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Bemerkungen zur Übersetzung von Heimito von Doderers Roman Die erleuchteten Fenster ins Serbische

Abstract:Kennzeichnend für Heimito von Doderers RomanDie erleuchteten Fen-ster(1951) sind nicht nur hochkomplexe Satzkonstruktionen, sondern auch die in den Text einmontierten Auszüge amtssprachlicher Dokumente. Der Übersetzer Re-lja Dražićlegte 2015 mitOsvetljeni prozorieine serbische Übersetzung des Textes vor. Unter Maßgabe von Wilhelm von Humboldts Diktum, dass eine Übersetzung zwar das„Fremde“vermitteln solle, nicht jedoch das Gefühl der„Fremdheit“ hin-terlassen dürfe, werden drei Bereiche der Übersetzung daraufhin untersucht, ob und, falls ja, wie die vorliegende Übersetzung die Interpretationsmöglichkeiten des Textes verändert hat.

Keywords:Heimito von Doderer, Übersetzung, Serbisch, Roman, Montage, Kul-tursemiotik

Im Jahre 2015 gelang dem serbischen Übersetzer Relja Dražićdas fast Unmög-liche: Er übersetzte Heimito von Doderers 1951 erschienenen RomanDie erleuchte-ten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal(vgl. Doderer 1995) unter dem TitelOsvetljeni prozori ili postajanječovekom kancelarijskog savetnika Juliusa Cihala ins Serbische (vgl. Doderer 2015). Doch was macht diese Neuerscheinung so bemerkenswert? Es ist der Umstand, dass allein die Überset-zung in eine südslawische Sprache zu einer Steigerung der Rezeption von Do-derers Werk in Südosteuropa führen dürfte. Denn durch die enge Verwandtschaft des Serbischen mit dem Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Maze-donischen wird man dieses Buch nicht nur in Serbien, sondern auch in einem Großteil des Balkanraumes lesen können, wodurch DoderersOsvetljeni prozori ei-nem Lesepublikum in mehreren Staaten zugänglich gemacht wird.

Daneben ist Dražićs’ Übersetzungsleistung aber auch im Lichte des deutschen Textes betrachtet erwähnenswert. So zeigt sich in Doderers eher kur-zem Roman nicht nur eine erzählerische Höchstleistung, sondern auch eine enorm hohe Dichte an komplexen Satzkonstruktionen, verbunden mit Montagen diverser amtssprachlicher Dokumente. Auch andere Stimmen der Forschung ha-ben bereits auf die hohen Anforderungen an das Leseverständnis verwiesen, die der Text stellt (vgl. Veltman 2009, 492). Mit den Worten Christiane Veltmans, die sich in ihren Ausführungen zur Übersetzung des Textes ins Englische äußerte und

Open Access. © 2020 Erkan Osmanović, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110641998-007

dort bereits die Problematik einer jeden übersetzerischen Arbeit konstatierte, ist der Text„eigentlich unübersetzbar“(Veltman 2009, 492). Diese Schlussfolgerung berührt eine Grundproblematik der Theorie des Übersetzens, die sich bereits in jahrhundertealten Diskussionen nachvollziehen lässt. Jede Übersetzung muss sich entscheiden zwischen einer wortgetreuen Übertragung, bei der Verluste auf der Inhaltsebene unvermeidlich sind, und einer inhaltlichen Übersetzung, die stets riskiert, sich von der sprachlichen Besonderheit des übersetzten Werks in größerem Ausmaß zu entfernen (vgl. Benjamin 2001).

Friedrich Schleiermacher forderte 1813 in seinem Aufsatz„Ueber die verschie-denen Methoden des Uebersezens“(vgl. Schleiermacher 1963), der als Grundstein der Theorie des Übersetzens im deutschen Sprachraum gilt, sich mit den proble-matischen Bereichen einer jeden Übersetzung zu beschäftigen und diese auch in der Theorie argumentativ zu begründen. Schleiermacher unterscheidet zwischen Dolmetschen, also dem Übertragen von Texten des Geschäftslebens, und dem Übersetzen, also der translatorischen Verarbeitung von Texten aus Kunst und Wissenschaft. Im Gegensatz zu Texten der geschäftlichen Sphäre seien dichter-ische, wissenschaftliche und philosophische Texte nicht mit Objekten und Be-obachtungen außerhalb der Textwirklichkeit vergleichbar und damit auch nicht korrigierbar. Daraus folgert er, dass eine Übersetzung dichterischer Werke un-möglich sei (vgl. Schleiermacher 1963, 43). Dem Fazit der Unübersetzbarkeit jener Texte ist sicherlich mit kritischer Distanz zu begegnen, aber seine Analyse erscheint dennoch anschlussfähig. Nachfolgende Generationen von Übersetzern führten seine Gedanken weiter aus. Diese Überlegungen geschahen keineswegs im luftleeren Raum, und so sind Klaus Reicherts Worte zu beachten, der dazu auf-ruft, deren Kontext mitzubedenken: „Ein systematisches Nachdenken über die Theorie des Übersetzens beginnt erst gegen Ende des 18.Jahrhunderts und ist mit der Reflexion über die Sprache überhaupt und die Nationalsprachen im besonde-ren verknüpft.“(Reichert 2003, 16) Wilhelm von Humboldt beschäftigte sich 1816 im Vorwort zu seiner Übersetzung von Aischylos’Agamemnon (vgl. Humboldt 1963) ebenfalls mit der übersetzerischen Verfremdung. Er differenziert zwischen

