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Theoretische Grundannah- Grundannah-men in Stichworten

Im Dokument Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Seite 35-38)

Teile und Ganzes/Integration und Des-integration: Das scheint eine erkenntnis-theoretische Hauptdimension zu sein. Der Mensch erfasst üblicherweise Teilaspekte, Teilwahrheiten oder einen einseitigen Pol einer übergeordneten Ganzheit. Er selbst ist, wie fast alles, Teil und Ganzes (im Sinne eines Subsystems) zugleich. Ken Wilber würde von Holonen sprechen. Die Entwicklung geht in beide Richtungen: von der Ganzheit zur Vielheit und von den Teil-aspekten zur Ganzheit. Ziel ist, trotz per-manenter Verwandlung, immer wieder ein Ganzes zu werden, in dem alle Teile, auch die problematisch erscheinenden, ihren Ort finden. Der Gestaltaufbau und die Ge-staltauflösung sind zum rechten Zeitpunkt als gleich wichtig zu sehen. (Fixierungen stören den Fluss der Verwandlung.) Das Selbst spiegelt diesen Entwurf.

Polaritäten: Die Welt erscheint polarisiert.

Den erlebten Polen mit ihrem gefühlten

„Entweder-oder“ ist jeweils eine ganzheit-lichere Integrationsebene des „Sowohl-als-auch“, der Ungeschiedenheit, über- oder vorgelagert.

Gestalttherapie – heute

Beispiele: Das emotionale Berührtsein kann sich zu Trauer oder zu Freudentränen entpuppen, hinter Liebe, wie hinter Hass taucht die übergreifende Ebene der emoti-onalen Bedeutsamkeit auf.

Vorder- und Hintergrundexistenz: Dies scheint für Lebewesen eine grundlegende Polarität. Die gerichtete Aufmerksamkeits-energie holt etwas aus dem Hintergrund heraus und erschafft es – für diesen Au-genblick – zu einem bestimmten, subjek-tiv hervorgehobenen Etwas, einem „Sei-enden“, einer „Gestalt“, zu der momentan existierenden Vordergrundfigur (exsistere

= hervorstehen), um sie sehr wahrschein-lich im nächsten Moment wieder in ihren Hintergrund zu entlassen und eine andere

„Gestalt“ zu kreieren. Gestalt ist ein vom Umfeld abgrenzbares, strukturelles Bezie-hungsgefüge, das transponierbar ist, wie eine Melodie. Aber auch ein Feld von be-stimmter Qualität oder von Kräfteverhält-nissen wird als „Gestalt“ aufgefasst.

Es scheint, dass der Heisenbergsche „epi-stemische Schnitt“, bei dem Abläufe auf der Quantenebene durch die energetische Interferenz des Beobachters kollabieren und verändert werden, auf den gleichen Vorgang zurückzuführen ist.

Die energetisierende Gerichtetheit (In-tentionalität) ist in der Gestalttherapie-Tradition auf der Handlungsebene mit

„ad-greddi“, im Sinne von kontaktstiften-dem Herangehen, belegt, einer zunächst neutralen, vormoralischen Kraft, die sich im Sinne des vorigen Abschnitts, sowohl zu einer liebenden, konstruktiven wie auch zu einer zerstörerisch-destruktiven Kraft weiter ausdifferenzieren kann.

Selbstorganisation und Bedürfnishier-archien: Intrapsychisch sorgen offene Be-dürfnisse, deren dringlichstes oder als am bedeutsamsten angesehenes sich selbst-organisatorisch an die Spitze setzt, dafür, dass die Aufmerksamkeitsenergie auf das-jenige Objekt im Außenfeld gelenkt wird, das imstande ist, das aktuell dringlichste, offene Bedürfnis zu befriedigen. Dieser Vorgang verschränkt Innen- und Außen-welt. Die Motivations- und Bedürfnishier-archien reichen von den physiologischen Ebenen über die sozialen bis hin zu

geisti-gen und spirituellen. Der gestufte Aufbau von Grundbedürfnissen und der weiter differenzierenden Bedürfnishierarchien geht auf Abraham Maslow zurück, eine der führenden Gründerpersönlichkeiten der

„Humanistischen Psychologie“, 1962. Das holistische, selbstorganisatorische Konzept stammt von Jan Smuts, 1938.

