Sousse, Monastir und Gabès.

Das Phänomen der Landflucht/Binnenmigration als Folge unterschiedlicher räumli-cher Entwicklungsstadien in Bezug auf landwirtschaftliche, industrielle und dienstleis-tungsbezogene Wirtschaftsaktivitäten ist ein Indiz dafür, dass die Lebensbedingungen bzw. die menschliche Entwicklung in Tunesien territorial nicht homogen sind, sondern Disparitäten aufweisen, die bei einem Vergleich der fünf großen Wirtschaftszonen des Landes deutlich werden. Dies gilt sowohl für einzelne sektorale Entwicklungen (Bildung;

Gesundheit; Kommunikation usw.) als auch die Einkommens- und Beschäftigungslage.

Angesichts eines immer noch hohen Anteils von Jugendlichen/jungen Erwachsenen an der Gesamtgesellschaft (2004: 27 % unter 15 Jahren) stellt die Schaffung von Arbeits-plätzen für junge Erwachsene insbesondere in den inneren Landesteilen und für Absol-venten universitärer Studiengänge eine noch längerfristig große Herausforderung dar.

Angesichts dieser Faktenlage beurteilt die tunesische Regierung das Erreichen der Millenniumsziele selbstkritisch; im entsprechenden nationalen Bericht von 2004 stellt die Regierung größere Disparitäten zwischen dem ruralen Westen (besonders die Gouverno-rate Gafsa, Kasserine, Sidi Bouzid, Kairouan und Siliana) und dem urbanisierten Osten Tunesiens fest.6 Faktisch liegen z.B. die Konsumausgaben pro Person in der Entwicklungszone Zentrum-Ost mit 2.084 TD (2005) doppelt so hoch wie in den Nach-bargouvernoraten der Zone Zentrum-West mit 1.138 TD (vgl. Tabelle im Anhang).

Die innertunesischen Disparitäten werden folglich nicht verschwiegen, sondern intern und gegenüber internationalen Entwicklungsagenturen wie z.B. der UNDP thematisiert.

Verschiedene Studien, u.a. des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung, des

6 Die UNDP will sich deshalb in ihrem Programm 2007-2011 dieser Gouvernorate gleichfalls besonders annehmen; vgl. UNDP: Régionalisation des Objectifs du millénaire pour le dévelop-pement en Tunisie; unter: www.tn.undp.org/Fiche%20projet%20-%20R%E9gionalisation%20 des%20OMD.pdf.

teriums für Soziales und nationale Solidarität oder des Office Nationale de la Famille et de la Population,7 haben auf der Basis wenngleich unterschiedlich erhobener statistischer Daten ein Profil erstellt, das diejenigen lokalen Verwaltungseinheiten8 aufzeigt, in denen die Armutsraten am höchsten bzw. die menschlichen Entwicklungsindikatoren unter dem nationalen Durchschnittswert liegen.

Diese defizitären Verwaltungseinheiten gelten als „Schattenzonen“ („zones d’ombre“) und sind jene Gebiete, denen im Rahmen der staatlichen Regionalentwicklung hohe Prio-rität zukommt. Infolgedessen werden sie mit unterschiedlichen Instrumenten besonders gefördert, sei es durch eingeräumte privilegierte Konditionen für produktive Investitionen oder zusätzliche Haushaltsmittel. Im offiziellen Sprachgebrauch werden sie als „prioritäre Delegationen“ („délégations prioritaires“)9 bezeichnet. Insgesamt gibt es derzeit neun Gouvernorate, deren Delegationen in toto als prioritäre Delegationen eingestuft sind;

diese Gouvernorate befinden sich ausschließlich im gebirgigen und ariden West- bzw.

Südtunesien (vgl. Tabelle, s.u.). Daneben gibt es weitere neun Gouvernorate, in denen nur ein Teil der Delegationen als prioritär eingestuft ist; die meisten dieser Delegationen liegen gleichfalls in Gouvernoraten in West- und Südtunesien. Es gibt aber auch – in der

7 Vgl. die ausführliche ONFP-Studie La stratégie de lutte contre la pauvreté en Tunisie von 2006, wo auf der Basis statistischer Erhebungen die Entwicklung der Armutsraten für die un-terschiedlichen Regionen Tunesiens (für die Jahre 1990 bzw. 2000) erhoben wurden; die städ-tischen und ländlichen Regionen mit der höchsten Armutsrate liegen im Landesinnern (vgl. be-sonders die Tabellen S. 59 und 60); allerdings hat sich in der Region Nord-West in der ge-nannten Dekade die Lage deutlich verbessert im Unterschied zu den Regionen Zentrum-West und Süden.