„Fremdheit“und„Fremde“:

Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist.

(Humboldt 1963, 83)

Eine derartige Beobachtung zu Beginn des 19.Jahrhunderts erscheint relativ ver-spätet. Allerdings ist zu bemerken, dass die Translationswissenschaft, obwohl Übersetzungen bereits seit der frühesten Menschheitsgeschichte existieren, eine junge–und vielleicht gerade durch diesen Umstand auch eine interdisziplinäre 74 Erkan Osmanović

Wissenschaft ist. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sie sich nach 1945 selbstständig weiter; bis in die 1990er Jahre hinein war die westeuropäische Über-setzungswissenschaft eher im ausschließlichen Kontakt mit der Sprachwis-senschaft und fand ihren Weg zu den diversen LiteraturwisSprachwis-senschaften erst in den letzten Jahrzehnten. Diese Wege führten auch zu Verbindungen mit der Psycholo-gie, der Kommunikationswissenschaft und der immer präsenteren Informatik (vgl. Siever 2010).

Im Unterschied dazu orientierte sich die osteuropäische Übersetzungswis-senschaft ab den 1920er Jahren an der LiteraturwisÜbersetzungswis-senschaft. Man denke hier etwa an den russischen Formalismus, den tschechischen Strukturalismus und die russische Kultursemiotik (vgl. Siever 2010). Für die Betrachtung jeder gegenwärti-gen Übersetzung, und somit auch für die von Werken Doderers, sind die Ansich-ten des russischen Semiotikers Roman Jakobson von Gewicht. Er brachte die ele-mentare Überlegung einer jeden Übersetzung auf den Punkt: Interpretation. Jeder Text sei abhängig von seiner Interpretation. Dadurch kommt es zu einer Profilie-rung des Übersetzers (vgl. Jakobson 1988, 481–491). Er wird nicht mehr länger als Person gesehen, die einen Text in eine andere Sprache überträgt, sondern er habe bei seinem Tun auch Verantwortung zu übernehmen für jedwede Interpre-tation, die seiner Übertragung inhärent ist. Der Übersetzer entscheide über rele-vante Elemente des Textes: etwa über die Übernahme bestimmter Metaphern oder den Umgang mit und die Wertung von Montagen nicht-literarischer Texte.

Doch auch eine zweite Verschiebung findet statt: Nicht nur wird die Rolle des Übersetzers durch die Funktion des Interpreten ergänzt, sondern auch die Wir-kung auf den Rezipienten gerät stärker in den Fokus. Dies lässt sich nicht aus einer wie auch immer gearteten bewussten Entscheidung der institutionalisierten Übersetzergemeinschaft erklären, sondern aus dem Umstand, dass es in den letz-ten Jahrzehnletz-ten zu einer Bewusstwerdung innerhalb der Sprach- und Literatur-wissenschaften gekommen ist. Diese lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Rezipient einer Übersetzung reagiert anders auf den übersetzten Text als der Rezipient des zu übersetzenden Textes. Dabei spielen neben den primären spra-chlichen und zeiträumlichen Differenzen auch Unterschiede hinsichtlich des kul-turellen Hintergrunds der Rezipienten eine Rolle. Jede translatorische Arbeit trifft damit auf Verständnisprobleme, die letztlich als kulturelle Barrieren kenntlich werden.

Es ist im Rahmen dieses Beitrags naturgemäß nicht möglich, bei der Analyse der Übersetzung derErleuchteten Fensterdie ganze Bandbreite der vorgestellten Aspekte zu berücksichtigen. Daher sollen hier lediglich– unter Maßgabe von Humboldts Diktum, dass eine Übersetzung zwar das Gefühl der„Fremde“, aber keine„Fremdheit“transportieren dürfe–drei überschaubare Bereiche der Über-setzung darauf untersucht werden, inwiefern es im Zuge der ÜberÜber-setzung auch zu

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Veränderungen hinsichtlich möglicher Interpretationen des Textes (im Sinne Ro-man Jakobsons) kommen kann.

