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Transformation der Werthaltungen

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Systemgrenzen hinaus in sämtliche andere Teilsysteme (wie Politik, Kultur, Familie usw.) ausstrahlen und somit rationale Kosten-Nutzen-Kalküle zum handlungsprä-genden Deutungsmuster der Gesellschaft insgesamt werden. Diese Ausrichtung der individuellen und kol-lektiven Einstellungen und Präferenzen hat sich auf die Selbstbeschreibung und -beobachtung entwickelter Industriegesellschaften ebenso prägend ausgewirkt wie auf die Implementierung sozial-ökonomischer Moder-nisierung in den meisten Entwicklungsgesellschaften des Südens. Mit dieser Generalisierung (bzw. Engfüh-rung) sind Aspekte des „guten Lebens“ und einer nach-haltigen Entwicklung zurückgedrängt worden.

Doch zeichnet sich heute in zahlreichen Ländern in breiten Teilen der Gesellschaft ein Umdenken ab, wie hier nur ein Schlaglicht aus Deutschland belegen soll:

Laut einer im Herbst 2010 veröffentlichten Umfrage des Emnid-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stif-tung werden wachstums- und kapitalismusskeptische Ansichten von großen Teilen der deutschen Bevölke-rung geteilt: Nur noch ein Drittel der Bürger glaubt daran, dass das Wachstum automatisch auch ihre pri-vate Lebensqualität steigern wird. Immaterielle Werte wie soziale Gerechtigkeit oder Umweltschutz werden für so wichtig erachtet, dass sie die Haltung der Deut-schen zum Wirtschaftssystem beeinflussen; so halten 88 % der Befragten das derzeitige System nicht für geeignet, den Schutz der Umwelt und den sorgsamen Umgang mit den Ressourcen sowie den sozialen Aus-gleich in der Gesellschaft genügend zu berücksichti-gen. Die Mehrheit wünscht eine „neue Wirtschaftsord-nung“ und hat wenig Vertrauen in die Widerstandsfä-higkeit und Krisenfestigkeit rein marktwirtschaftlicher Systeme. Vor allem jüngere Deutsche vertrauen nicht

in die Selbstheilungskräfte des Marktes und reklamie-ren die stärkere Vereinbarkeit von Wirtschaftswachs-tum und Umweltschutz. Die Umfrage belegt, dass post-materielles Denken in Deutschland nicht einer kleinen Schicht Wohlhabender und Gebildeter vorbehalten ist.

Als Quellen persönlicher Lebensqualität gelten für den überwiegenden Teil der Befragten Gesundheit, soziale Beziehungen und Umweltbedingungen, die mit Abstand für wichtiger gehalten werden als „Geld und Besitz zu mehren“ (Abb. 2.1-1). Der Aussage „Wohlstand ist für mich weniger wichtig als Umweltschutz und der Abbau von Schulden“ stimmten 75 % der Befragten mit Hoch-schulreife und 69 % der Befragten mit Hauptschulab-schluss zu (Bertelsmann-Stiftung, 2010).

Die zunehmend skeptische Sichtweise auf Perfor-manz und Externalitäten des gegenwärtigen Wirt-schaftssystems beruht nicht zuletzt auf der Einsicht in die Schadensbilanz eines auf kurzfristigen Nutzen und Gewinn ausgelegten Wirtschaftens (Kap. 1.1), aber auch auf der Verbesserung der materiellen Ver-sorgungslage in früher weniger begüterten Milieus, die Platz schafft für alternative, postmaterielle Wertorien-tierungen und Lebensstile. Diese sind aus der ökologi-schen (oder grünen) Nische herausgetreten und prägen – wie im Folgenden gezeigt wird – mittlerweile zuneh-mend das Verständnis auch in wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen.

