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TÜRKISCHE ORGANISATIONEN

B. ISLAMISTISCHER EXTREMISMUS UND

4. TÜRKISCHE ORGANISATIONEN

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81 4.1 „MILLI-GÖRÜS“-BEWEGUNG

GRÜNDUNG: Ende der 1960er Jahre durch Necmettin ERBAKAN in der Türkei; ab 1972 in Deutschland unter wechselnden Bezeich-nungen organisiert. Ab 1985 Nachfolgeorganisation „Avrupa Milli Görüs Teskilatlari“ („Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa“, AMGT), 1995 aufgespalten in „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V.“ (IGMG) und „Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft“ (EMUG); weitere „Milli Görüs“-Ableger sind „Saadet Partisi“ („Partei der Glückseligkeit, SP“) und „Ismail Aga Cemaati“ (IAC).

SITZ: IGMG:Kerpen/Nordrhein-Westfalen; in Baden-Württemberg:

Regionalzentralen in Stuttgart, Ulm und Villingen-Schwennin-gen

SP: Köln; regionale Vertretungen in Stuttgart, Karlsruhe und Mannheim

MITGLIEDER: IGMG:ca. 2.200 Baden-Württemberg18(2015: 2.200) (Deutschland 2015: ca. 31.000)

SP: keine genauen Angaben möglich; derzeit geschätzt ca. 30 An -hänger in Baden-Württemberg

IAC: keine genauen Angaben möglich; derzeit geschätzt ca. 30 An -hänger in Baden-Württemberg

PUBLIKATIONEN: Gesamte Bewegung: Tageszeitung „Milli Gazete“ (Europa-Ausgabe)

IGMG:Verbandszeitschrift „Perspektif“ und Verbandszeitung

„camia“ (beide türkischsprachig)

Die religiöspolitische Bewegung „Milli Görüs“ („Nationale Sicht“) ist ein Sammel -becken von Anhängern des 2011 verstorbenen Politikers Necmettin ERBAKAN.

Ab 1970 hat sie sich in der Türkei in einer Reihe aufeinanderfolgender Parteien organisiert. Sie will eine „Gerechte Ordnung“ auf der Grundlage des Islams be-gründen, die langfristig alle anderen, als „nichtig“ erachteten politischen Systeme ablösen soll. Diese gemeinsame Zielsetzung eint alle Institutionen, die sich auf

„Milli Görüs“ berufen.

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positioneller türkischer Gruppen weiter verstärkt. Im Fokus der Verfassungs-schutzbehörden steht jedoch nur der-jenige Teil des betreffenden Spektrums, der belegbar verfassungsfeindlich agiert.

Für den 31. Juli 2016 mobilisierte die AKP-Plattform Union Europäisch-Tür-kischer Demokraten (UETD)17zu ei ner

„Demonstration für Demokratie und gegen den Putsch“ in Köln. Bei der Veranstaltung wurden fast ausschließ-lich türkische Nationalflaggen gezeigt.

Aufgrund der Entstehungsgeschichte der AKP, die aus der „Milli-Görüs“-Be-wegung hervorgegangen ist, kann davon

ausgegangen werden, dass an der De-monstration auch Anhänger von Or-ganisationen teilgenommen haben, die unter Beobachtung der Sicherheits-behörden stehen, etwa der IGMG. Ein weiteres Mal rief die UETD im Novem -ber 2016 zu Demonstrationen unter dem Motto „Fluch dem Terror – Ein-ladung zur Demokratie“ in europäi-schen Großstädten wie Berlin, Paris, Rotterdam und Straßburg auf. Unter dem Begriff „Terror“ wurden hier die

„Ar beiterpartei Kurdistans“ (PKK) und ihr nahestehende Organisationen mit dem „Islamischen Staat“ und der Gülen-Bewegung gleichgesetzt.

Seit Jahren wirbt die Regierung – in An lehnung an das Konzept einer „Wie -dererstarkten Türkei“ mit neo-osma-nischen Bestrebungen, das bereits der 2011 verstorbene islamistische Politiker Necmettin ERBAKAN favorisierte – für eine „Neue Türkei“. Der politische Umbau der türkischen Republik, der eine Stärkung von Religion und Natio-nalismus einschließt, wird derzeit voll-zogen. Anhänger und Gegner dieser Politik, die zudem auch untereinander gespalten sind (Angehörige türkischer oder kurdischer Ethnie; Sunniten oder Aleviten; Befürworter eines laizistisch, säkular oder religiös organisierten Staats -wesens), stehen sich gegenüber – auch in Deutschland.

