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Synthese des christlichen Monotheismus und des griechischen Polytheismus

1 Der messianische Auftrag des Dichters

1.3 Synthese des christlichen Monotheismus und des griechischen Polytheismus

Zwetajewas Inspiration durch Hölderlins Messianismus nährt sich schließlich von einer Verwandtschaft des christlich geprägten Monotheismus mit dem griechisch konnotierten Polytheismus. Die Dichterin betont ausdrücklich Hölderlins Verbin-dung mit der Antike:

Насчет же якобы на век или три запаздывающих приведу один только случай:поэта Гёльдерлина,по теме,источникам,даже словарюантичного.

(Zwetajewa 1994e, 332)

[Was dasjenige [das Genie] betrifft, das angeblich ein oder sogar drei Jahrhunderte Verspä-tung hat, werde ich nur ein Beispiel anführen: das von Hölderlin, das mit seinen Themen, seinen Quellen, ja seinem Wortschatz antik ist.]

Hölderlins Verbindung mit der Antike kennzeichnet eine Mischung aus Mono-theismus und PolyMono-theismus. So kann Christus auch in seinen Gedichten unter an-derem als Synthese des christlichen Erbes und des antiken Gedankenguts erschei-nen. Dies tritt besonders in der Elegie„Brot und Wein“hervor:„Aber indessen kommt als Fackelschwinger des Höchsten / Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.“(Hölderlin, 1992, 291) Der Ausdruck„des höchsten Sohn“weist klar und deutlich auf Christus hin. Das Wort„Fackelschwinger“spielt jedoch auch auf Dio-nysos an, dessen nächtliche Feste im Licht der Fackeln gefeiert wurden. Diese Mischung aus beiden Traditionen könnte in mehreren Gedichten belegt werden und erinnert an jene neue Mythologie, die schon imÄltesten Systemprogramm des deutschen Idealismusverlangt wird:

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen istwir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie derVernunftwerden. Ehe wir die

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Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie für dasVolkkein Interesse und um-gekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. (Hölder-lin 1994, 576577)

Interessant erscheint, dass seine Mythologie, und darüber hinaus die Ästhetik oder die Dichtung, die nicht zum Gegenstand eines Kults werden, sondern ledig-lich ein Mittel zum Zweck, d.h. die Äußerung der philosophischen Reflexion, ja sogar das Mittel, das Göttliche zu feiern, bleiben sollen. Hierin unterscheidet sich Hölderlins Werk von der romantischen Schreibweise, die eben auf einer Defini-tion des Dichtens als eines Absoluten beruht, wie Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy behaupten:„Il faut reconnaître dans la pensée romantique non seulement l’absolu de la littérature, mais la littérature en tant qu’absolu. Le ro-mantisme, c’est l’inauguration de l’absolu littéraire.“ (Lacoue-Labarthe und Nancy 1978, 21) [In der romantischen Denkweise ist nicht nur das Absolute der Dichtung, sondern auch die Dichtung als Absolutes anzuerkennen. Mit der Ro-mantik setztdas dichterische Absoluteein.]

Bei Zwetajewa finden wir eine ähnliche Auffassung des Absoluten wieder. Bei ihr dient das Dichten auch dazu, das Absolute in der Form eines synkretistischen Polytheismus zu äußern. Nur bleibt Zwetajewas Einstellung zu einem solchen Polytheismus subtil. Bald zeigt sie sich ihm gegenüber besonders kritisch, bald scheint sie ihn selbst anzunehmen. So reagiert sie folgendermaßen auf Hölderlins Polytheismus: „Многобожие поэта. Я бы сказала: в лучшем случае наш христианский Бог входит в сонм его богов. Никогда не атеист, всегда многобожец[…]Искусство было бы свято,если бы мы жили тогда или те боги– теперь.“ (Zwetajewa 1994e, 332–363) [Polytheismus des Dichters. Ich würde sagen, im besten Fall tritt unser christlicher Gott in den Schoß seiner Göt-ter. Er ist niemals atheistisch, sondern immer polytheistisch. […] Die Kunst wäre heilig, wenn wir damals lebten oder die Götter jetzt lebten.]