2 Werte im Wandel: Eine globale Transformation der Werthaltungen hat bereits begonnen

Kasten 2.1-1

Werte, Werthaltungen und Einstellungen

Weder in der Psychologie noch in der Soziologie oder den Politikwissenschaften werden die Begriffe „Werte“, „Wert-haltungen“ und „Einstellungen“ einheitlich verwendet (Häcker und Stapf, 1994). Überwiegend wird davon ausge-gangen, dass den Einstellungen Werte zugrunde liegen und die Einstellungen das Verhalten der Menschen beeinflussen, auch wenn die Forschung (Eckes und Six, 1994) von keinem besonders starken Zusammenhang zwischen Einstellungen und Verhalten ausgeht. In diesem Gutachten verwendet der WBGU diese Begriffe wie folgt:

1. Werte und Werthaltungen: Nach Kluckhohn (1951) han-delt es sich bei Werten um geteilte Auffassungen vom Wünschenswerten. Der Begriff der Werte bezieht sich also auf etwas soziokulturell Gewordenes, das unabhän-gig von einzelnen Individuen existiert (gesellschaftliche oder kulturelle Werte). Im Unterschied dazu wird der Begriff der Werthaltungen vielfach verwendet, um die

persönlichen Werte, die subjektiven Konzepte des Wün-schens und Wertens, zu bezeichnen. Werthaltungen oder Wertorientierungen beschreiben also die relativ stabilen Präferenzen bzgl. verschiedener Werte bei einzelnen Per-sonen (Häcker und Stapf, 1994).

2. Einstellungen: Im Gegensatz zu eher abstrakten Wer-ten und Werthaltungen richWer-ten sich Einstellungen auf bestimmte Objekte, Personen(gruppen), Ideen und Ideo-logien oder spezifische Situationen (Häcker und Stapf, 1994). Einstellungen stellen Bewertungen und Hand-lungstendenzen gegenüber Einstellungsobjekten von mittlerer zeitlicher Stabilität dar und stehen damit zwi-schen Werthaltungen und den kurzfristigen Intentionen.

3. Meinungen: Sie gelten als verbaler Ausdruck von Einstel-lungen und Werten (Rokeach, 1968). Für die Messung von Einstellungen werden zur Sicherung der Reliabilität in der Regel mehrere Items, also sorgfältig ausgewählte Fragen und Aussagen, die als Indikatoren für bestimmte Einstellungen stehen, zur Bewertung des gleichen Ein-stellungsobjektes abgefragt.

Wertewandel und Umweltbewusstsein 2.2

73 2.2

Wertewandel und Umweltbewusstsein

2.2.1

Die Theorie des Wertewandels: Eine Erklärung der Zunahme postmaterieller Werthaltungen seit dem zweiten Weltkrieg

Erklären lässt sich diese „stille Revolution“ (Inglehart, 1977) – das allmähliche Vordringen von Werthaltun-gen, die sich u. a. an Umwelt- und Nachhaltigkeitsas-pekten orientieren – mit einer Theorie des Wertewan-dels (Inglehart, 1977, 1998), gemäß der vor allem nach dem zweiten Weltkrieg ein intergenerationelles Vor-dringen postmaterieller Einstellungen feststellbar ist.

In der von Inglehart zugrunde gelegten Dichotomie wird den materiellen Bedürfnissen neben der Deckung physiologischer Bedürfnisse, auch das Streben nach wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum, Preisstabili-tät wie nach „Ruhe und Ordnung“ in Staat und Gesell-schaft zugeordnet – insgesamt also das Streben nach physischer Sicherheit (Inglehart, 1998). Zu den post-materiellen Bedürfnissen zählen demgegenüber Berei-che der Selbstverwirklichung, die im Ausleben geisti-ger, schöpferischer und ästhetischer Bedürfnisse lie-gen, ferner das Bedürfnis nach Mitwirkung in Staat und Gesellschaft sowie die Wertschätzung von Meinungs-freiheit und Toleranz. Beide Wertesphären sind, wie die internationale Debatte über den Wertewandel ergeben hat, keine Gegensätze (Klages, 2001). Vielmehr sind sie auf einem Kontinuum und in Richtung einer Wertesyn-these angeordnet. Der Wandel der Werte ist nämlich keine unabhängige Entwicklung. Er korreliert mit einem steigenden Einkommens- und Bildungsniveau der Post-materialisten, denen es aufgrund ihrer materiellen

Aus-stattung und ihres Zeitbudgets möglich ist, freie Zeit mit Partnern, Familie und Freunden zu verbringen, sich der Muße und dem Genuss von Kunst und Kultur hin-zugeben und sich in diesen Zusammenhängen als Per-sonen anerkannt und wertgeschätzt zu fühlen. Konnte der postmaterielle Wertewandel in den Industriege-sellschaften nach dem zweiten Weltkrieg zunächst nur hypothetisch formuliert werden, gelang es Inglehart et al. mit Hilfe der Daten des World Values Survey (WVS), die Theorie des Wertewandels empirisch zu fundieren (Inglehart, 2008; Kasten 2.2-1).