Werbung für die Veranstaltung in Straßburg.

17 Die UETD wird ebenfalls nicht beobachtet.

18 Die Angabe zum Personenpotenzial der IGMG 2016 enthält die geschätzte Zahl von maßgeb-lichen Funktionsträgern innerhalb der IGMG in Baden-Württemberg. Zu den Mitgliedern bzw. der Anhängerschaft der Bewegung insgesamt sind keine verlässlichen Zahlenangaben möglich.

Bei der 9. Hauptversammlung der IGMG am 15. Mai 2016 wurde der Generalvorsitzende Kemal ERGÜN im Amt bestätigt.

Der IGMGFrauenverband beging am 12. No -vember 2016 den 25. Jahrestag seiner Grün-dung.

Die „Saadet Partisi“ führte in Baden-Würt-temberg Veranstaltungen durch, bei denen Parteivertreter aus der Türkei auftraten.

EREIGNISSE IM JAHR 2016:

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83 HISTORISCH-IDEOLOGISCHER

HINTERGRUND

„Milli Görüs“ (wörtlich: die „Nationale Sicht[weise]“) ist eine von Necmettin ERBAKAN (1926–2011) ausgearbeitete politische Ideologie. Diese ist in der 1975 veröffentlichten gleichnamigen Schrift und in dem ab den 1970er Jahren entwickelten Konzept „Adil Düzen“

(„Gerechte Ordnung“) niedergelegt.

Der Kern ihrer politischen Program-matik besteht in der Annahme einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwei -er politisch-er Systeme: d-er auf prophe-tischer Überlieferung basierenden Ord-nung des „Rechts“ („hak“; auch: Gottes, der Wahrheit/des Islams) und derjeni-gen des „Unrechts“ („batil“; auch: des Falschen, Nichtigen/Nichtislamischen).

Nach diesem Konzept verkörpert die westliche Welt die Ordnung des „Un-rechts“, die laut ERBAKAN ihre Vor-läufer in der ägyptisch-pharaonischen, griechischen und römischen Ordnung hat und langfristig von der islamischen Ordnung abgelöst werden soll. Klassi-sche Feindbilder im Sinne ERBAKANs sind Zionismus, Kommunismus und Ka pitalismus wie auch der „rassistische Imperialismus der USA und der EU“.

Auf der politischen Bühne manifestier -te sich die „Milli-Görüs“-Bewegung in der Türkei ab 1970 in einer Reihe auf-einanderfolgender Parteien, von denen

die von 1983 bis 1997 bestehende „Re -fah Partisi“ („Wohl-fahrtspartei“, RP) die bedeutendste war.

IDENTIFIKATIONSFIGUR ERBAKAN

Mehr als 40 Jahre lang lenkte und präg te Necmettin ERBAKAN die „Milli-Görüs“-Bewegung nicht nur in der Türkei. In seiner Person verfügt die Bewegung über eine zentrale Identifi-kationsfigur. Nach ERBAKANs Tod ging die IGMG, die in Deutschland als Ansprechpartner für den Staat in Fra-gen des Islams wahrFra-genommen wer-den will, dazu über, die Verbindung zu ihm nach außen hin zu relativieren.

Eine fortdauernde Inspiration durch seine Person ist jedoch weiterhin zu er kennen. So wurde etwa bei einer Ver-anstaltung des Ortsvereins Tübingen im Januar 2016 der Ursprung der „Milli Görüs“ in Europa thematisiert und dem

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Die größte und bedeutendste Organisation mit „Milli-Görüs“-Ursprung in Deutschland ist die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V.“ (IGMG). Ihre legalistische Strategie verfolgt das Ziel, aus dem islamischen Recht abgeleiteten Normen so weit als möglich Geltung zu verschaffen. Unter Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit nutzt sie die demokratischen Strukturen. Die Etablierung einer „islamischen Ordnung“ würde jedoch wesentliche Verfassungs-grundsätze außer Kraft setzen.

Die Entwicklung einer soliden islamischen Identität ist nach Auffassung der IGMG Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration ihrer Anhänger in die Gesell schaft.

Dementsprechend liegt ihr Tätigkeitsschwerpunkt auch in Baden-Württemberg auf einer intensiven islamischen Bildungsarbeit und dem Ausbau der dafür not-wendigen Infrastruktur. Während die Organisation nach außen hin moderat und dialogorientiert auftritt, weist sie nach innen Merkmale eines geschlossenen, ganz auf die muslimische Weltgemeinschaft ausgerichteten Systems auf.

