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2 T EIL II: E PIDEMIOLOGIE DES E ISENBAHNSUIZIDS UNTER

2.6 Diskussion der Ergebnisse

2.6.2 Temporale Muster im suizidalen Verhalten auf dem Bahngleis

Als weiteres wichtiges Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zum suizidalen Verhalten auf dem Bahngleis konnte gezeigt werden, dass es ausgeprägte temporale Asymmetrien in den monatlichen, wochen-täglichen und zirkadianen Verteilungen von Bahnsuiziden gibt, die zudem geschlechtsspezifische Besonderheiten aufweisen.

Diskussion der Ergebnisse

2.6.2.1 Monatliche Ungleichverteilung

In der bisherigen Literatur wurde beschrieben, dass vor allem bei harten Suizidmethoden statistisch bedeutsame saisonale Asym-metrien in der Häufigkeit des suizidalen Geschehens gefunden wer-den konnten (Maes et al. 1993, Hakko et al. 1998a,b). In der vorlie-genden Studie konnte dieser Befund insbesondere für die Gruppe der (jüngeren) männlichen Suizidenten bestätigt werden, da die Daten dieser Gruppe durch bedeutsame Ungleichverteilungen über die Mo-nate hinweg und Häufigkeitsgipfel im April und September bzw.

durch ein Tief im Dezember charakterisiert sind. Die Beobachtung ei-ner größeren Saisonalität im suizidalen Verhalten von Mänei-nern bes-tätigt frühere Befunde aus dem Bahnbereich, wie sie von Schmidtke (1994) und Deisenhammer et al. (1997) berichtet wurden, bzw. auch Befunde zum suizidalen Verhalten allgemein (Meares et al. 1981, Micciolo et al. 1991).

Interessanterweise erwies sich die gefundene Saisonalität nur für die Jahre 1997 bis 1999 als besonders ausgeprägt. In den Jahren 2000 bis 2002 konnte keine monatliche Ungleichverteilung mehr entdeckt werden. Möglicherweise deutet dieses Ergebnis auf eine allmählich abnehmende Asymmetrie im suizidalen Verhalten hin, wie dies be-reits von Rihmer et al. (1998), Yip et al. (2000) und Parker et al.

(2001) beschrieben wurde. Rihmer und Kollegen (1998) vermuteten in diesem Zusammenhang, dass der Rückgang der Saisonalität mit einer verbesserten Behandlung depressiver Störungen zusammen-hängt: Durch den stärker verbreiteten Einsatz antidepressiver Medi-kation, insbesondere durch den Einsatz selektiver Serotonin-Wieder-aufnahme-Hemmer, die sich in der Praxis als besser verträglich, leichter dosierbar und zudem mit fehlendem suizidalem Potential be-haftet erwiesen haben, werden Depressionen besser behandelbar und Suizide im Rahmen depressiver Episoden seltener. Entsprechend könnte nach Ansicht der Autoren die Stärke der verzeichneten

zeitli-chen Variationen von suizidalem Verhalten die Rate der Suizide im Rahmen saisonal verlaufender affektiver Erkrankungen anzeigen.

Diese Vermutung blieb in der Literatur allerdings nicht unumstritten (Partonen et al. 2004a,b, van Houwelingen & Beersma 2001b), könn-te durch die vorliegende Unkönn-tersuchung jedoch Bestätigung finden.

2.6.2.2 Wochentägliche Ungleichverteilung

Die Ergebnisse zur wochentäglichen Verteilung von suizidalem Ver-halten auf dem Bahngleis mit einem Gipfel zu Wochenbeginn stim-men mit früheren Studienergebnissen zum Bahnsuizid und Suizid all-gemein überein, die allesamt eine Häufung von suizidalem Verhalten zu Wochenbeginn beobachteten (Schmidtke 1994, Angermeyer &

Massing 1995, Deisenhammer et al. 1997, van Houwelingen &

Beersma 2001a). Dieser Befund lässt sich wohl am besten als ein so-zialpsychologisches Phänomen begreifen. In unserer christlich ge-prägten Gesellschaft, mit dem Sonntag als dem arbeitsfreien Tag der Woche, sieht sich der psychisch erkrankte oder labile Mensch im Ver-gleich mit seiner Umwelt in der Regel an Montagen und Dienstagen am stärksten mit seinem (krankheitsbedingten) defizitären „Funktio-nieren“ konfrontiert: Zu Wochenbeginn werden im besonderen Maße Gefühle der Minderwertigkeit, Schuld, Einsamkeit und Hoffnungslosig-keit provoziert, wenn aus der, möglicherweise auch verzerrten, ne-gativen Sicht des Kranken „alle anderen“ außer ihm selbst durch ihre Pflichten in Arbeit und Beruf wieder sinnvoll beschäftigt scheinen.

Für diese sozialpsychologische Erklärung spricht, dass Modan (1970) für Israel als einem Land, in dem aufgrund der jüdischen Religion der Samstag als Feiertag gilt und die Woche mit dem Sonntag beginnt, tatsächlich einen Suizidhäufigkeitsgipfel an Sonntagen beschrieb.

