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Die Große Transformation:

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Ein heuristisches Konzept 3

3 Die Große Transformation: Ein heuristisches Konzept

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inkrementellen und radikalen Innovationen sowie der Veränderung techno-ökonomischer Paradigmen unter-schieden (Freeman, 1996). Aus diesen Ansätzen lässt sich viel für die Große Transformation lernen, denn der Übergang zu einer klimaverträglichen und ressour-ceneffizienten Wirtschaft muss offensichtlich mit radi-kalen Innovationen einhergehen, die breite Teile von Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen und zu einer Veränderung des „High-carbon-Paradigmas“ führen.

Doch wie bei der Theorie der langen Wellen (Kondra-tieff) gilt auch hier, dass die Innovationstheorien sich eher mit Veränderungen mittlerer zeitlicher Reichweite beschäftigen.

Zudem geht die Komplexität der Großen Transfor-mation weit über im Kern technologische Veränderun-gen hinaus, mit denen sich ein Teil der evolutorischen Ökonomik beschäftigt. Die am schwierigsten zu indu-zierenden Veränderungen der Großen Transformation Kasten 3-1

Die Neolithische Revolution

Die Neolithische Revolution bezeichnet das Aufkommen und die Ausbreitung sesshafter Gesellschaften während der Jung-steinzeit. Nachdem die Menschheit zuvor ausschließlich in Jäger- und Sammlergemeinschaften gelebt hatte, erlernte sie zwischen 10.000 und 5.000 vor v. Chr. in verschiedenen Erd-teilen unabhängig voneinander Vieh- und Ackerwirtschaft sowie die Möglichkeiten der Vorratshaltung. Dadurch wurden die Voraussetzungen zur Sesshaftigkeit geschaffen (Sieferle, 2010; Abb. 3.2-1, 3.2-2).

Die grundlegenden Eigenschaften agrarischer Zivilisati-onen ähneln sich weltweit sehr. Dies spricht für konvergente evolutionäre Entwicklungsprozesse, in denen zielgerichtete Steuerung keine große Rolle gespielt haben kann. Vielmehr lassen die systemischen Bedingungen landwirtschaftlicher Produktionsweisen, trotz aller erreichten sozio-technolo-gischen Fortschritte, nur geringe Spielräume für Sonderent-wicklungen und unterschiedliche Ausprägungen agrarischer Gesellschaften zu (Sieferle, 2010). Erlernte eine Gesellschaft die ersten Schritte des Ackerbaus, wie etwa die regelmäßige Ernte wilder Pflanzen, waren die nächsten Schritte, etwa das gezielte Aussäen, vorgezeichnet.

Obwohl es sich bei der Neolithischen Revolution um einen evolutionären Epochenwandel handelt, hat sie die zivilisato-rischen Grundlagen der Menschheit und die Welt als Ganzes nachhaltig verändert. Aus ökonomischer Perspektive hat-ten Sesshaftigkeit und Landwirtschaft vorher ungeahnhat-ten materiellen Wohlstand und Wirtschaftswachstum zur Folge.

Besonders sichtbar wurde dies in der Entwicklung agrarischer Hochkulturen (Weisdorf, 2005).

Die Sesshaftigkeit, verbunden mit Ackerbau und Vor-ratshaltung, ermöglichte gegenüber dem Status quo ante die Entstehung wesentlich komplexerer und ausdifferenzierte-rer Gesellschaften. Wirtschaftshistoriker betonen, dass eine frühe Übernahme agrarischer Produktions- und Lebenswei-sen zu solch fundamentalen Unterschieden im Bezug auf technologische Entwicklung und soziale Organisation geführt haben, dass sie bis heute zu einem bestimmten Grad die Wirt-schaftsleistung von Staaten bestimmen. Darüber hinaus gibt es Indizien dafür, dass hierfür weniger die historische Dauer von agrarischer Produktion ausschlaggebend ist als vielmehr der jeweilige Entwicklungsgrad einer agrarischen Tradition und die daraus übernommenen technologischen und sozialen Fähigkeiten (Putterman, 2008).