Inglehart et al. konstatieren für die vergangenen 25 Jahre eine globale, besonders in wohlhabenden und

„sicheren” Gesellschaften wirksame, Verschiebungen vom Zwang (constraint) – also dem Vorhandensein und der Betonung von normativen Axiomen oder Sach-zwängen – hin zur effektiven Ausweitung von Wahl-möglichkeiten, welche die individuelle Handlungsau-tonomie befördern und mit entsprechenden (postma-teriellen) Werthaltungen in Zusammenhang stehen (Inglehart, 2008; Inglehart et al., 2008). Interessant im Hinblick auf einen globalen Transformationsprozess ist, dass sich dieser Trend auf Basis der WVS-Daten nicht nur im „reichen Westen“ (Europas und Nord-amerikas) beobachten lässt, sondern – wenn auch auf unterschiedlichem Niveau – in fünf unterschiedlichen Kulturräumen (konfuzianischer Kulturraum, protes-tantisches und katholisches Europa, angelsächsische sowie hispanische Welt; Inglehart et al., 2003; Welzel, 2006). Damit ist nicht gesagt, dass bestimmte materi-elle Werte vollständig aus dem Wertebewusstsein der Menschen verschwinden bzw. bereits verschwunden sind und ebenso wenig, dass sie das konkrete Verhalten von Individuen und Gruppen nicht weiter bestimmen können; dargestellt wird vielmehr die Verschiebung auf einem Kontinuum.

Abbildung 2.1-1

Was den Bürgern für ihre Lebensqualität wichtig ist; Angaben zur Lebensqualität (in %, Mehrfachnennungen möglich) aus der repräsentativen Telefonumfrage (N = 1.001) des Emnid-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland.

Quelle: Bertelsmann-Stiftung, 2010

12%

56%

58%

66%

72%

80%

Gesundheit Intakte Familie und Partnerschaft Sein Leben weitgehend selbst bestimmen Friedliches Zusammenleben mit anderen Menschen und soziales Engagement Schutz der Umwelt Geld und Besitz mehren

[%]

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

2 Werte im Wandel: Eine globale Transformation der Werthaltungen hat bereits begonnen

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Kasten 2.2-1

Ronald Inglehart und das World Values Survey

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Ingle-hart gilt in Bezug auf Publikations- und Zitationszahlen als einflussreichster Forscher auf dem Gebiet des Wertewandels (Rössel, 2006). Neben seinen theoretischen Arbeiten hat Inglehart auch die Erforschung des Wertewandels durch den World Values Survey (WVS), dessen Exekutivkommitee er vorsitzt, maßgeblich geprägt. Beim WVS handelt es sich um einen der umfangreichsten und empirisch validesten Daten-sätze, der Rückschlüsse auf die weltweit vorzufindenden Einstellungen und Werthaltungen der Menschen ermöglicht.

Das WVS ist eine fortlaufende empirische Untersuchung, die von einem internationalen Netzwerk von Forschungseinrich-tungen und Forschenden durchgeführt wird und in der seit 1981 in mittlerweile fünf Erhebungswellen weltweit mehr als 330.000 Personen befragt worden sind; gegenwärtig läuft die 6. Erhebungswelle. Aufbauend auf dem European Values Sur-vey (EVS) startete die Untersuchung 1981 in 20 überwiegend westeuropäischen Staaten. In den vergangenen fast 30 Jah-ren sind insgesamt in 97 Ländern aus allen Kulturkreisen und Weltregionen Daten erhoben worden, in denen insgesamt mehr als 88 % der Weltbevölkerung leben (Abb. 2.2-1). Ent-sprechend umfangreich ist das Spektrum der untersuchten Länder: In langjährigen Demokratien sind ebenso Personen befragt worden wie in eher autoritär geprägten Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks, in einigen der reichsten Nationen der Erde ebenso wie in Ländern, in denen das

durchschnitt-liche Jahreseinkommen bei weniger als 300 US-$ pro Person liegt (Inglehart, 2003). Damit ist der WVS einer der wenigen Datensätze, der die Mehrheit der Weltbevölkerung langfristig abdeckt und es erlaubt, Aussagen über Trends von Einstel-lungen und Werthaltungen innerhalb der Weltgesellschaft zu treffen.

