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These: Individualisierung und lebensweltlicher Ansatz

Im Dokument Sozialismus als Tagesaufgabe (Seite 98-101)

Demokratischer Sozialismus als transformatorisches Projekt

12. These: Individualisierung und lebensweltlicher Ansatz

Eines der Grundmerkmale bürgerlicher Gesellschaften ist der Prozess der In-dividualisierung. Das eigene Leben mit selbstbestimmtem Sinn zu füllen, nach eigenem Maß zu leben, individuelle Freiheit für jede und jeden zu erstreben – dies widerspricht der Logik des Kapitals. Hier hat eine Soziallogik ihre tiefsten Wurzeln, obwohl die Individualisierungsprozesse zugleich oft zu Vereinzelung, Isolierung und Konkurrenz der Menschen gegeneinander führen.

Höhere Einkommen, bessere Bildung, größere Mobilität, Fortschritte in der Emanzipation von Frauen und auch der Kinder, mehr gesellschaftliche Akzep-tanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen und andere Prozesse öffnen in modernen Gesellschaften im Vergleich zu vorkapitalistischen Gesellschaften neue Räume für die Individualität der Einzelnen. Es ist eine Stärke des Neoli-beralismus, dass er diese Tendenz aufnimmt und in liberaler Tradition die Freiheit der Individuen als sein Markenzeichen proklamiert. Doch tatsächlich ist damit überwiegend eine begrenzte Individualität gemeint, die unternehmeri-sche Freiheit, die Freiheit der Marktteilnehmer, sich selbst zu vermarkten. Das neoliberale Leitbild ist das des sich selbst vermarktenden Menschen, des Men-schen als Unternehmer der eigenen Arbeitskraft und Daseinsvorsorge, der als

homo oeconomicus zu funktionieren hat. Individualität wird in hohem Maße auf Funktionalität reduziert.

Der Zeitgeist ist von Widersprüchen zerrissen. Dass alle erzwungen durch die Globalisierung nach den Zwängen der Weltmärkte zu tanzen haben, das gilt verbreitet als schicksalhaft. Dass die Gerechtigkeit dabei schon längst unter die Räder gekommen ist, dass ohne Gerechtigkeit kein selbstbestimmtes Leben möglich ist – dies ist aber ebenfalls Anschauung der meisten Menschen. In Se-attle, wo 60.000 Menschen gegen die kapitalistische Gestalt der Globalisierung demonstrierten, und in Genua, wo 200.000 Menschen aus allen Erdteilen die-sen Protest fortsetzten, trafen beide Anschauungen aufeinander. “Es gibt im Westen der Welt wohl kaum einen verbreiteteren Wunsch als den, ein eigenes Leben zu führen. Wer heute in England, Deutschland, Ungarn, in den USA und Kanada herumreist und fragt, was die Menschen wirklich bewegt, was sie erstreben, wofür sie kämpfen, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw.

stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen des eigenen Lebens. Geld meint eigenes Geld, Raum meint eigenen Raum, eben im Sinne elementarer Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen.” (Beck 1997: 9)

Eben diese elementaren Voraussetzungen eines eigenen Lebens sind der Mehrheit aller Menschen im so genannten Süden vorenthalten. Eben diese Freiheitsgüter sind auch in den reichen Ländern des “Nordens” skandalös un-gleich verteilt. Sozial un-gleiche Teilhabe an demokratischen Entscheidungen, an existenzsichernder Arbeit, Bildung, Wissen, Kultur und sozialer Sicherheit ist auch dort für die Bevölkerungsmehrheit nur ein Traum. Der Friede als elemen-tarste Lebensbedingung ist gefährdet in Zeiten, in denen Krieg als probates Mittel zur Lösung sozialer und ethnischer Probleme, zur Behauptung von Herrschaft, zur Aneignung von Naturressourcen und als innenpolitischer Kitt gilt. In dramatischer Weise gefährdet sind die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit. Aber auch Krieg und Umweltzerstörung betreffen die Men-schen in ganz unterschiedlichem Maße.

Deshalb sind die Individualisierungsprozesse ein Nährboden für Forderungen nach einer Gerechtigkeit, die Freiheit, soziale Gleichheit und Solidarität ein-schließt. Individualisierung tendiert zur Stärkung einer Soziallogik und steht auf Kriegsfuß mit der Kapitallogik. Dies gilt, obwohl Individualisierung bisher überwiegend in eben diese Kapitallogik eingebunden ist. Die Individuen ste-hen sich in der Konkurrenzgesellschaft als Konkurrenten um Arbeitsplätze, Einkommensanteile und Lebensansprüche gegenüber. Individualisierung ver-läuft auch als Vereinzelung, führt zum Verlust von sozialem Zusammenhalt und von kollektiver Handlungsfähigkeit.