Begegnung und Kontaktdifferenzierung:

Der große Pate für das gestalttherapeuti-sche Kontaktverständnis ist Martin Buber.

Er unterscheidet den begegnungsfähigen

„Ich-und-Du“-Modus vom affektneutralen, beobachtenden „Ich-Es“-Modus (1923).

Das spiegelt sich im typisch gestaltthera-peutischen Kontakt wider; er sieht eine Doppelfunktion vor:

1. Erkennen eines Gleichklangs induziert eine selektive Grenzöffnung und schafft ein übergeordnetes Feld gemeinsamer Schwingungsqualität, ein nährendes

„Wir-Feld“ auf verschiedenen Ebenen, 2. Erkennen von nicht zuträglicher

Anders-artigkeit verfestigt die Grenze. Beides gilt nach außen wie nach innen, d. h.

auch zu den aktivierten Engrammen.

Im Normalfall werden beide Kontakt-funktionen gleichzeitig aktiviert, wenn auch in einem unterschiedlichen Mi-schungsverhältnis. Beide werden zum Überleben und zur angemessenen, differenzierten Kontaktgestaltung be-nötigt.

Die Mikroanalyse des Kontaktgeschehens wird im Kontaktzyklus beschrieben. In sei-nem typischen Verlauf gibt es immer wie-derkehrende Phasen. Phasenspezifische, habituelle Kontaktunterbrechungen bieten sich als Einteilungskriterien für eine gestalt-therapeutisch spezifische Persönlichkeits-pathologie an.

Therapeutische Anwendung: Wenn die Kontaktaufnahme in analoger Weise nach innen geleitet wird, kann sie für die Re-integration von innerlich Ausgegrenz-tem, bzw. für die Rückverwandlung von Verzerrtem und Entfremdeten und damit zur Therapie und Krisenbewältigung ge-nutzt werden. Dabei kommt es zu einer aufeinander aufbauenden Schrittfolge, eine Art von therapeutischem Wegwei-ser:

1. Sie beginnt beim Ausgegrenzten, sei es ein Impuls, ein Symptom, ein als fremd erlebter Einfall oder Traumaspekt etc., bemüht sich über Identifikation mit ihm um ein ansatzweises Verstehen seiner Aussage,

2. erfasst mit seiner Hilfe den Entwurf der ausgrenzenden Kraft oder Botschaft und dessen Befürchtungen und Moti-vation, begreift dessen Entstehungsge-schichte,

3. reichert das Konfliktfeld zwischen bei-den Polen biographisch an, wagt von beiden Seiten her Dialoge in direkter Rede, um neuen, stimmigeren Kontakt zu bahnen,

4. die zur Begegnung führen, evtl. mit ka-thartischer Explosion, Bezie-hungs- und Identitätsveränderung und verinnerlicht die neue Situation, 8. gibt ihr auch nach außen hin Ausdruck,

evtl. im Probehandeln,

9. geht in die Metaperspektive der inneren Ausgeglichenheit.

(Dieser Prozess findet sich unter dem Stichwort „Verwandlungszyklus“.)

Persönlichkeitsmodell: Das Selbst lässt sich mit seinen wechselnden Grenzen aufgrund von Resonanzen als eine Art semibegrenztes, kohärentes, stehendes, nicht-lokales Feld mit partieller Bewusst-seinsfähigkeit verstehen. Seine Qualität ist ganzheitsorientiert; seine Fähigkeit, disso-nante Schwingungen zu tolerieren, nimmt parallel zu seiner Reifung zu. Es weist ei-nen oszillierenden Kontakt nach inei-nen und außen auf. Ein weiterer Beschreibungsver-such ist das des „offenen Systems im Fließgleichgewicht“. (Bereits Freud hat-te einmal mit der Dynamisierung seines Strukturmodells in Richtung Fließgleichge-wicht geliebäugelt, hatte diesen Gedanken aber nicht weiter ausgeführt.)

