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5   Empirische Analysen und theoretische Exkurse

5.3  Empirische Analyse: Coming-out und „closet“

5.3.3   Coming-out als Übergangsritual

Diese Übergangsphase kann als Prüfung gesehen werden und diese Erfahrung verbindet viele der muxe und macht sie zu Verbündeten. Die Aufnahme in die Gemeinschaft ist in diesem Fall die Kompensation für die zuvor durchgangenen Mühen der „gesellschaftlichen Prüfung“, die alle zuvor als kollektive Stationen durchlaufen mussten (vgl. Woltersdorff 2005: 107).

Was wird in der Kultur- und Sozialanthropologie als Ritual gesehen? In ihrer Publikation „Ritual und Gender“ zählen die Herausgeberinnen Knoll und Sauer (2006: 9ff.) in der Einleitung das Ritual neben der Performanz und Inszenierung

„[…] zu den zentralen konzeptuellen Denk- und Beschreibungsmodellen, mit denen nicht nur Ausprägungen individueller und kollektiver sozio-kultureller Körper, sondern auch Formen von Identitätsbildung, Vergesellschaftung und Institutionsbildung gefasst werden können.“ Durch die Kultur- und Sozialanthropologie wurde der Begriff erweitert und kann nun gelöst von der (ursprünglichen) Sphäre des Religiös/Sakralen generell verwendet werden. So wird Ritual auch als symbolische und moralische Grenzziehung zwischen Ordnung und Chaos betrachtet, als Kommunikationsmittel aufgefasst, oder – wie im Fall des Coming-outs – als soziale Vorkehrung für krisenhafte Übergänge im Lebens- und Jahreszyklus (vgl. Knoll/Sauer 2006: 10). In diesem Kontext sehen die Autorinnen das Ritual als prozessual und dynamisch, performativ und inszenierend, wobei der Körper und die Körperlichkeit bei der durch das Ritual hergestellten Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielen (vgl. ebd.).

Muxes afeminados erleben nach außen hin, durch den Wechsel des Kleidungsstils oder durch das Verwenden von Make-up, einen Bruch in ihrem Erscheinungsbild.

Wie das Beispiel oben zeigt, ist der intersubjektive Prozess jedoch fließend, da die Nicht-Zugehörigkeit zur „männlichen Welt“ sich schon früh zeigt. Hinzukommt der repetitive Charakter des Rituals, der im Coming-out vor allem durch das Wiederholen des performativen Sprechakts und der für die Außenwelt klar sichtbaren Veränderung im Erscheinungsbild (Kleidung, Bewegung, Make-up) der muxes afeminados zutrifft. Damit wird die Wirklichkeit konstruiert und bestätigt,

“Identität” wird erzeugt und reproduziert. Im Fall der muxe ermöglicht das Ritual Veränderung und eröffnet Räume, in denen Abweichungen und gegenhegemoniale Deutungen und Entwürfe möglich werden (vgl. Knoll/Sauer 2006: 11).

Wie lassen sich diese Elemente zusammenfassen? Hier gibt es laut Gingrich (2006: 27f.) fünf Eckpfeiler:

1. Rituale sind regelmäßig wiederholbare soziale Handlungsabläufe, die sich vom Alltag abheben und Aspekte eines vorherrschenden kollektiven Selbstverständnisses anzeigen.

2. Rituale ordnen und begleiten auf dieser Grundlage die besonderen, nicht-alltäglichen Handlungsabläufe mithilfe ihrer regelmäßig wiederholbaren Formen bestimmte „Übergänge“ im Leben der Menschen. Dadurch gibt es ein „Davor“, ein „Währenddessen“ und ein „Danach“.

3. Rituale weisen räumliche und zeitliche Dramaturgien eines „Verlassens des Bisherigen“ und des „Eintretens in das Neue“ auf.

4. Das Ritual verbindet Menschen, die gemeinsam diesen rituellen Prozess durchlaufen. Innerhalb dieser „rituellen Gemeinschaft“ können die Verhältnisse des Alltags negiert und auf den Kopf gestellt werden, z.B.

„Anti-Struktur“.

5. Rituale haben in ihren Abläufen und Choreographien immer auch eine entscheidende körperliche und emotionale Dimension.

Übertragen wir die Inhalte dieser Liste nun in den Kontext von Juchitán, mit praktischen Beispielen:

Die in Punkt 1 angesprochenen wiederholbaren regelmäßigen Handlungsabläufe sind im veränderten Kleidungsstil und Erscheinungsbild der muxes vestidas &

pintadas zu sehen, die sich vom bisherigen kindlichen und jugendlichen (gegenderten) Alltag abheben. Die Kollektivität kommt durch die bestehende Gemeinschaft der muxes in Juchitán, deren Mitglieder als Vorbilder/role-models fungieren. Der Übergang in Punkt 2 ist die klare Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung der muxes. Waren sie zuvor noch Kinder oder

„männliche“ Jugendliche, haben sie gegen Ende der Transformation durch die Wiederholung einen Wandel vollzogen. Die räumliche und zeitliche Dramaturgie in Punkt 3 variiert von Individuum zu Individuum, vollzieht sich jedoch meist im Laufe des Erwachsenwerdens, wenn nicht die Option des Verbleibens im closet gewählt wird (die jedoch auch einer Sonderform entspricht). Ohne Mitmenschen ist die Transformation nicht möglich, da sie immer sozial eingebunden ist. Wie schon angesprochen, ist die Zugehörigkeit meist schon vor dem Coming-out ausgeprägt und somit ein kontinuierlicher Verlauf. Nicht nur die anderen muxes sind hier als rituelle Gemeinschaft (Punkt 4) zu sehen, sondern vor allem auch das enge soziale Umfeld, das der Person im Übergang beisteht oder sie daran hindert.

Denn nur durch den Widerstand wird die Erfahrung auch zu einer Prüfung. Die Veränderungen der körperlichen und emotionalen Dimensionen (Punkt 5) sind nicht zuletzt durch den sexuellen Kontakt gegeben, beziehen sich aber auch auf die neue Position (damit verbunden ein neuer Status) im sozialen Umfeld, besonders der Familie.

In Gesprächen wurde häufig der Widerstand der Familie erwähnt, den manche muxes beim Coming-out erleben. Einerseits kann dieser als homophobe Haltung gedeutet werden, einer meiner Gesprächspartner hat dies jedoch anders interpretiert. So meinte G. aus Int. 3, dass dieser Widerstand als Teil des rituellen Ablaufs gesehen werden kann. Wenn Jugendliche in ihrer Pubertät Grenzen testen, ihre „Identitäten“ starke Veränderungen erfahren, dann werden viele Varianten und Lebensweisen ausprobiert. Ein Coming-out kann, wenn der Lebensweg linear gedacht wird, als Gabelung gesehen werden, nach deren Durchschreiten es kein Zurück gibt. Die Eltern sorgen mit ihrem prüfenden Verhalten, dass diese nachhaltige Entscheidung bzw. das Bekennen zu einer sexuellen Orientierung und/oder zu einem sozialen Geschlecht (das dem bei der Geburt bestimmten nicht übereinstimmt), auch wohl überdacht wird, sowie die Ernsthaftigkeit und die Folgen berücksichtigt werden. Ist dieser Prozess durchlaufen, gibt es in den meisten Fällen kein Zurück mehr und die Konsequenzen müssen getragen werden. Merken die Eltern, dass die Entscheidung ernst gemeint ist, so ändern auch sie oft die ablehnende Haltung in wohlwollende Unterstützung.