Seid flexibel und mobil – so lautet die Anforderung der Wirtschaft an die Menschen als Marktakteure. Richard Sennett schrieb in seinem Buch “Der fle-xible Mensch”: “’Nichts langfristiges’ ist ein verhängnisvolles Konzept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung.” “Auf die Familie übertragen bedeuten diese Werte einer flexiblen Gesellschaft:

Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer.” “So be-droht der kurzfristig agierende Kapitalismus ... besonders jene Charaktereigen-schaften, die die Menschen aneinander binden und dem einzelnen ein stabiles Selbstgefühl vermitteln.” (Sennett 1998: 27, 28, 29, 31)

Dem steht entgegen, dass die einzelnen in ihrer Lebenswelt verwurzelt sind.

Diese birgt einen Eigensinn, der nicht auf das Funktionieren in den Teilsyste-men der Gesellschaft reduzierbar ist. Die überschaubaren familiären, nachbar-schaftlichen und Freundesbeziehungen in bestimmten Milieus, die direkte Wohnumwelt einerseits und andererseits die Einbindung der Einzelnen in die Arbeit, Bildung, Kultur und in politische Prozesse über die unmittelbaren per-sönlichen Lebensbedingungen hinaus bilden zusammen die Lebenswelt der Individuen.

Ein eigenes Leben bedeutet, dass die Einzelnen die vielfältigen ganz persönli-chen Beziehungen in ihrer engeren sozialen Umgebung und ihre Einbindung in Arbeit, politische Prozesse, Kultur oder auch religiöses Leben so kombinieren müssen, dass dabei eine jeweils einmalige Lebenskonstruktion und Biografie entsteht. Ein sinnvolles eigenes Leben ergibt sich nicht durch dessen Redukti-on auf Selbstvermarktung in der Wirtschaft, nicht durch opportunistische An-passung an herrschende Politik und nicht durch gedankenlose Konsumtion des Informationsangebots in den Massenmedien. Ein eigenständiger Lebenssinn ergibt sich dann, wenn die Einzelnen die Kraft finden, trotz der Zwänge, denen sie in der Gesellschaft ausgesetzt sind, nach eigenen Lebensmaßstäben zu su-chen, zu handeln und möglichst viel davon durchzusetzen.

In der Gesellschaft und ihren Teilsystemen geht es immer darum, dass die In-dividuen so funktionieren sollen, wie das den Maßstäben der Märkte, dem Er-halt gegebener politischer Verhältnisse, dem kulturellen Mainstream usw. ent-spricht. Gewiss haben die Einzelnen Verantwortung gegenüber der Gesell-schaft als ganzer. Aber ihr berechtigtes elementares Interesse gilt den Bedin-gungen für ein frei und selbst bestimmtes Leben. Allerdings wird dies nur ge-lingen, wenn dabei solidarisch mit anderen gehandelt wird, weil sonst auch im eigenen Leben nicht auf Solidarität gebaut werden kann.

Vom Standpunkt der kapitalistischen Wirtschaft mag die Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigung funktionsgerecht für höchst-mögliche Profite sein. Von einem emanzipativen, lebensweltlichen Standpunkt aus ist nach existenzsichernder Arbeit für alle zu suchen und ist beispielsweise

nach schrittweiser Einführung eines Bürgerrechts auf ein bedarfsorientiertes soziales Grundeinkommen zu fragen, damit jede und jeder die Möglichkeit er-hält, zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen Nein sagen zu können, ohne die eigene soziale Existenz aufs Spiel zu setzen. In der Lebenswelt der Einzelnen wohnt die Sehnsucht nach Glück, nach Selbstbestimmtheit des Lebens und nach Sicherheiten dafür. Die Bürgerinnen und Bürger wollen in der Gesell-schaft etwas selbst beeinflussen können und nicht abhängig von fremden Mächten sein. In der Lebenswelt – so sehr sie gegenwärtig nach einem Befund von Jürgen Habermas von der Systemwelt kolonialisiert ist – ist Widerstand gegen die Logiken der herrschenden Verhältnisse angelegt. Der Widerstreit von Kapitallogik und Soziallogik ist allgegenwärtig. Ein transformatorisches Projekt sozialökologischen und emanzipatorischen Wandels der Gesellschaft findet in den der Profitdominanz zuwiderlaufenden Seiten der Individualisie-rung und des lebensweltlichen Eigensinns wichtige Grundlagen.

13. These: Empirischer Ansatz: Analyse des öffentlichen Bewusstseins

Im Dokument Sozialismus als Tagesaufgabe (Seite 98-101)