Angesichts des bekannten Umstands, dass Farbwerte und -abgrenzungen nicht selten kulturspezifisch wahrgenommen werden, lag es nahe, aus dem se-mantischen Feld der Farbbezeichnungen zwei Farben auszuwählen und deren Übertragung ins Serbische zu überprüfen. Als zweites Untersuchungsbeispiel dienten fachsprachliche Einschübe innerhalb von Doderers Erzähltext, von denen angenommen werden konnte, dass eine entsprechende Sprachebene in der Ziel-sprache nicht notwendigerweise zur Verfügung steht. Schließlich wurde die Dar-stellung eines natürlichen Phänomens ausgewählt, das nicht nur eine spezifische Bezeichnung hat, sondern von Doderer auch als bedeutungstragendes Motiv ein-gesetzt wurde.

Ein wichtiges Element der Sprache Doderers ist der den gesamten Text der Erleuchteten Fenster durchziehende Einsatz von Bildern und Farbzuordnungen.

Einerseits werden Figuren bestimmte Farben oder Farbnuancen zugeordnet, an-dererseits dienen Farbwechsel der Darstellung von Veränderungen der Figuren-konstellation und -genese. Laut Henner Löffler sind in denErleuchteten Fenstern vor allem die Farben Blau und Grün bestimmend, die zudem häufig in Verbin-dung mit erotisch aufgeladenen Geschehnissen erscheinen. Blau verweise dabei auf einen„vorerotische[n]“Zustand des Amtsrats, während„grün“als Repräsen-tant„für die reife“Sexualität Zihals angesehen werden könne (Löffler 2000, 169).

Nun wäre ein (potenziell) bedeutungstragender Einsatz von Farben sicherlich als übersetzungsrelevant anzusehen, sofern die Farbgestaltungen denn als kontex-tuell unverbundene, mithin als spezifisch singuläre Bedeutungsträger im Text auftreten würden. Da sich Zihals sexuelle Reifung im Zuge der Handlung aber auch explizit an seinem Verhalten zeigt, kann der sie begleitende und illustrier-ende Einsatz von Farben nicht als entscheidillustrier-ender Faktor für Texterkenntnis, In-terpretation und Übersetzung angesehen werden. Er erweist sich damit als wenig fruchtbar für eine Analyse, da mögliche Mängel bei der Übersetzung von Farbbe-zeichnungen nicht notwendigerweise zu einer Änderung der Bedeutung des Textes führen müssen. „Fremdheit“ als Kriterium im Sinne Humboldts hätte mithin auch nicht infolge falsch übertragener Farbbezeichnungen, sondern nur im Falle einer verdunkelnden Übersetzung von Zihals spezifischem Verhalten aufkommen können.

Ein zweiter Punkt: In denErleuchteten Fensternwird die Menschwerdung des Amtsrats Julius Zihal wiederholt mit Zitaten aus den Durchführungsvorschriften zur sogenannten‚Dienstpragmatik‘(Gesetz vom 25. Jänner 1914, RGBl. Nr.15, be-treffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft) kon-textualisiert. Auch die Leserinnen und Leser des Romans tun dies– zwangs-weise–, da insgesamt zwölf Passagen aus diesen ministeriellen Erlassen in den 76 Erkan Osmanović

Text eingeflochten wurden (vgl. Winterstein 2009, 265–267). Ebenso wie in den deutschen Textausgaben ist auch in der serbischen eine typographische Markie-rung der Passagen vorgenommen worden. Sie erscheinen eingerückt und haben eine kleinere Schriftgröße als der Erzähltext. Inwiefern bei der Übertragung die Zwecksetzung einer Übersetzung nach Humboldt eingehalten wurde, soll hier skizziert werden. Die erste Zitation erfolgt bereits kurz nach Beginn des Romans:

»Praktikanten, die am 1. Februar 19hundert so und so viel nach Abrechnung einer etwa im militärischen Präsenzdienste zugebrachten, im Sinne des §30 DP. nicht anrechenbaren Zeit die Beförderungsfrist des §56 innerhalb desselben Dienstzweiges des gleichen Ressorts schon vollstreckt und die erforderliche Fachprüfung mit Erfolg abgelegt haben und mindes-tens gut qualifiziert sind, werdenfalls nicht ein gesetzlicher Ausschließungs- oder Hinde-rungsgrund bestehtmit Wirksamkeit vom 1. Februar 19hundert so und so viel zu Beamten derniedrigsten, bei ihrer Beamtenkategorie in Betracht kommenden Rangsklasse ernannt.