Mit dem Wirtschaftswachstum landwirtschaftlicher Gesell-schaften nimmt auch deren Energiebedarf sowie die Eingriffs-tiefe in die natürliche Umwelt zu, da Agrargesellschaften ihre Umwelt wesentlich stärker und systematischer bearbeiten

und transformieren als Jäger und Sammler (Haberl, 2006).

Hauptenergiequelle der Agrargesellschaft ist die Biomasse, die stärker und kontrollierter in Anspruch genommen wird als zuvor (Abb. 3.2-1). Zudem wird ein wesentlich größerer Teil der Nettoprimärproduktion von Biomasse als Nahrung und Futter sowie Bau- und Feuerholz genutzt. Zwar entnehmen auch Jäger und Sammler Biomasse aus ihrer Umwelt, nutzen diese aber vergleichsweise unsystematisch, unmodifiziert und in geringeren Mengen.

Warum jagen und sammeln durch Sesshaftigkeit und Landwirtschaft abgelöst wurden ist umstritten, da frühge-schichtliches Wissen bruchstückhaft und spekulativ ist. Alle Erklärungsversuche gehen davon aus, dass die klimatischen Änderungen am Ende der Eiszeit eine entscheidende Rolle gespielt haben. Unklar ist allerdings, ob diese zu einer Ver-schlechterung des Umweltzustands und damit verbundenen Ressourcenknappheiten oder umgekehrt zu einer Verbesse-rung des Umweltzustands und einem Überangebot an Nah-rungsmitteln geführt haben.

Im ersten Fall wäre, vereinfacht gesagt, mangelnde Beute der wichtigste Treiber für die Entwicklung der Landwirt-schaft gewesen. Im zweiten Fall wäre es ein Überangebot an Beute, das die Sesshaftwerdung, die Domestizierung von Tieren und komplexere Organisationsgrade, wie etwa den systematischen Anbau wilder Gerste, überhaupt ermöglichte.

Eine dritte Theorie vermutet, dass eine erste Erwärmung eine jagende Sesshaftigkeit ermöglichte und ein plötzlicher klima-tischer Kälteeinbruch die sesshaften Jäger zur Landwirtschaft zwang. Ein vierter Ansatz sucht eine Erklärung nicht in der relativen Verbesserung oder Verschlechterung der Umwelt-bedingungen durch klimatische Änderungen, sondern in der Verstetigung der Umweltbedingungen im Anschluss an das klimatisch volatile Pleistozän. Während Jäger und Sammler sich Klimaschwankungen flexibel anpassen konnten, ließ die Kontinuität der klimatischen Bedingungen auch relativ unfle-xible, dabei aber langfristig produktivere Lebensformen wie den Ackerbau zu.

Unabhängig von den spezifischen Ursachen ermöglichten Sesshaftigkeit und Ackerbau eine historisch nicht gekannte Beschleunigung kultureller, sozialer, technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung. So führte der Wegfall des Zwangs zur ständigen Anpassung an wechselnde klimatische Bedingungen zu neuen Anpassungszwängen und koevolutio-nären Prozessen innerhalb der Landwirtschaft (z. B. das Auf-kommen von Parasiten) und Siedlungsgesellschaften (z. B.

den Konkurrenzdruck durch Feinde sowie soziale Schich-tung). Dabei führte die Lösung eines Problems in der Regel zu unvorhergesehen neuen Problemen, die erneut Handlungs-druck schafften und somit Innovation und Entwicklung för-derten (Sieferle, 2010).

Zentrale Charakteristika der Großen Transformation 3.1

89 sind jenseits der Technologien angesiedelt – etwa die

Veränderung von Lebensstilen, eine globale Koope-rationsrevolution, die Überwindung von Politikblo-ckaden sowie ein verantwortungsvoller Umgang mit generationenübergreifenden Langfristveränderungen (Kap.  5,  6). Technologien können helfen, diese Her-ausforderungen eines umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels zu vereinfachen. Sie sind jedoch nicht der Schlüssel oder gar der einzige Schlüs-sel zur Großen Transformation.