Auch die Mutterpartei der „Milli-Görüs“-Bewegung in der Türkei, die „Saadet Partisi“ („Partei der Glückseligkeit“, SP), unterhält als politischer Arm der Bewegung eigene Strukturen in Deutschland. Eine Reihe ihrer Funktionsträger war früher in der IGMG aktiv. Ziel der SP in Deutschland ist es, ihre ideolo-gischen Positionen unter den türkeistämmigen Muslimen zu verbreiten. Darüber hinaus sind in Deutschland Gruppierungen wie die „Ismail Aga Cemaati“

aktiv. Diese entstammen dem mystisch geprägten Substrat der „Milli-Görüs“-Bewegung und agieren entsprechend der Praxis des Mutterordens der Naksi-bendiye stark introvertiert.

Necmettin ERBAKAN

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zeitig ihre Deutschland- und Europa-zentrale. Sie bündelt und koordiniert die religiösen und sozialen Dienstleis -tungen, die Bildungs- und Öffentlich-keitsarbeit sowie die übrigen Auf-gabenfelder der Organisation in den Regionalverbänden und Ortsvereinen.

Darüber hinaus gibt sie die Strategie der Gemeinschaft zu grundlegenden Themen vor. Die IGMG versteht sich als eine der „Umma“ (muslimische Welt gemeinschaft) verpflichtete Orga-nisation, die „den Islam“ repräsentiert.

Insgesamt 30 europäische Regionalverbände, davon 15 in Deutschland, fungie -ren als Bindeglieder zwischen Zent-rale und örtlichen Moscheevereinen und koordinieren deren Aktivitäten.

Die IGMG ist das dominierende Mitglied im „Islamrat für die Bundesrepub -lik Deutschland“. Sie ist darüber hi-naus in dem der „Muslimbruderschaft“

verpflich teten „European Council for Fatwa and Research“ (ECFR)19vertreten.

In ihrer 2015 neu aufgelegten Selbst-darstellung definiert sich die IGMG als Religionsgemeinschaft mit dem „Ziel der Vermittlung und Pflege des islami-schen Glaubens, seiner Verwirklichung in allen sozialen Bezügen und der Er-füllung der koranischen Gebote“. Den Islam zu leben bedeutet demnach, „un -abhängig von geographischen Grenzen und traditionellen Kulturräumen das

Leben in allen Belangen an den Maß-stäben des Korans und der Sunna des Propheten auszurichten“. Die Organi-sation sieht sich als „eine Gemeinschaft, die der umfassenden Religionsverwirk-lichung dient“.

Die umfangreiche religiöse Jugend-und Bildungsarbeit bildet folglich den Kern ihrer Aktivitäten. Über die Jahre hat die Organisation ihre Bildungsan-gebote ausgebaut und die erforderliche Infrastruktur geschaffen. Ein „Rat für Bildung und Lehre“ hat die Aufgaben übernommen, einheitliche Standards zu gewährleisten, die Bildungsarbeit zu koordinieren und den Wissenstransfer zu sichern. Nach dem Verständnis der IGMG besteht das Ziel ihrer Bildungs-arbeit, die sich an der sunnitischen Leh re orientiert, in der Vermittlung des Glaubens auf kognitiver und spi-ritueller Ebene sowie einer entsprechenden Lebenshaltung. Das auf Plu ralismus ausgerichtete Gemeinwesen in Deutschland nimmt sie als positiv wahr, weil es ihr eigene Gestaltungs-spielräume gewährt. Ihr eigenes Ge-sellschaftsideal bleibt jedoch auf Kon-formität und Homogenität der Indivi-duen ausgerichtet.

Entsprechend dem klassisch islamischen Konzept von „ilim“ (Wissen) gilt die Moschee der IGMG als wichtigster Ort

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„Hodja“ (Lehrer, Meister) ERBAKAN für das der heutigen Generation hin-terlassene Erbe gedankt. Verschiedene IGMGOrtsvereine wie Biberach, Heil -bronn und Ulm gedachten seines To-destages am 27. Februar 2016 mit Ver-anstaltungen.

Der Jugendverband der IGMG Her-renberg/Kreis Böblingen identifizierte sich in einem Facebook-Posting vom 4. Mai 2016 mit dem von ERBAKAN überlieferten Schlagwort „Wer nicht Diener Allahs ist, ist nicht Soldat seiner Mission“. Am 27. Juli 2016 stellte derselbe Verband ein Foto ins Netz. Da -rauf posierten Jugend li che mit einem Transparent mit dem bekannten Aus-spruch ERBAKANs „Die Stärke eines Staates liegt nicht in Panzern, Kanonen oder Geld, sondern in seinen gläubigen Kin dern“.

