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5   Empirische Analysen und theoretische Exkurse

5.3  Empirische Analyse: Coming-out und „closet“

5.3.1   Theoretischer Exkurs III: Dispositiv der Norm

Wird von Abweichung gesprochen, so ist diese nur in Verbindung mit und durch die Gegenüberstellung von einer Norm möglich, die durch die vorherrschende diskursive Ordnung einer Gesellschaft bestimmt wird. Das Netzwerk, das Institutionen und öffentliche Meinungen umfasst, wird bei Foucault (1983) als Dispositiv bezeichnet. In seinem Werk „Sexualität und Wahrheit“ stellt er wesentliche Werkzeuge für die Diskursanalyse von sex und gender bereit.

Näheres wird an anderer Stelle beschrieben (Kap. „3.3.2 Michel Foucault“). Durch seine Ausführungen hebelt Foucault jene biologistischen Argumente aus, die sich auf die Natürlichkeit von Geschlecht beziehen und dessen Vertreter_innen auf diese Weise die Rollen in der Gesellschaft qua biologischem Geschlecht verteilt sehen wollen.

Die Phänomene Coming-out und closet sind also in ihrem zeitlichen, geographischen und soziokulturellen Kontext zu sehen, als Erscheinung, die der vorherrschende gesellschaftliche Diskurs und dessen Umgang mit den zu Grunde liegenden Verhaltensweisen und Begehrensmustern erst hervorgebracht hat.

Volker Woltersdorff (2005: 29) spricht in diesem Zusammenhang von einer heterosexuellen Herrschaft und fragt:

„Ist [diese] nicht so sehr in die Fundamente der symbolischen, diskursiven und materiellen Ordnung unserer Welt eingelassen, dass sie stillschweigende und unbewusste Vorbedingung unseres Erlebens, Denkens und Wahrnehmens ist?“

Woltersdorff (2005: 29).

Dies wirft die grundsätzliche Fragen auf, wie und ob über Homosexualität gesprochen werden kann, denn die vorherrschende (heteronorme) Ordnung stellt das Vokabular zur Verfügung, mit dem die Menschen ihre „Identitäten“ und Begehrensweisen beschreiben. Hierzu kann der Begriff der Heteronarrativität herangezogen werden, mit dem die Literaturwissenschaftlerin Judith Roof die strukturelle Unmöglichkeit bezeichnet, einen nicht-heteronormen Plot zu erzählen (vgl. Woltersdorff 2005: 29). Anders betrachtet repräsentiert die Sprache, als Teil des Dispositivs der Norm, ein System, durch das die Subjekte innerhalb und außerhalb der Norm verortet werden oder die Subjekte sich selbst innerhalb oder außerhalb der Norm verorten.

Das Coming-out kann mit Foucaults (1983) theoretischen Auseinandersetzungen zu „Geständnis als Modus der Wissensproduktion“ verglichen werden. Frei nach dem Sprichwort „Die Ausnahme bestätigt die Regel“ positioniert sich der homosexuelle Mensch als Ausnahme, um so gleichzeitig die heterosexuelle

„Normalität“ im Grunde zu bestätigen 62 . Dieser Vorgang zeigt die tiefe Verstrickung in der diskursiven Ordnung, die erst durch die gesellschaftlichen Strukturen und deren Akteur_innen verändert werden muss. Hier wird die Forderung Judith Butlers und vieler anderer Queerer Theoretiker_innen verständlich, neue Termini und Denksysteme zu kreieren. Dies könnte zu einem empowerment führen und Räume schaffen, die nicht von einer heteronormativen Ordnung durchdrungen sind.

5.3.1.1 Das closet

Weitere theoretische Ansätze finden sich bei Woltersdorff (2005: 32) zum Thema closet. Neben dem oben beschriebene Bekennen zeigt er noch das Verschweigen und Verschlüsseln als Möglichkeit, Homosexualität zu diskursivieren. Dabei bezieht er sich auf Eve Kosofsky Sedgwick, die mit einer epistemology of the closet das Wissens- und Diskursregime beschreibt, das durch das Abdrängen homosexueller Lebenswirklichkeiten in das closet entsteht. „Das closet umfasst die geheime und verschwiegene Privatsphäre sowie die Subkultur, deren Geltungsbereich weniger an konkrete Orte, sondern an konkrete Praxen geknüpft ist“ (Woltersdorff 2005: 32). So stellt sich dieser durch den Sprechakt des Schweigens hergestellte Raum als Zufluchtsort, aber auch als einengende Gefangenschaft dar und bekommt dadurch einen Doppelcharakter (vgl. ebd.).

Dieses Refugium kann auch als Zwischenstation genutzt werden, um Kräfte und Stärke zu sammeln, die ein Coming-out fordert. Die Gefahr im closet besteht nun darin, dass die Person durch andere geoutet werden kann – so wird dieser Schritt von einer anderen Person usurpiert. Dadurch lässt sich die Person im closet gezwungenermaßen auf ein Machtspiel ein, das stark auf Vertrauen der anderen Personen in diesen (virtuellen) Zufluchtsorten basiert. Dieses Spiel kennt viele Facetten.

Mit Ward und Winstanley (2005: 450) bringe ich andere Termini hinzu, die sich auch auf das Verschweigen und Verschlüsseln beziehen:

passing: Um den Schein einer anderen gesellschaftlichen Rolle aufrecht zu erhalten wird dem Umfeld, das von der versteckten “Identität” nichts wissen soll, etwas vorgespielt. In anderen Worten: es wird gelogen. Dieser Ausdruck wird auch in anderen Zusammenhängen verwendet, wenn eine gesellschaftlich privilegiertere Rolle angenommen oder vorgetäuscht wird, um den Nachteilen der anderen Rolle/Kategorie auszuweichen – z.B.