Auch die Transformationstheorien, die sich mit dem Übergang der sozialistischen Länder in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie beschäftigen, erfas-sen, wie die Innovationstheorien und die Theorie langer Wellen, einige wichtige Dimensionen der Großen Trans-formation (Merkel, 2010). Immerhin geht es bei diesen Ansätzen darum, den weitreichenden Umbau von Öko-nomien und Gesellschaft zu verstehen sowie entspre-chende Transformationsstrategien zu entwickeln. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Transfor-mationen und dem Übergang zu einer Weltwirtschaft in den Grenzen des Erdsystems besteht darin, dass sich die ehemals sozialistischen Länder im Übergang zur Markt-wirtschaft an existierenden Leitbildern und Modellen westlicher Länder orientiert haben.

Für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit dagegen gibt es keine etablierten Vorbilder. Die Verbin-dung von Wohlstand, Dekarbonisierung, radikaler Res-sourceneffizienz und Demokratie ist eine historische Herausforderung, der sich alle Länder gleichermaßen stellen müssen und von der gerade die wohlhabenden Staaten – was ihre Treibhausgasemissionen und ihren Ressourcenverbrauch angeht – besonders weit entfernt sind. Es gibt derzeit weltweit kein einziges Modell-land für klimaverträgliches Wirtschaften (Low-carbon-Modellland), an dem sich Reformprozesse in anderen Ländern orientieren könnten. Zudem konzentrierten sich die Transformationstheorien zum Übergang von sozialistischen zu westlichen Gesellschaften auf natio-nale Systeme, während die Große Transformation des 21. Jahrhunderts sowohl Veränderungen in nationalen Gesellschaften als auch insbesondere Prozesse globalen Wandels umfassen muss.

Existierende Transformationstheorien können durch-aus Elemente und Strukturmerkmale zu einem heuristi-schen Konzept zur Analyse der Großen Transformation beitragen, sind jedoch nicht darauf ausgelegt, den epo-chalen Umbruch zu beschreiben, der aus Sicht des WBGU notwendig wäre, um Erdsystemstabilität, brei-tenwirksamen Wohlstand und Demokratie langfristig zu sichern.

3.1

Zentrale Charakteristika der Großen Transformation

Grin et al. (2010) leisten mit ihren Arbeiten zu „long term transformative change to sustainabilty“ wichtige Beiträge zu einem besseren Verständnis von Verän-derungsprozessen, die der WBGU als Große Transfor-mation bezeichnet. Der Ansatz von Grin et al. (2010) rekurriert auf oben skizzierte Transformationskon-zepte und -theorien, insbesondere aus der evolutori-schen Ökonomik und der Innovationsforschung, aber auch aus den Geschichtswissenschaften, und erweitert diese in Richtung eines umfassenderen Wandels zur nachhaltigen Entwicklung. Grin et al. (2010) sprechen von „transition“, wenn sie Prozesse umfassenden Wan-dels analysieren und von „transformations“ als Phasen innerhalb der „transition“. In den Sozialwissenschaften werden die deutschen Begriffe „Transition“ und „Trans-formation“ in der Regel synonym gebraucht, um weit-reichende Prozesse gesellschaftlichen, wirtschaft lichen, kulturellen und politischen Wandels zu beschreiben (Nohlen, 2005). Der WBGU verwendet in dieser Stu-die den Begriff der „Transformation“, nicht zuletzt in Anlehnung an Karl Polanyis (1944) „Great Transforma-tion“, um umfassenden Wandel zu beschreiben.