Einer der beiden IGMG-Ortsvereine aus Mannheim organisierte im Mai eine dreitägige Seminarreihe mit dem Titel

„Ein Blick auf die Weltprobleme aus der Sicht Erbakans“.

Ein hochrangiger IGMG-Funktionär, der auf Bundesebene für den Bildungs -bereich verantwortlich ist, hielt bei einem „ERBAKAN-Symposium“ vom 28. bis 30. Oktober 2016 in Konya/

Türkei ein Referat zum Thema „Milli

Görüs als Friedensinitiative angesichts von steigendem Rechtspopulismus und Islamfeindschaft in Europa“. Er präsen-tierte damit die „Milli-Görüs“-Ideologie im Sinne ERBAKANs als Heilmittel gegen gesellschaftspolitische Fehlent-wicklungen.

„ISLAMISCHE GEMEINSCHAFT MILLI GÖRÜS E. V.“ (IGMG)

Die IGMG ist die bedeutendste Orga-nisation des legalistischen Islamismus in Deutschland. Sie verfügt über rund 320 Moscheevereine, davon mehr als 60 in Baden-Württemberg. Ihre Aktivitäten im Land erstrecken sich auf die sogenannten „Bölge“ (Regionen bzw. Re -gio nalverbände) Württemberg, burgDonau, Schwaben sowie Rhein-Neckar-Saar. Einige Vereine, die den beiden letztgenannten Regionen zuge-hörig sind, haben ihren Sitz außerhalb der baden-württembergischen Landes-grenzen.

Die Generalzentrale der IGMG in Ker -pen/Nordrhein-Westfalen ist

gleich-19 Vgl. hierzu den Abschnitt „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V.“, S. 69 f.

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Studierendengruppen, für die sie Sti-pendien vergibt und Wohnmöglich-keiten in geschlechtergetrennten Wohn-gemeinschaften („Irfan Evleri“) bereit-stellt, kann die IGMG auf eine Lobby aus gut ausgebildeten Nachwuchsaka-demikern zurückgreifen.

Die Förderung geeigneter junger Frauen, die später Führungsaufgaben in der Or -ganisation übernehmen sollen, ist für die IGMG gleichfalls von Bedeutung.

Das in der Organisation vermittelte Bild der „tugendhaften Frau“ orientiert sich an einer orthodoxen Islamauslegung, die auf der Einhaltung spezifischer Be-kleidungs- und Verhaltensgebote be-steht. Hierzu gehört das Tragen des Kopftuchs bzw. die als islamkonform erachtete Verhüllung. Beides wird zum Identitätsmerkmal stilisiert, zur Pflicht erhoben und dementsprechend durch unterschiedliche Maßnahmen gefördert.

Hier manifestiert sich eine Trennung der Geschlechter, die in offenkundigem Gegensatz zu einer auf Gleichberech-tigung ausgerichteten Gesellschafts-ordnung steht.

Die Verhüllung, die seitens der IGMG als Ausdruck von Pluralismus reklamiert wird, eröffnet im gesellschaftspolitischen Kontext eine Reihe weiterer Prob -lemfelder im Hinblick auf den Umgang der Geschlechter mitei nander. Ein Orts

-verein des IGMG-Regionalverbands Schwa ben lud am 23. Januar 2016 un -ter dem Titel „Perlen der islamischen Verhüllung“ zu einer Veranstaltung mit dem Motto „Die Rose ist schön in dem Maß, wie sie aufgeht – die Frau ist schön in dem Maß, wie sie sich verhüllt“. Im

Ortsverein VillingenSchwenningen re -ferierte eine Gastpredigerin der IGMG-Generalzentrale am 8. März 2016 zum Thema „Das Kopftuch ist Gebot Al-lahs und Persönlichkeit der muslimi-schen Frau“. Bei einer „Krönungsfeier“

im Ortsverein Sindelfingen wurden im selben Monat 22 Schü le rinnen für ihre Entscheidung geehrt, das Kopftuch zu tragen. Die IGMG-Kinderzeitschrift

„Cocuk“ veröffentlichte in ihrer Aus-gabe Nr. 7–8/2016 motivierende Ratschläge an künftige Kopftuchträgerin -nen, die auch in baden-württembergi-schen Ortsvereinen rezipiert wurden:

