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2 T EIL II: E PIDEMIOLOGIE DES E ISENBAHNSUIZIDS UNTER

2.6 Diskussion der Ergebnisse

2.6.4 Der Ausgang des suizidalen Verhaltens von Frauen und Männern im

Ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Untersuchung war der Be-fund, dass ca. 10% aller Bahnsuizidenten suizidales Verhalten am Bahngleis überlebten. Dieses Ergebnis auf der Basis eines repräsen-tativen Datensatzes für das Bahngesamtnetz Deutschlands stimmt überraschend deutlich mit bisherigen Forschungsbefunden aus ver-schiedenen Ländern Europas überein (Veress & Szabo 1980, Linde-kilde & Wang 1985, Schmidtke 1994, Deisenhammer et al. 1997, Kerkhof 2003). Durch die beobachtete Letalität von mindestens 90%

aller Versuche wird auch die Klassifikation eines Bahnsuizids als har-ter Suizidversuch ohne große Rettungschancen eindeutig bestätigt.

Dennoch bleibt die Frage, wie sich die Gruppe der überlebenden Op-fer charakterisieren lässt.

Ein äußerst überraschendes Ergebnis der vorliegenden Untersuchung findet sich darin, dass es eine Reihe von umwelt- und personenge-bundenen Faktoren zu geben scheint, die das Überleben eines

Sui-Diskussion der Ergebnisse

zids vorhersagbar machen. Bei Frauen fand sich gegenüber Männern eine doppelt so große Chance, den Suizidversuch zu überleben. Die Letalität von Suizidversuchen auf freier Strecke war hingegen sogar um das Dreifache gegenüber Suizidversuchen im Bahnhofsbereich erhöht. Auch suizidale Handlungen in den Wintermonaten bzw. vor allem in den Nachtstunden waren im Vergleich zu suizidalen Hand-lungen in den Sommermonaten bzw. vor allem Tagesstunden mit ei-ner signifikant höheren Fatalität assoziiert.

Die Tatsache, dass Frauen häufiger einen Suizidversuch überleben, entspricht zunächst den Erwartungen. Es wurde beschrieben, dass Männer Suizidversuche sorgfältiger planen und stärker darauf ach-ten, bei der suizidalen Handlung unbeobachtet zu sein, während Frauen mit der suizidalen Handlung häufiger einen Hilferuf ausdrü-cken, indem sie den Versuch auf eine Weise ausführen, der Entde-ckung und damit auch Rettung eher ermöglichen kann (Rich et al.

1988, Maes et al. 1993, Canetto & Sakinofsky 1998, Hawton 2000).

In der vorliegenden Untersuchung könnten die geschlechtsspezifi-schen Unterschiede in der Überlebenschance bei gleicher Suizidme-thode zum Teil dadurch erklärt werden, dass Frauen häufiger den Bahnhofsbereich als Suizidort und die Tagesstunden als Suizidzeit wählten. Suizide im Bahnhofsbereich inmitten der Öffentlichkeit bei deutlicher Reduktion der Fahrgeschwindigkeit einfahrender Züge sind vergleichbar mit U-Bahnsuiziden, deren Fatalität selten über 60%

liegt (O´Donnell & Farmer 1992, Ladwig & Baumert 2004). Allerdings blieben in der vorliegenden Untersuchung auch nach multivariater Kontrolle des Suizidortes und der Suizidzeit die Unterschiede in der Fatalität suizidalen Verhaltens von Frauen und Männern signifikant.

Dies deutet auf weitere geschlechtsspezifische Prozesse hin, die dem suizidalen Verhalten zugrundezuliegen scheinen.

Ein weiteres Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zur Fatalität suizidalen Verhaltens im Gleisbereich betrifft die

geschlechtsspe-zifisch modulierten, unterschiedlichen zeitlichen Muster vollzogener und versuchter Suizide mittels derselben Methode. Suizidversuche in den Wintermonaten und den Nachtstunden zeichneten sich durch ei-ne gegenüber den Sommermonaten und Tagesstunden erhöhte Fata-lität aus. Nicht-fatale Suizide wurden insbesondere im Monat August und bei vollem Tageslicht beobachtet, während vollzogene Suizide bimodale Verteilungskurven mit Gipfel in den Monaten April und Sep-tember bzw. in den Morgen- und frühen Abendstunden aufwiesen.