Historische Phasen umfassenden wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen und politischen Wandels, die nicht nur Nischen und Sektoren betreffen, sondern in denen Gesellschaften insgesamt transformiert wer-den, können in Anlehnung an Giddens (1984), Bour-dieu (1977) und Braudel (1958) als Prozesse verstan-den werverstan-den, in verstan-denen „wechselnde Praktiken, struktu-reller Wandel und exogene Tendenzen parallel zuein-ander auftreten und gegebenenfalls interagieren, so dass nicht-inkrementelle Veränderungen in Praktiken und Strukturen entstehen“ (Grin et al., 2010). Dabei übernehmen die Autoren von dem Wirtschaftshisto-riker Braudel (1958) die Erkenntnis, dass tiefgreifen-der Wandel auf Veräntiefgreifen-derungsprozessen basiert, die unterschiedlichen Zeitlogiken und Geschwindigkeiten folgen. Geographische, geologische, aber auch sozi-ale und mentsozi-ale Strukturen verändern sich nur sehr langsam (structural history); ökonomische Strukturen, Akteurs- und Machtkonstellationen, die Verfügbar-keit natürlicher Ressourcen können sich im Rhythmus von Jahren und wenigen Dekaden verändern (conjunc-tural history); spezielle Momente und Ereignisse der Geschichte (der 11. September 2001, Beginn und Ende des II. Weltkrieges; Weltwirtschaftskrise 1929/30 bzw.

2007–2009), können zu Kursänderungen, Schocks, lang anhaltenden Krisen oder auch Gelegenheitsfens-tern (windows of opportunity) für Veränderung führen

3 Die Große Transformation: Ein heuristisches Konzept

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(eventful history). Große Transformationen sind also keine linearen Prozesse oder Ergebnisse intentionalen Handelns mächtiger Akteure, sondern Folge von inein-ander greifenden Dynamiken, die sich auf unterschied-lichen Zeitskalen abspielen, aber sich zu einer Richtung des Wandels verdichten (z. B. im Umbruch von Agrarge-sellschaften zu IndustriegeAgrarge-sellschaften, Kasten  3.2-1, Abb. 3.2-1, 3.2-2).

Zur Analyse von Interaktionen zwischen Teilsys-temen greifen Grin et al. (2010) auf das Konzept der Koevolution zurück. „Wirtschaftliche, kulturelle, tech-nologische, ökologische und institutionelle Subsysteme entwickeln sich unter wechselseitiger Beeinflussung auf vielfältige Weise weiter und können sich gegensei-tig stärken, um gemeinsam einen Übergang (mit)zube-stimmen. (...)... wir sprechen von Ko-Evolution, wenn die Interaktion der sozialen Subsysteme die Dynamik der einzelnen Subsysteme beeinflusst und zu einem irreversiblen Muster des Wandels führt.“ Auf dieser Grundlage arbeiten die Autoren ein Bündel allgemeiner Charakteristika großer Veränderungsprozesse heraus, um Komplexität zu reduzieren:

> Große Veränderungsprozesse verlaufen koevolutio-när, setzen eine Vielzahl von Veränderungen in unterschiedlichen sozio-technischen (Sub-)Syste-men voraus und finden auf lokalen, nationalen und globalen Handlungsebenen statt.

> Sie beinhalten sowohl die Entwicklung von (Nischen-)Innovationen als auch deren Selektion durch Nutzer und ihre gesellschaftliche Verankerung über Märkte, Regulierungen, Infrastrukturen und neue gesellschaftliche Leitbilder.

> Sie werden von einer großen Zahl an Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Konsumenten beeinflusst.

> Sie sind letztendlich radikale Prozesse hinsichtlich ihrer Auswirkung und Reichweite, vollziehen sich jedoch unter Umständen langsam über mehrere Jahrzehnte.

