• Keine Ergebnisse gefunden

Aspekte der Sozial- und Regionalentwicklung in Nahost Hanspeter Mattes

1. Ausgangsbedingungen

Die soziale und regionale Entwicklung in den arabischen Staaten des Nahen Ostens ist nahezu täglich Gegenstand der Berichterstattung in der lokalen Presse; die Tatsache der häufigen Berichterstattung belegt, dass die Frage der sozialen und regionalen Entwick-lung als reales Problem wahrgenommen und ein hoher HandEntwick-lungsbedarf gesehen hin.

Dies gilt zum einen für soziale Aspekte, u.a. die Bekämpfung der Armut, die Bereitstel-lung von Arbeitsplätzen, die Stärkung der Rechte der Frauen, den Ausbau des Schulwe-sens oder die Förderung von Fortbildungsmaßnahmen, zum anderen für regionale Aspekte, wobei hier neben der Verringerung regionaler Disparitäten auch die Forderung einer Dezentralisierung – solange die Pressezensur dies zulässt – thematisiert wird.

Beide Bereiche zusammen sind bei Fehlentwicklungen in der Lage, die Stabilität eines Staates zu unterminieren, wobei Defizite der sozialen Entwicklung langsamer Hand-lungsdruck aufbauen als Defizite der regionalen Entwicklung, wenn es sich um eklatante regionale Disparitäten handelt und ethnische, tribale oder religiöse Faktoren mit ins Spiel kommen.1 Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Irak, wo die Bevölkerungsmehr-heit der schiitischen Araber und Kurden unter dem Regime des 2003 gestürzten Saddam Husains gegenüber den sunnitischen Arabern systematisch marginalisiert wurde, ist hier-für das offensichtlichste Beispiel. Aber auch die militanten Konflikte der letzten Jahre

- im Jemen: Aufstand der schiitischen Huthis im Norden des Landes; Widerstand der Südjemeniten gegen die Regierung in Sana’;

- im Libanon: Bürgerkrieg 1975-1991 wegen des verschobenen Proporzes zwischen Christen, Sunniten und Schiiten und der starren Verteilung der politischen Ämter;

1 Vgl. zum Kontext Bayat, Asef: Social movements, activism and social development in the Middle East, Genf: UNRISD 2000, 35 S. und Karshenas, Massoud/Valentine M. Moghadam (Hrsg.): Social policy in the Middle East. Economic, political, and gender dynamics, London 2005, 280 S.

seit 2005 insbesondere Auseinandersetzung zwischen schiitischer Hizbullah und der Staatsführung in Beirut;

- in Syrien: Demonstrationen von Kurden für mehr Rechte;

- in den Golfstaaten: Kampf von Hunderttausenden langansässiger „Bidun“ (Perso-nen ohne rechtmäßige Staatsangehörigkeit/bidun jinsiya)2 auch mit Hilfe internationaler Menschenrechtsorganisationen für ihre Rechte;

haben mit objektiver oder subjektiv empfundener Diskriminierung zu tun und zeigen die Virulenz des Problems. Eine Analyse der Situation in den Nahoststaaten hinsichtlich so-zialer und regionaler Fehlentwicklungen ist zugegebenermaßen problematisch; allgemein gültige Aussagen sind wegen der ausgeprägten sozioökonomische Heterogenität in den Nahoststaaten kaum zu formulieren. Im Nahen Osten finden sich

- sehr arme Staaten (wie Jemen, Palästina) neben den reichsten Staaten der Welt (wie Qatar oder die VAE),

- größere Flächenstaaten (wie Saudi-Arabien oder Jemen) neben Stadtstaaten (wie Dubai oder Kuwait) und

- ethnisch oder konfessionell relativ homogene Staaten (wie Oman) neben ethnisch und konfessionell ausdifferenzierten Staaten (wie Irak oder Libanon).

Staatenübergreifende Aussagen werden dadurch zwangsläufig erschwert; der Bedarf an Einzelfallanalysen ist folglich hoch.

2. Die Dimension der sozialen Entwicklung

Die soziale Entwicklung weist unter Zugrundelegung der Human Development Reports bzw. Arab Human Development Reports (und in Anbetracht eines weiterhin hohen Be-völkerungswachstums) in allen Staaten Defizite auf, allerdings gibt es zwischen den ein-zelnen Staaten teilweise gravierende Differenzen. Während z.B. die kleinen Golfstaaten sowie Saudi-Arabien dank ihrer (vor allem derzeitigen) finanziellen Überflusssituation zwar im Bereich der Armutsbekämpfung und der Sicherung der Kaufkraft durch entspre-chende Subventions- und Zulagensysteme deutliche Erfolge erzielt haben, haben auch sie im Bereich Bildung (hier insbesondere unter qualitativen und an der wirtschaftlichen

2 Vgl. zum Hintergrund Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 18.11.2008 (Schattendasein der Staatenlosen am Golf); dort findet sich der Hinweis auf Radikalisierungstendenzen („Neigung zu Rache und Gewalt“).