Die Verteilungsmuster der suizidalen Handlungen von Frauen und Männer erwiesen sich nach Geschlechtsstratifikation dabei leicht un-terschiedlich. So nahm die Jahreszeit, anders als bei den Frauen, keinen Einfluss auf die Fatalität von Suiziden von Männern, bzw.

häuften sich non-fatale Suizide von Männern und Frauen zu unter-schiedlichen Tageszeiten.

Wie bereits dargestellt, wurden in der Literatur vor allem für harte Suizidversuche zeitliche Asymmetrien beschrieben (Maes et al. 1993, Preti & Miotto 1998, Hakko et al. 1998b). So beobachteten beispiels-weise Preti und Miotto (2000) nur bei harten Suizidmethoden eine deutliche Saisonalität. Räsänen et al. (2002) berichteten, dass sich eine Reihe harter und weicher Suizidmethoden mittels der jeweils ge-fundenen saisonalen Rhythmen typisieren lassen. Ajdacic-Gross et al.

(2003) beobachteten ebenfalls, abhängig von der Suizidmethode, un-terschiedliche saisonale Rhythmen. Schließlich fanden Yip and Yang (2004) nur für Suizidversuche ausgeprägte zeitliche Rhythmen, nicht jedoch für vollzogene Suizide. In der vorliegenden Studie wurden zum ersten Mal die saisonalen Variationen fataler und non-fataler su-izidaler Handlungen

einer

Suizidmethode untersucht. Das Ergebnis unterschiedlicher Ausgänge je nach Jahres- und Tageszeit sowie Ge-schlecht deutet darauf hin, dass das Licht einen eindeutig präventi-ven Faktor bei Suizidalität darstellt. Es unterstützt damit die Bedeu-tung photoperiodischer Variablen unter Berücksichtigung des

Diskussion der Ergebnisse

Geschlechtsfaktors im Rahmen der Suizidprävention bzw. bei der Einschätzung des Suizidrisikos eines einzelnen Patienten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gefundenen örtlichen und zeitlichen Aspekte, die auch unter multivariater Analyse statis-tisch bedeutsam bleiben, deutlich darauf hinweisen, dass das Risiko, bei einem Bahnsuizid zu sterben, bzw. die Chance, ihn doch zu über-leben, nicht nur zufällig sind. Die höhere Überlebenschance an Bahn-höfen und bei Tageslicht liegt dabei möglicherweise an der rascheren Verfügbarkeit von Rettungsdiensten in der Öffentlichkeit des Bahn-steigbereichs, bei Tageslicht oder in den Sommermonaten. Auch die Tatsache, dass deutlich mehr Frauen als Männer überleben, zeigt, dass selbst eine harte Suizidmethode wie der Bahnsuizid eine gewis-se Spanne an Ambivalenz zulässt.

Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass der Ausgang eines jeden suizidalen Verhaltens nicht nur das Ergebnis seiner Letalität darstellt; vielmehr bedeutet er das Ergebnis eines komplexen Zu-sammenspiels von Letalität und Intention (Mann 2002) sowie der Möglichkeit, das Geschehen in irgendeiner Weise zu beobachten, worauf Chew und McCleary (1995) aufmerksam gemacht haben.

Durch den Faktor „Beobachtung“ kommt es dabei vermutlich nicht nur doch zur Möglichkeit einer Rettung, wo Rettung zunächst nicht machbar scheint, sondern zudem auch zur Störung des Gefühls von Privatheit und einer Irritation des Tunnelblicks im Rahmen des präsu-izidalen Syndroms (Ringel 1953) mit der Konsequenz eines weniger entschlossenen Handelns. Hawton (2001) und Douglas et al. (2004) haben derartige, gleichsam modifizierte harte Suizidversuche, die sich durch einen höheren Grad an Ambivalenz von anderen harten Suizidversuchen unterscheiden, in jüngerer Zeit als „fast letale Sui-zidversuche“ bzw. „fast-fatale Selbstverletzungen“ bezeichnet. Diese stellen wohl auch das Verhalten dar, das einer effektiven Suizidprä-vention am ehesten zugänglich scheint.