Folgt man diesen Charakteristika, dann haben große Transformationen kein eindeutiges Zentrum, von dem sie ausgehen und sie sind schwer steuerbar. In der Tat waren die beiden bisherigen Zivilisationsschübe der Menschheit (Neolithische und Industrielle Revolution;

Kasten 3-1, 3.2-1), die der WBGU als große Transfor-mationen einstuft, keine gesteuerten Prozesse, son-dern Ergebnisse evolutionären Wandels. Eine zentrale und historisch neue Herausforderung im großen Über-gang zur klimaverträglichen und ressourceneffizienten Weltwirtschaft, in der die Grenzen des Erdsystems ein-gehalten werden, besteht also darin, diesen komplexen Prozess zu gestalten (Messner, 1997). Der anstehende Wandel muss auf der Grundlage von Erkenntnissen und Einsichten aus der Wissenschaft bezüglich der Risiken

einer Fortsetzung des fossilen und ressourceninten-siven Entwicklungspfades angestoßen und politisch gestaltet werden, um den historischen Normalfall, näm-lich eine Richtungsänderung infolge von Krisen und Schocks, zu vermeiden. Im Fall der Klima krise könnte der historische Normalfall zu irreversiblen und unab-sehbaren Folgen für die Menschheit führen (WBGU, 2009b). Die Klima- und Naturwissenschaften sind in der Lage, die zukünftigen Auswirkungen der globalen Erwärmung auf Wasserverfügbarkeit, Landdegrada-tion oder auch den Meeresspiegelanstieg zu modellie-ren. Insofern steht den Gesellschaften für Entscheidun-gen in der GeEntscheidun-genwart nicht nur ein „Labor der Vergan-genheit“ (die Geschichte), sondern auch ein „Labor der Zukunft“ zur Verfügung. Die Menschheit muss lernen

„aus der Zukunft zu lernen“ (Kap. 8).

Das Transformationskonzept von Grin et al. (2010), aber auch andere sozialwissenschaftliche Theorien gesellschaftlichen Wandels (Braudel,  1958; Mess-ner, 1997; Mayntz, 2009; Fischer, 2010; Ostrom, 2010) verweisen allerdings darauf, dass selbst komplexe Transformationen nicht nur durch unüberschaubare Eigendynamiken von Prozessen und Strukturen im Sinne einer Koevolution als selbstgesteuerter Pro-zess zustande kommen, sondern auch durch identifi-zierbare Akteurskonstellationen beeinflusst werden.

Akteurskonstellationen, die über ausreichend Macht, Ressourcen, Kreativität sowie Innovations- und Reformbereitschaft verfügen, um etablierte Blockade-kräfte zu überwinden, können wirksame Treiber des Wandels sein oder eigendynamische Prozesse des Wan-dels kanalisieren, bündeln und gestalten. Wie groß ihre Gestaltungsspielräume sind, ergibt sich aus der Gesamt-konstellation, in der die Akteure handeln. Im Folgen-den wird gezeigt, dass die Gestaltungschancen im der-zeitigen Umbruch zu einer nachhaltigen Weltwirtschaft durchaus günstig ausfallen.

Um Erfolg zu haben, müssen „Pioniere des Wandels“

in jedem Fall („jenseits“ ihrer Macht und ihres Reform-willens) die Grenzen des etablierten Gesellschaftskon-zeptes (in diesem Fall einer weitgehend auf der Nut-zung fossiler Energieträger beruhende Wirtschafts-weise oder high carbon economy) plausibel aufzeigen können und über (attraktive) Leitbilder (Narrative) ver-fügen, an denen sich der gesellschaftliche Wandel aus-richten kann. Diese Studie will einen Beitrag zu einem solchen Narrativ der Großen Transformation zur Nach-haltigkeit leisten.