Das „Ich“ wird von Fritz Perls, mit der

„Pfeilspitze“ des

Aufmerksamkeits-L. Hartmann-Kottek

strahls, dem energiereichsten Ort des Systems, gleichgesetzt. Analog zum tradi-tionellen „Es“ Freuds werden bei Perls die selbstorganisatorischen Bedürfnishie-rarchien zugeordnet; die Persönlichkeit wird in den Erinnerungsspuren des Ge-dächtnisspeichers verankert gesehen.

In Abweichung zur einheitlichen Instanz des Freud´schen Über-Ichs/Ich-Ideals wird eine Vielfalt an stimmigen und unstim-migen Verinnerlichungen, Werten, Über-zeugungen, Überlebensstrategien etc.

gesehen, die (idealerweise) lebenslang nachsortiert und auf ihre aktuelle Überein-stimmung mit der Erfahrung immer wieder neu überprüft werden wollen. Stimmige Erfahrung wird assimiliert und stärkt die Eigenschwingung.

Assimilierte Substanz, Stimmigkeit, in-nere Autonomie: Die assimilierte Sub-stanz ist die Summe der Erinnerungs-spuren, die (ausreichend) konfliktfrei abgesintert sind und zu einem (ausrei-chend) integrierten, meist nicht verbali-sierungsfähigen basalen Selbstverständnis mit einer typischen, ich-syntonen Grund-schwingung (Grundgefühl) beigetragen haben. Begünstigende Erinnerungsspuren hierfür sind sichere und empathische Beziehungserfahrungen. Sie gilt als Ort der autonomen „inneren Stimme“, der Intuition und als unterstützender, innerer Halt („self-support“). Zunehmende innere Stimmigkeit ist ein gestalttherapeutisches Reifungsziel. Gestaltpsychologisch heißt

das, ein Ganzes zu werden, in dem auch die Teile, die primär schwierig unterzubrin-gen waren, ihren Platz gefunden haben.

Gesundheit und Krankheit werden über das Ausmaß von Integration, die zur Stim-migkeit und Ganzheitlichkeit führt, bzw.

über unfreiwillige, innere Kontaktunter-brechung, bzw. Desintegration, definiert.

Sprachgeschichtlich verweisen whole, heil, healthy aufeinander.

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Dr. med. Dipl.-Psych.

Lotte Hartmann-Kottek Eichholzweg 8a

34132 Kassel

lotte.hartmann-kottek@t-online.de

Juliane Dürkop im Gespräch mit Dr. phil. Lothar Wittmann, ehemaliger Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen und wesentlicher Mitgestalter der psycho-therapeutischen Berufs- und Kammerpolitik der letzten 15 Jahre.

Dr. Lothar Wittmann war maßgeblich an der Gründung der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen – der zweiten in Deutschland gegründeten Psychotherapeutenkam-mer – beteiligt und wurde im Jahr 2000 in deren Vorstand gewählt. Von 2001 bis 2010 war er Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen. Im ersten Bundes-kammervorstand war er Vizepräsident. Auch das Psychotherapeutenjournal hat er mit ins Leben gerufen und war mehrere Jahre Mitglied des Redaktionsbeirates.

Dr. Lothar Wittmann (*1948) studierte Psychologie in Erlangen und Marburg. Anschlie-ßend arbeitete er als Assistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik Marburg und promovierte 1980. 1983 ging er als Leiter der Forschungs- und Beratungsstelle der Ab-teilung Klinische Psychologie an die Universität Zürich. 1988 bis 1990 übernahm er die Leitung des Beratungszentrums für Studierende der Universität Hamburg. Bereits ab 1987 war er im Delegationsverfahren für Verhaltenstherapie zugelassen, seine Praxis gründete er 1988. Seit 1998 hat er einen (Kassen-)Praxissitz im Nordseebad Ottern-dorf. Daneben ist er seit 1998 Dozent und Supervisor an staatlich zugelassenen Aus-bildungsinstituten für Psychotherapie und Lehrbeauftragter der Universität Hildesheim.

Dr. Lothar Wittmann ist verheiratet und hat drei Kinder.

Interview mit Dr. Lothar Wittmann,

Im Dokument Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Seite 35-38)