Ist die von einem solchen Praktikanten innerhalb desselben Dienstzweiges zurückgelegte, für dieRuhegenußbemessunganrechenbare Praktikantendienstzeit abzüglich einer etwa im militärischen Präsenzdienste zugebrachten, im Sinne des §30 DP. nicht anrechenbaren Zeit länger als die Beförderungsfrist, so wird ihm die Zeitdifferenz bis zum Höchstausmaße von vier Jahren als Überdienstzeit für die Vorrückung in höhere Bezügezugerechnet.« (Doderer 1995, 10f.)

In der serbischen Übersetzung lautet die Passage wie folgt:

Pripravnici koji su na dan 1, februara 19... (te i te) posle zaračunavanja, u smislu §30 SP ne-zaračunljivog, vremena provedenog recimo u obaveznom vojnom roku, unutar istog ogran-ka službe istog resora većispunili rok za unapređenje prema §56 i s uspehom položili neo-phodni stručni ispit i ocenjeni najmanje dobro, od 1. februara 19... (te i te) pravosnažno se imenujuu slučaju da ne postoji neki zakonski razlog isključenja ili sprečenostič inovni-cima po rangunajnižeklase koja dolazi u obzir kod njihovečinovne kategorije.

Ako je, zamirovinuzaračunljivo pripravničko vreme koje je jedan takav pripravnik proveo unutar istog ogranka službe, po odbitku vremena provedenog u vojnom roku, nezarač unlji-vog u smislu §30 SP, duže od roka neophodnog za unapređenje, onda mu se vremenska ra-zlika sve do maksimalne dužine odčetiri godinepriračunavakao vremensko prekoračenje za unapređenje u više prinadležnosti.(Doderer 2015, 8f.)

Im Gegensatz zur deutschen Ausgabe von 1995, in der französische Anführungs-zeichen zum Einsatz kommen, fällt sogleich auf, dass zitierte Passagen aus den Durchführungsvorschriften zur‚Dienstpragmatik‘in der serbischen Übersetzung mittels deutscher Anführungszeichen typographisch markiert wurden. Da in der Ausgabe von 1995 indes alle Zitate in französischen Anführungszeichen einge-fasst sind und in der Originalausgabe des Romans obendrein deutsche verwendet wurden, kann diese Änderung im Zuge der Übersetzung auch unabsichtlich er-folgt sein. Jedoch werden im übersetzten Text sperrige amtssprachliche Komposi-ta wie„Ruhegenußbemessung“zu leichter verständlichen Elementen („mirovinu

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zaračunljivo“= ,Rente wird berechnet‘), dagegen wird ein als Zeitvariable die-nendes Element der Beamtensprache („1. Februar 19hundert so und so viel“) in ei-ner typographisch anderen Darstellung übernommen („1. februara 19... (te i te)“).

Das ist geradezu ein Paradebeispiel für Humboldts Forderung: Das„Fremde“der Passage tritt sowohl sprachlich und syntaktisch als auch stilistisch hervor, ohne dabei ein Gefühl der„Fremdheit“zu illustrieren. Der Übersetzer bleibt hier wie auch sonst in den fachsprachlichen Einschüben derErleuchteten Fensterim Hin-tergrund und nimmt durch seine Übersetzungsarbeit keine Fehlkalibrierung vor, so dass von einer interpretativen Veränderung des Textes in diesem Bereich nicht gesprochen werden kann.

Ein interessantes Feld ergibt sich auch bei dem in verschiedenen Variationen auftretenden Motiv der „Flugfäden des Altweibersommers“. Diese Fäden be-schreiben ein natürliches und saisonal gelegentlich massenhaft auftretendes Phänomen, bei dem Jungtiere aus der Familie der Baldachinspinnen infolge zu großer Populationsdichte Spinnfäden ausstoßen, um–unter Ausnutzung der im Spätsommer oft günstigen Thermik–, daran hängend, segelnd große Stecken zu überwinden und so in andere Lebensräume zu gelangen. Die„Flugfäden des Alt-weibersommers“werden im Roman wiederholt als Phänomen oder im Zuge von Vergleichen erwähnt (vgl. Doderer 1995, 32, 33, 58, 67, 72, 75, 86, 111) und sind, wie bereits herausgearbeitet werden konnte, von Bedeutung für die Interpreta-tion des Textes. Während eine frühere psychoanalytische Deutung in ihnen eine