Neuere Forschungsarbeiten der Verhaltensökonomie (Akerlof und Shiller, 2009), der evolutionären Anth-ropologie (Dunbar, 2010), der politischen Ökonomie (Ostrom und Walker, 2003) oder auch des „Akteurs-orientierten Institutionalismus“ (Mayntz, 2002) ver-weisen übereinstimmend auf die herausragende

Die „Verwandlungen der Welt im 19. und 21. Jahrhundert“: Vier zentrale Arenen der Transformation 3.2

91 Bedeutung von breit geteilten Narrativen für die

Hand-lungsorientierung von Akteuren. Narrative reduzieren Komplexität, schaffen Orientierung für aktuelle und zukunftsorientierte Handlungsstrategien, sind Grund-lage der Kooperation zwischen Akteuren und fördern Erwartungssicherheit. Das vorherrschende Narrativ der vergangenen zweihundert Jahre war über alle Wirt-schaftssysteme hinweg ein Wohlstandsmodell, das auf der unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Energieträger und anderer Ressourcen basierte. Nun bedarf es einer neuen Geschichte zur Weiterentwicklung der mensch-lichen Zivilisation sowie dessen, was unter „Moderni-sierung“ und „Entwicklung“ verstanden wird. Das ist leichter gesagt als getan. Denn John Maynard Keynes (1883–1946) hat wohl richtig gelegen, als er vermu-tete: „Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu finden, sondern den alten zu entkommen“.

Ohne veränderte Narrative, Leitbilder oder Meta-erzählungen, die die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft neu beschreiben, kann es keine gestaltete Große Transformation geben. Hiermit sind zwei wich-tige Elemente der Gestaltung des Übergangs zur nach-haltigen Weltwirtschaft genannt (Pioniere des Wandels und Narrative), die später wieder aufgegriffen werden (Kap. 4, 5, 6).

3.2

Die „Verwandlungen der Welt im 19. und 21.

Jahrhundert“: Vier zentrale Arenen der Transformation

Der Historiker Osterhammel (2009) beschreibt in sei-ner 1.500-seitigen Abhandlung über die „Verwand-lung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“

die große Transformation, die zur industriellen Gesell-schaft geführt hat. Dabei betrachtet er einen Zeitraum von 1770 bis ins 20. Jahrhundert hinein. Statt von Transformation spricht er über die Phase des Umbruchs von den Agrar- zu den Industriegesellschaften, die er in den „fünf oder sechs Jahrzehnten um 1800 herum“

beobachtet und als „Schwellenjahrzehnte“, „Epochen-wandel“, „Sattelzeit“ oder „Wendezeit“ bezeichnet (Osterhammel, 2009). Interessant ist, dass die Cha-rakteristika des Epochenwandels hier ähnlich wie bei Grin et al. (2010) beschrieben werden. Auch Osterham-mel kommt zu dem Ergebnis, dass große Epochenwech-sel, die zur „Verwandlung der Welt“ führen, mehrere Dekaden andauern. In diesen Phasen der „Übergänge“

und „Zäsuren“ überlagern und verdichten sich ökono-mische, kulturelle, soziale, aber auch ökologische Pro-zesse unterschiedlicher Tempi (Braudel, 1958) zu trans-formativen Dynamiken, beeinflusst durch eine Vielzahl von Akteursgruppen, die mit durchaus

unterschiedli-chen Intentionen letztlich eine spezifische Richtung des Wandels befördern (Osterhammel, 2009).

In der Geschichte gibt es also keine zeitlich eindeutig bestimmbaren Kipppunkte der Entwicklung, die einen Epochenwechsel einläuten. Historische Schübe und umfassende Transformationen ergeben sich vielmehr durch „Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen.

Diese können kontinuierlich oder diskontinuierlich ver-laufen, additiv oder kumulativ, reversibel oder irrever-sibel, mit stetigem oder wechselndem Tempo“ (Oster-hammel, 2009). Erst in der Ex post-Betrachtung wird deutlich, ob ein epochaler Wandel, in diesem Fall von der Epoche der Agrargesellschaften hin zur Epoche der Industriegesellschaften (Kasten 3.2-1), stattgefunden hat.