Im Rahmen des WVS wird pro Land jeweils eine mög-lichst repräsentative Stichprobe von 1.000–3.500 Personen im Alter von 18–85 Jahren in standardisierten Interviews persönlich befragt (Face-to-face-Interviews). Für die Erhe-bung der Daten werden führende Sozialwissenschaftler des jeweiligen Landes als Kooperationspartner rekrutiert. So soll gewährleistet werden, dass nationale und kulturelle Beson-derheiten der jeweiligen Untersuchungsländer berücksichtigt und die Fragebögen entsprechend modifiziert werden. Die Fragebögen werden dabei in jede Landessprache übersetzt, die von mindestens 15 % der Bevölkerung gesprochen wer-den. Das WVS ist eine der wenigen Untersuchungen, die sowohl multinational als auch im Zeitverlauf Daten erhebt.

Mit dem WVS wurde für das Feld des Wertewandels eine empirische Datengrundlage geschaffen, die als einzigartig gilt (Rössel, 2006).

Im WVS werden neben soziodemographischen Daten auch Einstellungen und Positionen zu einem breiten Spektrum von Themen erfasst. Dazu zählen u. a. die Bereiche Arbeit, Familie, Politik und Gesellschaft oder Religion und Moral. Die WBGU-Analyse beschränkt sich überwiegend auf die Darstellung von Ergebnissen aus dem Fragekomplex „Umwelt“.

Abbildung 2.2-1

Im World Values Survey erfasste Länder und Personen.

Rot: 97 Länder, in denen bis zum Jahr 2007 Personen im Rahmen des WVS befragt worden sind.

Quelle: WVS, 2010

Welle Jahre Länder Bevöl kerung Befragte 1 1981–1984 20 4,7 Mrd. 25.000 2 1989–1993 42 5,3 Mrd. 61.000 3 1994–1998 52 5,7 Mrd. 75.000 4 1999–2004 67 6,1 Mrd. 96.000 5 2005–2008 57 6,7 Mrd. > 77.000

Wertewandel und Umweltbewusstsein 2.2

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Einstellungen zur Umwelt und Nachhaltigkeit in verschiedenen Ländern und Weltregionen

Inglehart sieht das Aufkommen und Erstarken neuer sozialer Bewegungen – wie der Umwelt-, Friedens- oder Homosexuellenbewegung – als Ausdruck eines breiteren kulturellen Wertewandels (Inglehart, 2008).

Ebenso wie die Wertschätzung von Toleranz ist die Sorge um die natürliche Umwelt Bestandteil eines post-materiellen Einstellungsmusters, das mit der Ausbrei-tung von SelbstentfalAusbrei-tungswerten korrespondiert. Die Geschichte der Umweltbewegung in den westlichen Industriestaaten hat gezeigt, dass neben einem Wer-tewandel in Richtung postmaterieller Haltungen vor allem die direkte und wahrnehmbare Betroffenheit durch Umweltverschmutzung und -schäden die Entste-hung eines Umweltbewusstseins fördert (Hünenmör-der, 2004).

Unabhängig davon, worauf die jeweiligen Entwick-lungen genau zurückzuführen sind, dokumentieren die Ergebnisse des WVS eindrücklich den Stellenwert, der Nachhaltigkeitsaspekten heute in der öffentlichen Meinung in zahlreichen Ländern der Welt zukommt.