„mit Spinnwebfäden arbeitende Mutter“am Werke sah, die Zihal„vom Sehend-werden abhalten“wolle (Dettmering 1974, 151), seine„Menschwerdung“also be-hindere, wird das Motiv mittlerweile gegenteilig bewertet. So sieht etwa Stefanie Augustin die Fäden in Doderers„Menschwerdungskonzept“verankert, da sich in ihnen eine„‚Ansprache‘“der Außenwelt an das in einer zweiten Wirklichkeit be-fangene Individuum (sprich Zihal) manifestiere, oder auch eine Aufforderung, sich„aus diesem Zustand [zu] befreien“(Augustin 2009, 44). Exemplarisch sei hier eine kurze Passage wiedergegeben, nachdem Zihal bemerkt hat, dass sein voyeuristisches Treiben durch die Figur Wänzrich entdeckt wurde. In ihr liegt un-schwer erkennbar keine Darstellung eines natürlichen Phänomens in seinem Kontext vor, sondern ein motivischer Einsatz mit sichtlich bedeutungstragender Funktion:„Die breite Mondlichtbahn drang schwemmend auf ihn ein, wie Schlie-ren im Wasser wich es links und rechts von ihm aus, spann mit tastenden Fäden des Altweibersommers um Schläfen und Wangen.“ (Doderer 1995, 75) In der serbischen Übersetzung lautet der Satz, darin die „Fäden“ (nicht anders als das „Mondlicht“, das„auf ihn ein[dringt]“) die Zihal ansprechende Außenwelt verbildlichen, wie folgt:„Široka reka mesečine, plaveći, navaljivala je na njega, rasecao ju je kao pramac vodu a ona ga je, uklanjajući se levo i desno, pipkavim nitima babinjeg leta splitala oko slepoočnica [sic] i obraza.“(Doderer 2015, 82) 78 Erkan Osmanović

„Fäden des Altweibersommers“wurde mit„nitima bibinjeg leta“wortgetreu ins Serbische (‚Fäden des Fluges des großmütterlichen Sommers‘) übersetzt. Da es für das Wort„Altweibersommer“im Serbischen keinen entsprechenden Begriff gibt, wird dort nur vom‚Ende des Sommers‘(kraj leta) gesprochen. Damit geht ei-nerseits eine möglicherweise laufend intendierte (bedingt galante) Anspielung auf Rosl Oplatek verloren, die für Zihal als eine„immerhin noch recht hübsch zu nennende[ ] achtbare[ ] ältere[ ] Frauensperson anzusehen“(Doderer 1995, 27) ist, andererseits die fortwährende Vorausdeutung auf die sich im Verlauf der Erzäh-lung anbahnende und an deren Ende etabliert habende Beziehung zwischen Ju-lius Zihal und Rosl Oplatek. Die Übertragung ins Serbische kann beides nur un-zureichend wiedergeben, da es das Wortbild als solches im Serbischen nicht gibt. Hier könnte eine gewisse Gefahr für die Übersetzung bestehen, da, mit Hum-boldt gesprochen, nun nicht nur das „Fremde“, sondern auch eine gewisse

„Fremdheit“ hervortritt, die zu einer unbeabsichtigten Verengung der Rezep-tionsmöglichkeiten führen dürfte. Das heißt, der Übersetzer gibt den Rezipienten der serbischen Fassung des Romans eine andere Bandbreite der Interpretation vor.

Dieser kurze Überblick sollte anhand von drei prägnanten und für die Logik und das Verständnis des Textes relevanten Beispielen zumindest ansatzweise aufzeigen, wo und inwiefern die Übersetzung derErleuchteten Fensterins Ser-bische vor potentiell problematische Entscheidungen gestellt wurde, die Auswir-kungen auf die weiterführende Interpretation des Textes haben können (aber kei-neswegs haben müssen).

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Erkan Osmanović, geb. 1988 in Tutin/Serbien, aufgewachsen in Wien; lebt und arbeitet in Brno und Wien. Derzeit PhD-Studium (Thema: Jakob Julius David) der Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität Brno;

Forschungsschwerpunkte: Jakob Julius David; Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts; Suizid & Literatur. Derzeit Mitarbeiter der reichischen Gesellschaft für Literatur«, wissenschaftlicher Mitarbeiter der »Öster-reich-Bibliothek Brno« und Rezensent. Davor OeAD-Lektor an der Philoso-phischen Fakultät der Masaryk Universität Brno und Mitarbeiter der Zeitschrift

»wespennest«.

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