FtoM63 werden als “Männer” und nicht als Transperson wahrgenommen.

62 Hierzu erläutert auch Judith Butler die Funktionalität von Norm (die hier für Regel steht): „The question of what it is to be outside the norm poses a paradox for thinking, for if the norm renders the social field intelligible and normalizes that field for us, then being outside the norm is in some sense being defined still in relation to it“ (Butler 2004: 42).

63 Female to Male – Transgender/Transsexual

covering: Dabei wird nicht aktiv gelogen, sondern die entlarvenden Details werden einfach umgangen oder ausgelassen – so zu sagen eine Abstufung des passing. Dennoch können die Vorteile der privilegierten Geschlechterrolle in Anspruch genommen werden. So würden Menschen, die sich nach diesem Muster verhalten, keine Scheinehen eingehen, um zum Beispiel der Familie eine heteronorme Wunschfantasie zu erfüllen. Sie würden dieser jedoch auch nicht ihre homosexuellen Empfindungen mitteilen.

Diese Strategien sind nicht nur im Kontext von sexueller Orientierung zu verstehen und können auch auf andere Bereiche umgelegt werden. So wurde das Prinzip passing in ethnischen oder religiösen Kontexten thematisiert.

In ihrer Auflistung folgen zwei weitere Strategien, die sich nur auf das Coming-out beziehen: Being implicitly out und affirming identity. Erstes beschreibt das Vorgehen, wenn Menschen die „entlarvenden“ Details nicht auslassen, dennoch seltener die “Identität” direkt angesprochen oder ausgesprochen wird. Dies passiert bei der Affirmative Identity – hier wollen die Personen als z.B. gay gesehen werden und fordern auch das Umfeld dazu auf, sie auch so zu sehen und zu benennen.

Das Vorgehen des Verschweigens und der Zuflucht kann als Performanz gesehen werden, die Woltersdorff (2005: 33) mit dem Bourdieu’schen Konzept des Habitus in Zusammenhang bringt. Einerseits ist es nötig, sich zu erkennen zu geben, wenn Kontakt mit anderen Homosexuellen hergestellt werden will, andererseits wird durch die Bedrohung von Übergriffen ein Verstecken und Verstellen aufgezwungen. Diese Gratwanderung macht die Personen im closet zu genauen Beobachter_innen ihrer öffentlichen Praxis bezüglich Verhaltensweisen, Auftreten und Interessensbekundungen und sie sammeln so spezielles Wissen zu ihrer eigenen habituellen Bestimmtheit (vgl. ebd.). Durch die ständige Wiederholung schreibt sich das Verhalten in den Körper ein, das passing und covering wird zu einem Teil des Individuums. Mit der Unterscheidung zwischen einem homosexuellen und einem heterosexuellen (in diesem Fall “männlichen”) Habitus macht Woltersdorff (ebd.) es analytisch möglich, gewisse Performanzen zusammenzufassen und gegenüberzustellen. Diese zwei Kategorien reichen jedoch im Kontext von Juchitán nicht aus, um das Feld zu beschreiben. So gibt es in der Selbstsicht zwischen den muxes afeminados und den gays – die durch ihr Nicht-Heterosexuell-Sein in die Kategorie des homosexuellen Habitus fallen würden – wesentliche Unterscheidungen. Doch die Pluralität im Feld ist noch größer wie sich in den weiteren Ausführungen noch zeigen wird.

Das Eintreten in diesen Raum bringt also gewisse Performanzen und spezielles Wissen hervor, der Rahmen orientiert sich unter anderem an den Grenzen zwischen (stereotypen) Hetero- und Homosexualitäten bzw. „Weiblichkeiten“ und

„Männlichkeiten“. Doch dieser Rahmen ist in Bewegung: Was vor 20 Jahren noch als peinliche Entgleisung sanktioniert wurde, kann heute schon gesellschaftlich als Erfolg gefördert werden (Woltersdorff 2005: 34). Doch jeder (zeitliche, geographische, soziokulturelle etc.) Kontext hat seine Regeln für die Akzeptanz oder Ablehnung dieser Inszenierungen, die sich an den Geschlechtergrenzen abarbeiten. „Eines der Prinzipien von Coming-out besteht nun darin, gegen den Filterzwang zu verstoßen und die Grenzen zwischen closet64 und Öffentlichkeit zu verschieben“ (Woltersdorff 2005: 34). Eine Strategie kann darin bestehen, die im closet unterdrückten, als „schwul“ geltende Verkörperungen zu akzentuieren, übertreiben, überzeichnen – wie es zum Beispiel kreischende Fummeltunten auf CSD-Paraden praktizieren (vgl. ebd.).

Das closet ist also ein theoretisches Konstrukt, das den Raum beschreibt, den das Dispositiv der Norm durch die Repression von Homosexualität (in der Öffentlichkeit und über die soziokulturellen Wertvorstellungen der Menschen) herstellt. Gibt es das closet nun wegen oder trotz dieses Dispositivs? Ist es Teil davon? Meines Erachtens gäbe es diesen Raum nicht, wären die Wirkungskräfte des Dispositivs der Norm nicht vorhanden. Dieses veränderliche Konstrukt lässt zwar Adaptionen zu, ein einzelner Mensch hat jedoch keinen Einfluss, sondern nur durch das Zusammenwirken von Menschen die ähnliche Ideen verfolgen.