Umweltprobleme, darunter prominent der Klimawan-del, zählen in der Bevölkerung mittlerweile zu den wichtigen politischen Themen – und dies nicht nur in den Ländern des vergleichsweise reichen Nordens, son-dern auch in zahlreichen Entwicklungs- und Schwellen-ländern. Die Ergebnisse der 5. Erhebungswelle des WVS (2005–2008) zeigen, dass trotz anhaltender öffentlich-keitswirksamer Verharmlosungen durch sogenannte Klima skeptiker insgesamt 89,3 % der befragten Perso-nen in 49 Ländern (N = 62.684) die globale Erderwär-mung als ernstes oder sehr ernstes Problem erachten.

Dieses sowie die nachfolgend präsentierten Ergebnisse basieren auf dem Datensatz des WVS (2009). Selbst in Ländern mit einer vergleichsweise großen klimaskep-tischen Öffentlichkeit – wie den USA, Südafrika oder China – sieht die große Mehrheit der Befragten den Kli-mawandel als ein ernstes oder sehr ernstes Problem an (Abb. 2.2-2).

Nicht nur den Klimawandel, sondern auch den Ver-lust der Tier- und Pflanzenvielfalt sieht eine ähnliche große Anzahl von Befragten (90,9 %; N = 64.573) als ernst oder sehr ernst an. Obgleich materielle Werthal-tungen, also die Bevorzugung physischer und sozioöko-nomischer Sicherheit, in zahlreichen Ländern weiterhin wichtig sind – und sie entsprechend der Theorie des Wertewandels in den materiell weniger wohlhabenden und krisengeschüttelten Gesellschaften zumeist domi-nieren (Inglehart, 2008) – finden verschiedene Fragei-tems, die den Stellenwert von Umweltschutz zu erhe-ben suchen, in fast allen in der Studie

berücksichtig-Japan

Wie ernst ist der Klimawandel als globales Umweltproblem?

Ergebnisse der 5. Erhebungswelle (2005–2008) des World Values Survey aus 49 Ländern (N = 62.684). Befragte hatten die Möglichkeit, mit „sehr ernst“, „ernst“, „nicht sehr ernst“,

„überhaupt nicht ernst“ und „weiß nicht“ zu antworten.

Zur Methode siehe Kasten 2.2-1.

Quelle: WVS, 2009 (eigene Berechnungen)

2 Werte im Wandel: Eine globale Transformation der Werthaltungen hat bereits begonnen

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ten Ländern hohe Zustimmungswerte. So spricht sich die Mehrheit der Befragten (54,6 %; N = 73.461) dafür aus, dass „dem Umweltschutz mehr Aufmerksam-keit geschenkt werden sollte, auch wenn dadurch das Wirtschaftswachstum sinkt und Arbeitsplätze verloren gehen“.

Die Aufschlüsselung der Daten nach Ländern zeigt, dass zwar insbesondere in den reichen OECD-Staaten (wie Norwegen, Kanada, Australien oder der Schweiz) Umweltschutz im Vergleich zu Wirtschaftsinteres-sen der Vorrang gegeben wird, dass aber auch bei den Bevölkerungen einer ganzen Reihe von Entwicklungs- und Schwellenländern in Südamerika (wie Kolumbien, Argentinien oder Chile) und Asien (wie China oder Vietnam) diese Präferenz erkennbar wird (Abb. 2.2-3).

Obgleich das gesellschaftliche Umweltbewusstsein zum Teil starken Schwankungen unterliegt und nicht losgelöst von den jeweiligen sozialen und ökonomi-schen Kontexten betrachtet werden kann (Hünen-mörder, 2004), zeigen die Zustimmungswerte im Zeit-verlauf der 3. Erhebungswelle (1995–1998), 4. Erhe-bungswelle (1999–2002) und 5. ErheErhe-bungswelle (2005–2008) des WVS, dass die Bevorzugung von Umweltschutz gegenüber Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen in den untersuch-ten Ländern insgesamt relativ stabil ist. Die Ergebnisse der fünften WVS-Erhebungswelle (2005–2008) zei-gen weiter, dass eine Mehrheit der Befragten (57,3 %;

N = 68.123) bereit wäre, mehr Steuern zu zahlen, wenn die zusätzlichen Staatseinnahmen für Umweltschutz verwendet würden und dass eine Mehrheit der Befrag-ten bereit ist, für den Schutz der natürlichen Umwelt grundsätzlich auch finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen: So wären 65,8 % der Befragten (N = 68.123)