Aspekte der Sozial- und Regionalentwicklung in Nahost 197 darfsstruktur ausgerichteten Aspekten) und Arbeitsplatzbeschaffung (insbesondere für die jüngere Generation) noch große Defizite zu überwinden; dies wird gegenwärtig in unter-schiedlicher Form versucht, sei es im Rahmen des vom Herrscher Dubais, Shaikh Mu-hammad Ibn Rashid al-Maktum, im Februar 2007 lancierten Dubai Strategic Plan 2015, der die soziale Entwicklung durch Bildungsanstrengungen und die Schaffung von Ar-beitsplätzen voranbringen soll,3 sei es im Rahmen des von der Regierung Qatars 2008 verabschiedeten 100 Mio. $ teuren Youth Employment Scheme, eine auch „Silatech“ ge-nannte Initiative „to combat the problem of youth unemployment by connecting young people to business and employment“ und zugleich eine Investition in „die Sicherheit und Entwicklung unseres Landes“.4

In den finanzschwachen Staaten wie im Jemen, Jordanien oder Syrien sind zwar eben-falls Armutsbekämpfungsprogramme,5 Programme zur ländlichen Entwicklung und nationale Strategien zur Förderung der Jugend von den entsprechenden Ministerien für soziale Angelegenheiten, nationale Solidarität oder Jugend ausgearbeitet worden und ste-hen zur Umsetzung an, doch verhindern trotz der Gründung spezieller Fonds wie z.B.

dem Yemen Social Fund for Development oder dem Fund for Integrated Rural Develop-ment of Syria unzureichende Ressourcen und Budgetansätze, schwache Institutionen, mangelhafte Kompetenzregelungen und fehlende Kader eine zügige und effiziente Um-setzung, die zu einem nachhaltigen Erfolg führen könnte.

Ambivalent ist zudem die Frauenförderung als wesentlicher Bestandteil der sozialen Entwicklung; nicht nur dass zwischen den Nahoststaaten die rechtliche und gesellschaft-liche Stellung der Frauen stark divergiert,6 auch innerhalb einzelner Staaten gibt es irritie-rende Teilentwicklungen. Deutlich wird dies am Beispiel Saudi-Arabien (vgl. die fol-gende Länderstudie), wo einerseits die politische und wirtschaftliche Rolle der Frauen durch das konservative und religiös geprägte Weltbild stark eingeschränkt wird und für

3 Vgl. z.B. www.dubai.ae/en.portal?topic,hm_dxbstgplan,0,&_nfpb=true&_pageLabel=misc für Details zum Dubai Strategic Plan 2015.

4 Vgl. middle-east-online, 15.1.2008 (Qatar announces youth employment scheme).

5 Die Varianten sind von Land zu Land unterschiedlich; teilweise sind es zusätzliche Sonderpro-gramme (oftmals mit ausländischer Hilfe u.a. der UNDP), teilweise sind sie wie in Syrien (V.

Plan 2006-2010) Teil des laufenden Entwicklungsplanes; vgl. hierzu Syria. Rural poverty ap-proaches, policies and strategies, unter: www.ruralpovertyportal.org

6 Vgl. zu Details den Weltbank-Bericht: The status & progress of women in the Middle East &

North Africa, Washington D.C. 2007, 146 S., unter: http://siteresources.worldbank.org/

INTMENA/Resources/MENA_Gender_BW2007.pdf; im Bericht wird die Lage der Frauen in den Kategorien Ausbildung, Gesundheit, wirtschaftliche Partizipation, politische Partizipation und Frauenrechte bewertet; in den Golfstaaten und Saudi-Arabien sind schlechtere gesetzliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verzeichnen als im Libanon, Syrien oder Jorda-nien; im Irak ist noch offen, wohin die Entwicklung steuert.

Frauen nur rudimentär Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, andererseits der An-teil von Studentinnen im massiv expandierenden Hochschulwesen gegenwärtig bei knapp 50 % liegt; wenn dies keine Fehlallokation von Ressourcen sein soll, sind Reformen über-fällig – die sich aber nicht abzeichnen.7

Offensichtlich ist, dass in allen Nahoststaaten die jeweiligen Staatsführungen sich der Defizite in der sozialen Entwicklung (vorbehaltlich der Frauenfrage) durchaus bewusst sind und darauf institutionell und programmatisch reagieren. So sind in allen Staaten formal die betroffenen Ressortministerien (Ministerien für Arbeit; Jugend; soziale Ange-legenheiten und Solidarität usw.) oder neu geschaffene Sondereinrichtungen mit der Um-setzung sozialer Reformmaßnahmen beschäftigt; die Einbeziehung der betroffenen Be-völkerungsgruppen in Entscheidungsprozesse ist aber die Ausnahme. Es dominiert das hierarchisch strukturierte Modell, demzufolge die staatliche Zentralgewalt autonom über die Höhe des Mitteleinsatzes und seine inhaltliche bzw. räumliche Verteilung entscheidet.