Die Nichtlinearität weitreichender gesellschaftlicher Transformationen zeigt sich insbesondere im Wechsel-spiel ideengeschichtlicher und realpolitischer Verände-rungen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass große Ideen und neue gesellschaftliche Leitbilder beacht-liche Zeit brauchen, um sich in großen Veränderungen in den Gesellschaften niederzuschlagen. John Locke (1632–1704) stritt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahr-hunderts für Erkenntnis und Vernunft. René Descartes (1596–1650) begründete den französischen Rationa-lismus, auf den Voltaire (1694–1778) und Rousseau (1712–1778) aufbauten. Kant verfasste 1784 seinen berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, in dem er den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstver-schuldeten Unmündigkeit“ einforderte. Während die Aufklärer für Freiheit, Vernunft und „das Wohl des Menschengeschlechts“ eintraten und demokratische Gesellschaften „vordachten“, waren ihre Gesellschaf-ten noch durch eine hier eher katholisch und dort eher evangelisch geprägte Gegenaufklärung dominiert und damit weit von den neuen Idealen der Aufklärung ent-fernt. Und auch die Aufklärer selbst blieben in Teilbe-reichen ihres Denkens erstaunlich lange der Tradition der Unfreiheit verpflichtet. Nur eine Minderheit der großen europäischen Aufklärer, zu der Adam Smith und Rousseau gehörten, protestierte gegen die von allen Kolonialmächten praktizierte Sklaverei und den trans-atlantischen Sklavenhandel, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. Zum

„Menschengeschlecht“, für dessen Freiheit die Aufklä-rer eintraten, zählte zunächst nur ein Teil der Mensch-heit (Winkler, 2009; Kap. 3.5.1).

Osterhammels Rekonstruktion der Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert verdeutlich darüber hinaus, dass vier Arenen der Transformation von übergeord-neter Bedeutung für den Epochenwandel zur Indust-riegesellschaft waren. Diese Arenen der Transformation des letzten großen Epochenwandels sind auch für die Große Transformation im 21. Jahrhundert von

zentra-3 Die Große Transformation: Ein heuristisches Konzept

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ler Bedeutung. Der letzte große Zivilisationsschub zur Industriegesellschaft basierte auf der Überlagerung und Verdichtung von weitreichenden Veränderungsprozes-sen in Bezug auf:

> die Energiebasis von Wirtschaft und Gesellschaft,

> die Bedeutung von Zeit in Wirtschaft und Gesell-schaft,

> Kommunikations-, Wissens- und Logistikinfrastruk-turen,

> Machttransformation und gesellschaftlichen Wandel.

Eine Skizze der Erkenntnisse von Osterhammel zur Ver-wandlung der Welt im 19. Jahrhundert hilft, die aktuel-len Transformationsprozesse besser zu verstehen.

Die Energietransformation im 19. Jahrhundert als Grundlage der Industriellen Revolution

Jedes Wirtschaften erfordert Energiezufuhr. Fehlen-der Zugang zu bezahlbarer Energie ist einer Fehlen-der gefähr-lichsten Engpässe, die Gesellschaften durchleben kön-nen. Die Industrialisierung war vor allem ein Wechsel des Energieregimes (Sieferle et al., 2006; Abb. 3.2-1).

Bis Ende des 18. Jahrhunderts basierten die vorindust-riellen Gesellschaften auf wenigen Energiequellen jen-seits menschlicher Arbeitskraft. Wasser, Wind, Feuer-holz, Torf und Arbeitstiere begrenzten die Leistungs- und Expansionsfähigkeit der Ökonomien (Abb. 3.2-1).

Es bestand stets die Sorge, dass die Verfügbarkeit von Abbildung 3.2-2

Entwicklung der Weltbevölkerung im Zuge der Übergänge von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrar- und zur Industriegesellschaft von etwa 1 Mio. Menschen bis zu mehreren Milliarden.

Entwicklung der Weltbevölkerung im Zuge der Übergänge von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrar- und zur Industriegesellschaft von etwa 1 Mio. Menschen bis zu mehreren Milliarden.

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