„bereit, auf einen Teil des eigenen Einkommens zu ver-zichten, wenn das Geld zur Bekämpfung der Umwelt-verschmutzung verwendet würde.“

Andere Untersuchungen liefern ähnliche Ergeb-nisse wie das WVS. Ein Beispiel hierfür stellt die soge-nannte Greendex-Studie dar, die durch das Meinungs-forschungsinstitut GlobeScan in Auftrag von National Geographic durchgeführt wird (National Geographic Society, 2009a). Die Greendex-Studie ist methodisch weniger anspruchsvoll als das WVS. Sie erhebt kei-nen Anspruch auf Repräsentativität, umfasst bislang lediglich 17 Länder, unter denen sich kein afrikani-scher Staat befindet, und die Untersuchungsteilnehmer werden telefonisch befragt. Dennoch zeigen die Ergeb-nisse, dass in den untersuchten Schwellenländern im Durchschnitt nicht nur ein nachhaltigerer Lebensstil vorherrscht, was auch durch das vergleichsweise gerin-gere materielle Wohlstandsniveau und den geringerin-geren Ressourcenverbrauch erklärbar ist, sondern in Län-dern wie Südkorea, Mexiko und Brasilien, aber auch in

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Was ist wichtiger: Umweltschutz oder Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen? Ergebnisse der 5. Erhebungswelle (2005–2008) des World Values Survey aus 56 Ländern (N = 73.461). Zur Methode siehe Kasten 2.2-1.

Quelle: WVS, 2009 (eigene Berechnungen)

Wertewandel und Umweltbewusstsein 2.2

77 Indien oder China die Sensibilität gegenüber

Umwelt-fragen stärker ausgeprägt ist als in einigen frühindus-trialisierten OECD-Staaten (National Geographic Soci-ety, 2009b). In Bezug auf den Klimawandel kommt die Studie des Danish Board of Technology (2009) „World Wide Views on Global Warming“ mit 4.000 Befragten aus insgesamt 38 Ländern zu analogen Ergebnissen wie das WVS: In allen Ländern und Weltregionen sieht eine große Mehrheit der Befragten in der globalen Erwär-mung ein dringendes Problem und befürwortet ambi-tionierte Maßnahmen zum Klimaschutz (Danish Board of Technology, 2009).

In den vergangenen Jahren ist aber auch eine Reihe von Studien erschienen, die Vorbehalte gegen-über klima- und umweltpolitischen Maßnahmen in der Bevölkerung messen. Die Befunde von Meinungsum-fragungen unterliegen grundsätzlich „konjunkturellen Trends“ in der Medienberichterstattung. Aus der empi-rischen Sozialforschung ist zusätzlich bekannt, dass das Antwortverhalten der Befragten stark vom genauen Wortlaut der Fragen abhängt, was die Aussagekraft eines Vergleichs von Studien, die mit unterschiedli-chen Items operieren, stark einschränkt. In der jünge-ren Vergangenheit wird in öffentlichen Debatten auf Meinungsumfragen in den USA und Europa verwie-sen, die angeblich belegen, dass die Skepsis gegenüber den Ergebnissen der Klimawissenschaften bezüglich der menschlichen Ursachen der globalen Erwärmung zunehme und die Unterstützung für Klimaschutzmaß-nahmen in der Bevölkerung zurück gehe (Eurobarome-ter, 2009; Pew Research Cen(Eurobarome-ter, 2009; BBC, 2010; Gal-lup, 2010). Methodisch ist insbesondere bezüglich der BBC- und Gallup-Studien anzumerken, dass die in den Untersuchungen verwendeten Fragen uneindeutig for-muliert sind und eher die Befragtenwahrnehmung der öffentlichen Debatten zu den Ursachen des Klimawan-dels erhoben wird als die Meinung der Untersuchungs-teilnehmer selbst (Krosnick, 2010). In der Berichter-stattung und öffentlichen Diskussion der Untersuchun-gen findet zudem kaum oder gar keine Beachtung, dass trotz eines Rückgangs der Zustimmungswerte zu einzel-nen Frage-Items auch in diesen Erhebungen eine große Mehrheit der Befragten den Klimawandel weiterhin als ernstes bzw. sehr ernstes Problem ansieht und/oder auch politische Maßnahmen zum Klimaschutz befür-wortet (Eurobarometer, 2009; Pew Research Center, 2009; BBC, 2010). Aktuelle repräsentative Untersu-chungen, in welchen die Frage-Items eindeutig formu-liert sind, kommen zu dem Ergebnis, dass selbst in den USA Mehrheiten von mehr als 70 % der Befragten die globale Erwärmung als menschenverursacht ansehen und politische Maßnahmen zum Klimaschutz befür-worten (Stanford University, 2010). Dies sind Zustim-mungswerte und Trends, die sich in diesem Ausmaß