8 Die ausgewiesenen Verwaltungseinheiten sind die Delegationen (Délégations; arab.

Mu’tamadiyat), also die Teilbezirke der Gouvernorate (Wilaya); jedes der 24 Gouvernorate (Karte und Beschreibung der einzelnen Gouvernorate unter: www.tunisieindustrie.nat.tn/

fr/doc.asp?mcat=12&mrub=105&msrub=205&dev=true) besteht aus einer entsprechend den geographischen Gegebenheiten variierenden Anzahl von Delegationen (durchschnittlich 11);

insgesamt ist Tunesien in 262 geographisch unterschiedlich große Delegationen aufgeteilt (vgl.

Liste unter: www.statoids.com/ytn.html), die wiederum städtische und ländliche Gemeinden bilden und insgesamt 2.073 Verwaltungssektoren („Secteurs“) umfassen; an der Spitze der ge-nannten Verwaltungseinheiten stehen der Gouverneur (Ernennung durch den Staatspräsiden-ten), der Delegierte („Le Délégué“, ernannt vom Minister für Inneres und lokale Entwicklung) sowie der Sektionschef („Chef de Secteur“/„Omda“; ernannt durch den Gouverneur); zu den Details der Verwaltungsstruktur vgl. GoldMaghreb/PNUD: Structure administrative décentrali-sée en Tunisie, unter: www.tn.undp.org/decoupage%20tunisie% 20fnl.pdf.

9 In Regierungspublikationen teilweise auch Zones prioritaires d’encouragement au développe-ment régional genannt; daneben gibt es noch vor allem im Litoral gelegene Zones d’encouragement au développement régional, die zwar auch einer gesonderten Förderung be-dürfen (dies geschieht primär über Investitionsanreize), aber längst nicht die Defizite der prio-ritären Delegationen aufweisen; vgl. die Liste der erstmals mit Dekret Nr. 99-483 vom 1.3.1999 (zuletzt modifiziert im Februar 2008) festgelegten Förderzonen im Litoral unter:

www.tunisieindustrie.nat.tn/guide/doc.asp?mcat=29&mrub=289.

Kapitel VI : Tunesien 167 Regel durch Binnenmigration verursachte – „Schattenzonen“ im Umfeld von Küsten-städten wie Sfax, Sousse oder Bizerte. Als besonders gefährdet kann hier das verdichtete Umfeld von Sfax gelten; Sfax ist aufgrund seiner Größe und Wirtschaftskraft ein bedeu-tender Pol innertunesischer Migration (Attraktionspol für ganz Südtunesien). In den letz-ten Jahren sind die Etappensiedlungen um die Stadt schnell gewachsen. In diesen Sied-lungen herrschen – so die Vorwürfe von Oppositionspolitikern – „Korruption und Ge-walt“, die Infrastruktur sei defizitär, es gäbe eine kulturelle Leere und die Bevölkerung komme sich angesichts der Indifferenz der Behörden marginalisiert vor.10

Tabelle: Die „Zones d’ombre“ – die prioritären Delegationen

Quelle: Ministère de l’Emploi et de l’Insertion Professionnelle des Jeunes, ANETI: Guide de la création des projets, o.J. (2007), S. 31.

Governorat Delegationen

Kairouan El Ala, Hajeb El Ayoun, Chbika,

Sbikha, Hafouz, Nasr Allah, Oueslatia, Bouhajla, Chrarda.

Béja Nefza, Amdoun, Testour, Téboursouk, Gbellat, Tibar.

Zaghouan Ezzriba, Ennadhour, Saouaf

Gabès Matmata, Nouvelle Matmata, El Hamma, Menzel El Habib.

Sfax Ghraiba, El Amra, Agareb, Jbéniana, Bir Ali Ben Khalifa, Esskhira, El Hancha, Kerkennah Mahdia Aouled Chamekh, Hbira, Souassi, Chorbène.