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von Bildungs- und Wissenserwerb. Die Grundstufe des religiösen Bildungs-systems bilden die Vorschulgruppen („ana sinifi“), die an die Frauenverbände der örtlichen Moscheevereine ange-gliedert sind. Das Angebot setzt sich fort mit Koranunterricht, Wochenend-und Ferienkursen, Seminaren, Vorträ-gen, Hausgesprächen, Wettbewerben und Gesprächsveranstaltungen – jeweils unter Wahrung der Geschlechtertren-nung. Das klassische Bildungsrepertoire wie die Befähigung zum auswendigen Rezitieren des Korans („hafizlik“) er-fährt eine besondere Förderung.

In einem Videoclip des IGMGRegional -verbands Württemberg vom 20. April 2016 ist von rund 3.500 Schülern die Rede, die allein in diesem Verband an den Wochenenden eine religiöse Un-terweisung erhalten haben sollen. In den Ortsvereinen Stuttgart, Esslingen, Aalen, Ludwigsburg, Rastatt und Heil-bronn würden Schüler in auswendiger Koranrezitation ausgebildet. Der IGMG-Ortsverein Esslingen, der eine beson-ders intensive Bildungsarbeit betreibt, bietet als Novum Islam-Unterricht in deutscher Sprache an. Auch der Regio-nalverband Freiburg-Donau setzte sich 2016 das Ziel, „in der Region Freiburg ein systematisches Bildungssystem zu verbreiten“. Vielfach erörterte Themen bei den Fortbildungsseminaren, z. B.

im Februar 2016 in Rastatt, sind das

„Ziel der Gründung der Milli Görüs-Organisationen“ und die Frage, wie ein

„Muslim mit Bewusstsein“ beschaffen sein muss.

Das Fortwirken der Ideen ERBAKANs zeigt sich auch in Äußerungen im In-ternet. So berichtete etwa der Jugend-verband Rhein-Neckar-Saar auf Face-book, dass bei einem Jugendcamp „der Kampf zwischen hak (das Wahre) und batil (das Nichtige)“ – ein Leitgedanke der Milli Görüs-Ideologie – themati-siert worden sei.

Mit Blick auf die Stärkung ihrer Posi-tion in der Gesellschaft legt die IGMG großen Wert auf die Ausbildung einer Elite aus den eigenen Reihen. Durch die Vernetzung der jungen Anhänger in

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denen Komponenten der „Milli-Gö rüs“-Bewegung. Ihre Berichterstattung um-fasst auch die Aktivitäten der „Saadet Partisi“ in der Türkei und in Europa.

Am 12. Januar 2016 feierte die Zeitung den 44. Jahrestag ihrer Gründung; nach eigenem Verständnis ist sie „nicht die Zeitung für alle Tage, sondern die Zei-tung der Mission des Rechts“ und die

„Stimme der Umma“. In unregelmäßigen Abständen erläutern ihre Kolumnisten den Bedeutungsgehalt des Begriffs

„Milli Görüs“. So heißt es etwa in ei -ner Kolumne vom 21. September 2016, die Bewegung sei „keine Religion oder Rechtsschule, Orden oder Ge-meinde, sondern eine politische Bewe-gung/Hal tung im legalen Rahmen“.

Bei der Bewertung der Ereignisse um den Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei nahm die Zeitung „äußere Mächte“ in die Verantwortung; in ei ner Kolumne vom 16. August 2016 wurden z. B. die USA, die EU, die NATO und Israel als Drahtzieher der Geschehnisse

dargestellt. In dem Text hieß es, Mus-lime müssten sich vor Freundschaften mit Ju den und Christen hüten, auf diese sei kein Verlass.

Im November 2016 veröffentlichte

„Milli Gazete“ die erste Ausgabe einer eigenen Frauen- und Familienzeitschrift mit dem Namen „Maaile“ („Mit Fami-lie“). Nach eigenen Angaben betrach-tet diese die Frau unter den Aspekten

„Die Frau in der Umma ist Mutter“ und

„Die Frau in der Umma ist Glau bens -kämpferin“. Un ter dem Titel „Eine Glaubenskämpferin ging durch diese Welt“ porträtierte die Erstausgabe der Zeitschrift die 2005 verstorbene Ehefrau des „MilliGörüs“Gründers, Ner -min ERBAKAN.