3. Die Dimension der regionalen Entwicklung

Die gegenwärtig amtierenden Regierungen der Nahoststaaten haben – gemessen an ihren rhetorischen Verlautbarungen in Regierungserklärungen und Entwicklungsprogrammen – zwar alle erkannt, dass zu große regionale Disparitäten die innere Stabilität gefährden können. Dieses Bewusstsein über die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Minderung der regionalen Disparitäten hat jedoch nur in Ansätzen bewirkt, dass über die allgemein ausgerichteten Planungseinrichtungen (Planungsministerien oder Planungsräte) hinausge-hend entsprechinausge-hende Institutionen gegründet wurden wie z.B. Ministerien für Raumord-nung und gegebenenfalls spezifische Stadt- oder Regionalentwicklungsbehörden. Institu-tionen, die gezielt – in Kooperation mit den Ressortministerien für Infrastruktur, Trans-port usw. – Raumentwicklungspläne und regionale Förderprogramme aufstellen und um-setzen, um damit auch Binnenmigrationstendenzen, die zu unerwünschten Asymmetrien der Bevölkerungsverteilung führen, entgegenzuwirken, sind nicht die Regel. Als Beispiel für eine solche spezialisierte Institution ist das omanische Supreme Committee for Town Planning8 und die qatarische Urban Planning & Development Authority zu nennen. Zur

7 Vgl. middle-east-online, 19.11.2008 (Democracy in Saudi-Arabia: small step forward, big step backward).

8 Dieses Komitee ist eines der ältesten in den Nahoststaaten; es wurde bereits im Rahmen der Strategie zur Bildung spezialisierter Komitees von Sultan Qabus mit Dekret 27 von 1985 gegründet.

Aspekte der Sozial- und Regionalentwicklung in Nahost 199 Förderung der Regionalentwicklung und Anpassung der Maßnahmen an die spezifischen Erfordernisse der Regionen und ihrer Bevölkerung haben die Staatsführungen der Nah-oststaaten ihre Lokalverwaltungssysteme allerdings nicht soweit modifiziert, dass die Kontrolle ausübenden Zentralorgane Kompetenzen an die nachgeordneten Verwaltungs-einheiten (Regionen, Provinzen) delegiert hätten, um damit partizipative Strukturen zu stärken. Selbst in Fällen wie Jordanien, wo König Abdallah am 5. Oktober 2008 explizit die notwendige Partizipation der Bevölkerung in den Gouvernoraten und Lokalverwal-tungsgremien unterstrich und folglich das vom König eingesetzte Royal Committee of Regions das Prinzip Dezentralisierung in seinem Gesetzentwurf zu den Regionen vom November 2008 befürwortete („The objective of the proposal on regions as the king pointed out is to enhance administrative decentralisation and to expand the participation of the sons of governorates in shaping economic and developmental policies.“), gibt es massiven administrativen und parlamentarischen Widerstand, weil befürchtet wird, dass selbständigere Regionen die Einheit des Landes unterminieren.9

Im Bereich der regionalen Entwicklung dominieren in den Nahoststaaten länderspezi-fische Ansätze,10 die zwar auch im Einzelfall steuernde Komponenten aufweisen und den Anspruch von Regionalförderung erheben, allerdings nicht übertragbar sind. Insbeson-dere ist zwischen den territorial kleinen Golfstaaten (insbesonInsbeson-dere innerhalb der VAE), wo „Regionalplanung“ mit Stadtplanung identisch ist, und den Flächenstaaten zu unter-scheiden, wo die regionalen Disparitäten eine gänzlich andere Dimension haben. Trotz vereinzelten Masterplänen zur Landesentwicklung wie z.B. im Falle Qatars,11 wo die Urban Planning & Development Authority einen bis ins Jahr 2025 reichenden Plan erstellte, oder Abu Dhabi (Verabschiedung eines Abu Dhabi 2030 Urban Structure Fra-mework Plan) erscheint Regionalplanung im Nahen Osten als Summe von Einzelprojek-ten; ob der Ausbau des jordanischen Hafens Aqaba im Rahmen des seit 2006 umgesetz-ten Regional & Municipal Development Project, das vom omanischen Ministry of Regio-nal Municipalities 2005 gebilligte und derzeit umgesetzte 15 Mrd. $ teure Tourismus-, Gesundheits- und Bildungsprojekt al-Madina al-Zarqa-Project, die in Abu Dhabi im

9 Al-Arab al-yawm, 9.11.2008 nach BBC Global Monitoring (The draft law on regions jeopard-izes the country’s unity).

10 Ein Sonderfall ist der Irak, wo angesichts der politischen Umstände derzeit noch keine aktive Regionalpolitik erfolgt; dies gilt auch für den Libanon, wo nach den Schäden des Bürgerkriegs (1975-1991), des „Sommerkriegs“ mit Israel (2006) und der Verfassungskrise (2007/2008) das Ministerium für Inneres und Gemeinden sowie die entsprechenden Ressortministerien mit ein-zelnen ländlichen und städtischen Entwicklungsprojekten immer noch Nothilfe und Schadens-begrenzung betreiben und keine zentral geplante integrierte Landesentwicklung umsetzen.

11 Vgl. www.up.org.qa (The master plan of Qatar).