Bizerte Joumine, Sejnène, El Ghazala.

Médenine Médenine Nord, Médenine Sud, Sidi Makhlouf, Ben Guerdane, Beni Khadache.

Sousse Sidi El Hani

Eine Folge des sowohl im innermaghrebinischen wie gesamtafrikanisch geringen, aber dennoch existenten innertunesischen Land-Stadt-Gefälles bei Haushaltseinkommen, Ar-beitsplatzbeschaffungsmaßnahmen, staatlichen Dienstleistungen im Bildung- und Ge-sundheitswesen usw. waren neben der klassischen Binnenwanderung in reichere Lan-desteile in Ausnahmefällen auch soziale Proteste.11 Im Unterschied zu den landesweiten

10 So Abdelkader Zitouni, der nationale Koordinator der Partei Tunisie Verte (Partei der „Grü-nen“) in einer Erklärung vom 30.10.2007 (Jebeniana, dégradation sociale et environnemen-tale).

11 Berichte wie in der Neuen Zürcher Zeitung (Ausgabe vom 21.10.2008: Soziale Unrast im Reich Ben Alis) sind damit irreführend; ein solcher Tenor passt eher zu den tunesischen

Oppo-Arbeiterunruhen von 1978 und den 1984 zu verzeichnenden städtischen Protesten gegen die damals erfolgte Erhöhung der Brotpreise sind die gegenwärtigen Proteste im süd-westlichen Gafsa punktuell und haben einen spezifisch lokalen Anlass als Auslöser; aller-dings begünstigte der Unmut über die gestiegenen Lebenshaltungskosten diese Entwick-lung.

1.2. Gafsa-Unruhen

Die Unruhen mit Schwerpunkt in einigen Gemeinden der Bergbauregion Gafsa (Zentrum der Unruhen war die Ortschaft Redeyef) sind eine Folge der Arbeitsmarktveränderungen in der Region, deren Hauptarbeitgeber die in Gafsa ansässige Phosphatgesellschaft ist;12 diese hat betriebsbedingt in den letzten Jahren rund 9.000 Arbeitsplätze abgebaut, ohne dass entsprechende Investitionen in neue Arbeitsplätze erfolgreich gewesen wären.13 Zu-dem hat sich das Nachfrageprofil für Arbeitsplätze als Folge der Bildungsanstrengungen modifiziert; heute fragen weitaus mehr Abiturienten und Absolventen höherer Bildungs-einrichtungen als früher vor Ort hochwertige Arbeitsplätze nach. Nach wenigen Neuein-stellungen durch die Phosphatgesellschaft Anfang 2008 kam es von Seiten jener, die nicht berücksichtigt wurden, zu mehrfachen Protestaktionen (Vorwurf der Korruption und Vetternwirtschaft; Kritik an der Arbeitsmarktlage; Forderung nach staatlichen Investitio-nen), die besonders ab Ende Mai 2008 eskalierten, als bei einer Demonstration im Nach-barort Métlaoui ein Demonstrant bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften ums Leben kam. Dies führte zu nachfolgenden Solidaritätsaktionen in anderen Kommu-nen; in diesem Sinne waren z.B. auch die Proteste von Jugendlichen in Feriana (24.000 Einwohner; Gouvernorat Kasserine) am 10. Juni 2008 eine solidarische Reaktion auf die Entwicklung in Teilen des Gouvernorats Gafsa; auch hier wurde gegen Arbeitslosigkeit, die Steigerung der Lebenshaltungskosten und Perspektivlosigkeit demonstriert.14

Präsident Ben Ali und die Regierung haben diese Proteste und die Entwicklung in Südwesttunesien sehr ernst genommen und Gegenmaßnahmen ergriffen; am 16. Juli 2008 kündigte der Staatspräsident Sofortmaßnahmen an15 und auf einer Sondertagung des

sitionsstimmen, die grundsätzlich der Regierung Ben Ali positiv wirkende Maßnahmen abspre-chen.

12 Die in der westlichen Presse zirkulierenden Behauptungen, allein die Jugendarbeitslosigkeit sei der Auslöser (vgl. z.B. AFP, 10.6.2008: Youth unemployment blamed for violent demonstrati-ons in Morocco, Tunisia), wird der komplexeren Lage nicht gerecht.