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Fange vor Schulbeginn damit an, im Haus, draußen und unter deinen Freundinnen das Kopftuch zu tragen, so gewöhnst du dich daran (…) Wenn du willst, triff dich mit deinen Freundinnen und organisiere eine Feier aus Anlass des Kopftuchtragens; so seid ihr euch gegenseitig eine moralische Stütze (…) Bete! Erteile dir selbst jeden Tag gute Ratschläge. Wenn du in den Spiegel schaust, denk daran, dass du schön und etwas Besonderes bist. Allah, dein Schöpfer, liebt dich so noch mehr.

Die Tatsache, dass das Tragen des Kopf -tuchs und die Verhüllung propagiert, gefördert und belohnt werden, stellt offizielle Verlautbarungen bezüglich der Freiwilligkeit und des Fehlens von Ein flussnahme auf derartige Entscheidungen zumindest infrage. Frauen, die nicht verhüllt sind, scheinen in den Strukturen der IGMG nicht zu existieren. Auch ist als sicher anzunehmen, dass die Funk -tionsträgerinnen in der Orga-nisation diesbezüglich eine Vorbild-funktion in ihrem Umfeld ausüben.

Am 12. November 2016 feierte der Frauen verband der IGMG in Lever kusen/NordrheinWestfalen sein 25jäh -riges Bestehen. Rund 5.000 Frauen sol len an der Veranstaltung

teilgenom-men haben. Dort äußerte das IGMG-Gründungsmitglied Güleser TOPUZ, jeder Mensch trage Verantwortung für das Land, in dem er lebe, und solle sich für seine Mission einsetzen. In dieser Aussage manifestiert sich die Sichtweise der IGMG: Die Gesellschaft soll im Sinne ihrer Überzeugungen ausgestal-tet werden. Hatice SAHIN, die Vorsit-zende des Frauenverbands, erweiterte diese Aussage um die Perspektive, sich

„für die Errettung der Menschheit“

einzusetzen.

PUBLIKATIONEN

Im Gegensatz zur Verbandszeitung „ca -mia“, die ausschließlich über Interna der IGMG berichtet, fungiert die formal unabhängige Tageszeitung „Milli Gazete“

als Bindeglied zwischen den

verschie-Teilnehmerinnen der Veranstaltung in Leverkusen.

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„ISMAIL AGA CEMAATI“ (IAC)

Innerhalb der „Milli-Görüs“-Bewegung gibt es auch Gruppierungen, die ur-sprünglich den von der Mystik gepräg-ten sunnitischen Ordenstraditionen (tarikat) entstammen. Diese folgen ei -ner äußerst konservativen Islamausle-gung und propagieren die Scharia. Im Bereich der „Milli-Görüs“-Bewegung ist insbesondere die aus dem Naksiben -diye-Orden hervorgegangene „Ismail Aga Cemaati“ zu erwähnen, die von je -her zu den Unterstützern der Bewe-gung einschließlich der entsprechenden politischen Parteien zählte. Die Akti-vitäten der IAC-Anhänger in Baden-Württemberg finden weitgehend in-ner halb geschlossein-ner Zirkel statt.

Ordensführer der IAC ist der 1929 ge-borene, in Istanbul ansässige Mahmut USTAOSMANOGLU, genannt „Mah-mut Efendi“. Sein langjähriger Reprä-sentant in Europa wurde aufgrund gesetzter antidemokratischer und anti -westlicher Predigtinhalte im Oktober 2015 in die Türkei abgeschoben.

Den-noch nimmt dieser Prediger mittels Liveschaltungen zu Veranstaltungen Ein fluss auf die Anhängerschaft in Deutschland. Mindestens ein weiterer bekannter Prediger des Ordens trat 2016 ebenfalls in Deutschland auf.

Deutlich in der Aussage und als poli-tisch besonders aktuell erweist sich ein Zitat Necmettin ERBAKANS, das am 22. November 2016 auf der für die „Brü-der in Europa“ eingerichteten Facebook-Seite eingestellt wurde:

Die einzige Lösung ist die Islamische Union.

Jemand sagt: ‚Europa betrachtet uns als der EU würdig.‘

Diese Feststellung, diese Einstellung lässt allen unseren Vorfahren das Blut in den Adern gefrieren.

Was soll das heißen?

Wer ist denn schon Europa?

Wir seien für würdig befunden, wo einzutreten?

Wir sind die ehrenvollste Nation der Geschichte.

Wir sind es, die Europa einer Sache für würdig befinden oder nicht.

Wir sind es, die Europa einer Sache für würdig befinden oder nicht.