Dass sich in den vorliegenden Daten für Frauen ein weiterer Gipfel an Freitagen abzeichnet, könnte darauf hinweisen, dass für Frauen in

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der Rolle einer Hausfrau das Wochenende eine andere, nicht immer nur entlastende Bedeutung hat, bzw. dass für Frauen nicht die An-sprüche an Leistung und Kompetenz im Berufsleben die Hauptbelas-tung darstellen, sondern auch und insbesondere familiäre Erwartun-gen Auslöser für psychische Krisen darstellen (cf. Canetto &

Sakinofsky 1998).

2.6.2.3 Zirkadiane Ungleichverteilung

In der Literatur wurde ehemals beschrieben, dass sich suizidales Verhalten insbesondere in den Tagesstunden ereignet (Barraclough 1976). Abgesehen davon, dass nachts die Zeit des Schlafens ist und die familiäre „Kontrolle“ größer ist, lassen sich photoperiodische Ein-flüsse auf den Serotoninhaushalt des Körpers vermuten, dessen Stö-rung als Ursache für suizidales Verhalten angenommen wird (cf.

Mann 1998, 2001).

Auch in der vorliegenden Studie nahm sich der Großteil aller Suizid-enten tagsüber das Leben. Im Falle des Bahnsuizids mag dies auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass in der Zeit zwischen 6.00 und 21.00 Uhr ca. 70% des Bahnverkehrs stattfinden, und somit die Chance für einen Suizid aufgrund der breiteren Verfügbarkeit der speziellen Methode höher ist. Unter Berücksichtigung des Ge-schlechts zeigte sich jedoch, dass sich insbesondere Frauen in den helllichten Tagesstunden das Leben nehmen, während Männer eher die Dunkelheit abzuwarten scheinen.

Das suizidale Verhalten war insgesamt von einem zweigipfeligen Ver-lauf mit Maxima in den Morgen- bzw. Nachmittagsstunden gekenn-zeichnet. Die Daten zeigen jedoch weiter, was auch von anderen Au-toren für Suizide auf dem Gleiskörper beschrieben wurde (Schmidtke 1994, Deisenhammer et al. 1997, van Houwelingen & Beersma 2001a), nämlich dass Frauen sich eher in den Vormittagsstunden

sui-zidieren, während Männer verhältnismäßig häufiger am Ende eines Tages suizidal werden.

Die zirkadiane Verteilung unterschied sich in den vorliegenden Ana-lysen abhängig von der Jahreszeit: Die Morgen- und Abendmaxima verschoben sich in den Sommermonaten, verglichen mit den Winter-monaten, zeitlich deutlich nach vorne in Richtung Sonnenaufgang bzw. nach hinten in Richtung Sonnenuntergang. Dabei waren vor al-lem in den Sommermonaten der beschriebene Abendgipfel bei den Männern und der Morgengipfel bei den Frauen zu erkennen. Diese offensichtliche Interaktion von Jahres- und Tageszeit mit ge-schlechtsspezifischen Unterschieden wurde auch von Schmidtke (1994) sowie van Houwelingen und Beersma (2001a) beschrieben.

Dieser Befund könnte auch darauf hinweisen, dass sich die Saisonali-tät von suizidalem Verhalten auf dem Bahngleis nicht unbedingt re-duziert, sondern im Sinne einer saisonalen Modulation der zirkadia-nen Verteilung gleichsam subtilere Wege nimmt (van Houwelingen &

Beersma 2001b): Gipfel im suizidalen Verhalten um die Zeit des Son-nenaufgangs bzw. Sonnenuntergangs mit geschlechtsspezifischen Differenzen deuten stark darauf hin, dass das hier beobachtete suizi-dale Verhalten auch von biologischen Faktoren determiniert ist, die unter dem Einfluss von zirkannualen und zirkadianen Lichtverhältnis-sen stehen, und dass es sich, entsprechend den Veränderungen der Lichtverhältnisse, über das Jahr hinweg unterschiedlich manifestiert.

Die gefundenen geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich vermutlich zum einen durch sozialpsychologische Einflüsse bzw. ge-schlechtsspezifische Tagesabläufe erklären: Während vor allem Hausfrauen, nach Verabschiedung ihrer Familienmitglieder für den Tag, zu Hause in Not geraten, dann ihrer Verzweiflung nachgehen und aufgrund fehlender Beobachtung auch nachgehen können, sind die krisenhaften Momente im Leben von Männern eher am Ende eines

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Arbeitstages zu erwarten, wenn Enttäuschungen, Kränkungen oder Ängste der Arbeitswelt verarbeitet werden müssen.

Auch scheint aufgrund des Wissens um das Rollenverhalten und die Rollenerwartungen von Männern und Frauen, die sich auch bei suizi-dalen Handlungen manifestieren (Wilson 1981, Canetto & Sakinofsky 1998), die Annahme zulässig, dass Männer möglicherweise größere Vorsicht als Frauen darin walten lassen, nicht etwa im Licht des Ta-ges durch die Umgebung bei ihrer finalen Handlung entdeckt und darin gehindert zu werden.

Zum Dritten könnte diese Beobachtung unterschiedlicher zirkadianer Rhythmen geschlechtsspezifische photoperiodische Rhythmen anzei-gen, die dem suizidalen Verhalten von Frauen und Männern in unter-schiedlicher Weise zugrunde liegen.

2.6.3 Regionale und lokale Cluster suizidalen Verhaltens von