13 Vgl. Jeune Afrique, Paris, 15.6.2008 (Gafsa: Coup de grisou social).

14 Tunisia watch, 2.6.2008 (Journée d’émeutes à Feriana).

15 Vgl. Le Monde, Paris, 18.7.2008 (Le président Ben Ali annonce un plan en faveur de la région de Gafsa); die Stadt Gafsa soll noch im Rahmen des laufenden XI. Planes in den Rang eines

Kapitel VI : Tunesien 169 Ministerrates vor Ort (September 2008; s.u.) wurden weitere gezielte Fördermaßnahmen für das Gouvernorat Gafsa beschlossen.

2. Der solidarische Staat: der Wille zur homogenen menschlichen Entwicklung

Innerhalb der tunesischen Staatsführung hat es angesichts der – trotz allen Wirtschafts-wachstums und steigenden Steuereinnahmen – beschränkten Haushaltsmittel in den letz-ten Jahren eine inletz-tensive Diskussion über das Staatsziel im sozialen Bereich gegeben.

Das Ende des Konzeptes vom Versorgungsstaat („état-providence“), das wie in den ande-ren Maghrebstaaten in den 1970er/1980er Jahande-ren dominierte, wich dabei dem Konzept des solidarischen Staates („état des solidarités“), der auf vielfältige Weise in Politik und Wirtschaft interveniert mit dem Ziel, die verantwortliche Mitarbeit der sozialen Akteure zu fördern und den sozialen Konsens in der Gesellschaft (und damit auch eine ausgegli-chene menschliche Entwicklung im Gesamtstaat) zu stärken.16 Soziale Gerechtigkeit, ein Engagement zugunsten der sozialen Kohäsion und der Stärkung des sozialen Dialogs zwischen den Sozialpartnern Arbeitgeber/Arbeitnehmer/Staat sind Eckpunkte einer Sozialpolitik, die institutionell-administrative und staatshaushaltliche Konsequenzen hatte und an deren Konzeption über entsprechende Veranstaltungen indirekt auch die deutschen parteipolitischen Stiftungen mitgewirkt haben.

Die Idee der nationalen Solidarität (u.a. Gründung der Union Tunisienne de Solidarité Sociale) spielte bereits seit der Unabhängigkeit 1956 unter Präsident Bourguiba eine wichtige Rolle und wurde nach 1987 unter Präsident Ben Ali akzentuiert. Eine direkte Folge dieses Kurses war die Gründung des Fonds de Solidarité Nationale 26-26 bzw. des Fonds de l’Emploi 21-21 sowie der Banque Tunisienne de Solidarité durch Präsident Ben Ali 1993 (s.u.). Alle drei Einrichtungen bilden das „nationale Solidaritätssystem“17 Tune-siens. Aber auch die Ausrichtung der Entwicklungsanstrengungen an den Regionen, die von Staatspräsident Ben Ali als „ Herz des Entwicklungsprozesses“ bzw. als „aktive

zukünftigen Entwicklungspoles erhoben werden, was eine Reihe von Sonderentwicklungsmaß-nahmen bedingt; vgl. La Presse de Tunisie, Tunis, 17.7.2008 (Gafsa).

16 Vgl. Le Temps, Tunis, 5.5.2007 (Vers un « état des solidarités »).

17 Vgl. die staatliche Informationsbroschüre: Le système national de solidarité en Tunisie, Tunis 2005, 107 S.

Entwicklungspole“ eingestuft wurden,18 und die Aufwertung der Strategie der ländlichen Entwicklung sind Teil des in den Vordergrund gerückten Solidarkonzeptes.