Diese Aussage erweist sich als sehr nuanciert. Kritisiert wird hier der Mangel an einer Hierarchie der Götter. Zwetajewa möchte dem christlichen Gott den ers-ten Platz im Schoße des Göttlichen zuteilen und duldet nicht, dass der christliche Gott wie ein bloßer heidnischer Gott behandelt wird. Da sie sich aber selbst als eine Dichterin betrachtet, schließt sie sich vom Polytheismus des Dichters nicht aus. Dieser Polytheismus kann mehrere Formen annehmen. Auffällig ist außerdem in den folgenden Versen, dass sie, die Dichterin und Priesterin des Gottes, sich zu dessen Überleben als nötig versteht, was sie vom christlichen Cre-doweiter entfernt:

Бог!Можешь спать в своей ночной лазури! Доколе я среди живых

Hölderlins Rezeption durch Marina Zwetajewa 169

Твой дом стоит!Я лбом встречаю бури, Я барабанщик войск твоих.

(Zwetajewa 1994a, 486)

[Gott! Du kannst in deinen blauen Nächten schlafen!

Solange ich am Leben bin,

Bleibt dein Haus stehen! Ich trotze den Stürmen, Ich bin der Trommler deiner Armeen.]

Dieses im Oktober 1919 niedergeschriebene Glaubensbekenntnis lässt sich auch mit Zweigs Analyse von Hölderlins„Archipelagus“inDer Kampf mit dem Dämon vergleichen:

Auch die Götter oben, dieselig wandernden im Licht, sind nicht glücklich, sie fühlen sich nicht, solange sie nicht gefühlt werden:Immer bedürfen [] sie der fühlenden Menschen. [] Wie der Mensch das Göttliche, um nicht zu vergehen, ebenso braucht das Göttliche, um wahrhaft zu sein, den Menschen. (Zweig 2004, 56)

Hier stützt sich Zweig auf Hölderlins Verse aus seinem berühmten Gedicht:„ Im-mer bedürfen ja, wie Heroën den Kranz, die geweihten / Elemente zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen.“(Hölderlin 1992, 255). Nun weiß man, dass Zwetajewa Zweigs Aufsatz über Hölderlin gelesen hat, da sie sich im Entwurf eines Briefs an Maxim Gorkij 1927 ausdrücklich darauf bezieht und ihn lobt:

„Были бы деньги–сразу послала бы Вам изумтельную книгуStefan’a Zwei-g’a ‚Der Kampf mit dem Dämon‘, с тремя биографиями, одна из них– Гёльдерлина–лучше,что о нем написано.“(Zwetajewa 1994g, 197) [Hätte ich Geld, so würde ich Ihnen sofort ein wunderbares Buch von Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämonmit drei Biographien schicken. Eine von ihnen handelt von Hölderlin–das Beste, was über ihn geschrieben wurde.]

Nicht von ungefähr behauptet also Zwetajewa mit Hölderlin, der Dichter sei als fühlender Mensch dem Göttlichen notwendig, da sie über ihre polytheistische Vor-stellung des Göttlichen hinaus Menschen lieber als Abstraktionen lobt. So schreibt sie dem Dichter Wjatscheslaw Iwanow am 1. Juni 1920:„Я больше всего на свете люблю человека,живого человека,человеческую душу,—больше природы, искусства, больше всего.“(Zwetajewa 1905–1923, https://www.ereading.club/

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3 [18. Juni 2018]). [Mehr als alles in der Welt liebe ich den Menschen, das Lebewe-sen, die Menschenseele, mehr als die Natur, als Kunst, mehr als alles.] In dieser Hin-sicht distanziert sie sich wie Hölderlin über die Frage des Absoluten von der Ro-mantik: Die Dichtung dient dazu, ein Absolutes zu preisen, das nicht die Kunst oder die Dichtung selbst ist. Dieses Absolute mag die Form einer polytheistischen Weltanschauung annehmen, es entspricht aber eigentlich ihrer Liebe zum Menschen überhaupt. Nun kann gefragt werden, ob Hölderlin und Zwetajewa, die

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sich beide als Priester verstehen und ein tragisches Leben führen, den Schmerz und das Leiden ähnlich behandeln.