kaum für ein anderes Politikfeld (wie Migration oder Wirtschafts- und Soziapolitik) finden lassen (Krosnick, 2010). Selbst wenn eine nachhaltigkeitsorientierte Politik in zahlreichen Ländern Zustimmung findet, blei-ben jedoch Bedenken und konfligierende Ziele in der Bevölkerung bestehen, denen die Umwelt- und Klima-schutzpolitik gerecht werden muss (Kap. 2.4).

2.2.3

Offenheit für Innovation und Einstellungen gegenüber neuen Technologien, Wissenschaft und erneuerbaren Energien

Für das Gelingen jedweder Transformation in klimaver-trägliche und nachhaltige Gesellschaften sind die Ent-wicklung neuer Technologien sowie die zeitnahe und breitflächige Diffusion technischer und sozialer Inno-vationen von zentraler Bedeutung. Es ist zu erwarten, dass eine hohe Zustimmung zu postmateriellen Wer-ten gerade dann unter Druck gerät, wenn Klima- und Umweltschutz nicht nur abstrakt postuliert, sondern in konkrete politische Vorhaben, etwa in Infrastruktur-projekte umgesetzt werden. Die großflächige Einfüh-rung erneuerbarer Energien und die VerbesseEinfüh-rung der Energieeffizienz (Kap.  4.6) greift in die Alltagspraxis zahlreicher Menschen in zentralen Lebensberei-chen ein, wie zum Beispiel Wohnen oder Mobilität (Kap. 4.3.2, 4.3.3). Eine gewisse Offenheit gegenüber technischen Erfindungen und Anwendungen ist daher Voraussetzung für den Erfolg einer Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Im WVS findet sich dazu eine Reihe von Items, die das Verhältnis der Men-schen zu Technologie und Wissenschaft erheben. Die Ergebnisse der Untersuchung legen nahe, dass in vie-len Ländern technologische Entwicklung und wissen-schaftlicher Fortschritt überwiegend positiv gese-hen werden. So gaben im Rahmen der 5. Erhebungs-welle (2005–2008) 69 % der befragten Personen

Für das Gelingen jedweder Transformation in klimaver-trägliche und nachhaltige Gesellschaften sind die Ent-wicklung neuer Technologien sowie die zeitnahe und breitflächige Diffusion technischer und sozialer Inno-vationen von zentraler Bedeutung. Es ist zu erwarten, dass eine hohe Zustimmung zu postmateriellen Wer-ten gerade dann unter Druck gerät, wenn Klima- und Umweltschutz nicht nur abstrakt postuliert, sondern in konkrete politische Vorhaben, etwa in Infrastruktur-projekte umgesetzt werden. Die großflächige Einfüh-rung erneuerbarer Energien und die VerbesseEinfüh-rung der Energieeffizienz (Kap.  4.6) greift in die Alltagspraxis zahlreicher Menschen in zentralen Lebensberei-chen ein, wie zum Beispiel Wohnen oder Mobilität (Kap. 4.3.2, 4.3.3). Eine gewisse Offenheit gegenüber technischen Erfindungen und Anwendungen ist daher Voraussetzung für den Erfolg einer Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Im WVS findet sich dazu eine Reihe von Items, die das Verhältnis der Men-schen zu Technologie und Wissenschaft erheben. Die Ergebnisse der Untersuchung legen nahe, dass in vie-len Ländern technologische Entwicklung und wissen-schaftlicher Fortschritt überwiegend positiv gese-hen werden. So gaben im Rahmen der 5. Erhebungs-welle (2005–2008) 69 % der befragten Personen

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