Hierzu gehören auch die Bestrebungen, die administrative Präsenz landesweit zu ver-bessern. Aus diesem Grund wurden und werden im Rhythmus der Bevölkerungsent-wicklung die Verwaltungseinheiten angepasst; zuletzt ordnete der Staatspräsident im No-vember 2007 eine entsprechende Revision des Verwaltungszuschnitts an.19

Der mit diesen Maßnahmen angestrebte (und weitgehend erreichte) soziale Friede wird folglich von Parlamentariern anlässlich der jährlichen Haushaltsberatungen im No-vember zusammen mit der inneren Sicherheit als Hauptvoraussetzung für eine solide und nachhaltige Entwicklung angesehen.20

2.1. Staatsziel Regionalentwicklung 2.1.1. Konzeptionelles

Die Politik einer regionalen Entwicklungsförderung gehört im Prinzip seit der Unabhän-gigkeit Tunesiens zu jenen Bereichen, denen der Staat seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Im Unterschied zur Strategie der Entwicklungspole, mit der in den 1960er Jah-ren dieses Ziel erreicht werden sollte, wird seit den 1970er Jahre auf die Strategie einer staatlich gesteuerten regionalen Ausgleichspolitik unter Einbeziehung des Privatsektors gesetzt.

Das Staatsziel einer national gesteuerten Raumentwicklung zur Beseitigung regionaler Disparitäten wurde von Staatspräsident Ben Ali und der von ihm geführten Regierung nach dem Machtwechsel vom 7. November 1987 mit neuem Elan strategisch angegan-gen.21 Die Entscheidung, den Staat in den Dienst der Regionalentwicklung zu stellen, um-fasste neben der Integration des Regionalentwicklungszieles in einschlägige Gesetze (wie zuletzt 2007 dem Gesetz zur Wirtschaftsinitiative)22 und der entsprechenden Aufgabenzu-weisung an die thematisch betroffenen Ministerien (bei Steuerung durch den Präsidenten

18 La Presse de Tunisie, Tunis, 30.6.2008 (Le chef de l’état: Faire de la région un pôle actif de dé-veloppement).

19 Réalités, Tunis, 5.11.2007 (Révision du découpage administratif).

20 Vgl. La Presse de Tunisie, Tunis, 23.11.2007 (Chambre de députés: Le climat de sécurité et de paix sociale, un atout majeur pour un développement plus soutenu).

21 In offiziellen Publikationen heißt es hierzu, „le développement régional est considéré comme un axe fondamental de la politique de développement économique et social, et de ce fait un choix stratégique consolidé et intensifié depuis l’événement du 7 novembre 1987“ (Ministère du Développement et de la Coopération Internationale).

22 Loi Nr. 2007-69 du 27 décembre 2007 relative à l’initiative économique; dieses Gesetz, dem eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung von Chancengleichheit zukommt, betont in Art. 44 ff. die Förderung der Regionalentwicklung.

Kapitel VI : Tunesien 171 persönlich) die Gründung von spezifischen nationalen Einrichtungen und vier Regional-entwicklungsagenturen; hinzu kam die Berücksichtigung des Prinzips der sozialen Ge-rechtigkeit und der Regionalentwicklungsziele bei der Ausarbeitung der Entwicklungs-pläne (u.a. IX. Plan 1997-2001; X. Plan 2002-2006; XI. Plan 2007-2011).23 So hat der im September 1998 gegründete und für die Planvorgaben zuständige Conseil Supérieur du Développement (CSD; Höchste Rat für Entwicklung)24 unter Leitung des Premierminis-ters explizit auf seiner zentralen Koordinationssitzung am 3. Mai 2007 als Hauptachsen des laufenden XI. Entwicklungsplanes die „Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und die Stärkung der sozialen Kohärenz“ genannt.25 Die Regionen, denen zunehmend ein aktiver und auch partizipativer Part an der Entwicklung zugestanden wird,26 sind deshalb im XI. Plan weitaus mehr als früher jene Einheiten im Staate, denen die Aufgabe der Dy-namisierung des Entwicklungsprozesses obliegt: tunesische Analysten wie Ridha Lahmar sprechen deshalb davon, dass sich wegen der damit verbundenen Vorteile ein „Frühling der Regionalentwicklung am Horizont abzeichne“.27 Ziel ist es – so das Editorial der Tageszeitung La Presse de Tunisie vom 13. Juni 2008 – dass „sich jede Gemeinde, jede Region, jede Stadt und jedes Dorf um die Gründung von Unternehmen und die Schaffung

23 Vgl. die jeweiligen Kapitel (Les politiques sectorielle et sociale; La stratégie et les axes de

23 Vgl. die jeweiligen Kapitel (Les politiques sectorielle et sociale; La stratégie et les axes de