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Synpoiese als theoretisches Fundament einer Anthropologie des Selbst

Im Dokument Von der Viabilität des Selbst (Seite 103-109)

4. Anthropologie des Selbst

4.3 Synpoiese als theoretisches Fundament einer Anthropologie des Selbst

Die Begründung des theoretischen Fundaments einer Anthropologie des Selbst soll im Folgenden mit der Formulierung allgemeinerer Organisationsprinzipien der Selbstkon-struktion angegangen werden. Die bisherigen Feststellungen zur Emergenz und Viabilität

des Selbst ließen sich nur partiell durch jene Lebensgesetze erfassen, die dem Autopoie-sekonzept zugrunde liegen. Diese Unzulänglichkeit des AutopoieAutopoie-sekonzepts bezieht sich insbesondere auf die Verflechtung von vorgefundenen und gemachten Lebensverhältnis-sen des Menschen. Die damit einhergehende stetige Selbstüberschreitung der eigenen Lebensgesetze sowie die Synchronizität der Konstruktion von Selbst und Nicht-Selbst implizieren, dass kein menschlicher Existenzbereich außerhalb des Wirkungsradius der Selbstkonstruktion liegt. Dies spiegelt sich besonders in den drei soeben erläuterten Grundannahmen zur Viabilität des Selbst wider und stellt die eigentliche Herausforderung in der wissenschaftlichen Annäherung an das Thema dar.

Eine Anthropologie des Selbst soll auf ebendiese sachliche Vieldimensionalität des Selbst, die homöostatische, genetische, kognitive, sozio-kulturelle, konkrete und abstrak-te, vergangene sowie gegenwärtige Facetten reflektiert, aufmerksam machen. Hierin ent-halten ist der Formulierungsversuch eines systemisch-kybernetisch orientierten Konzep-tes der Selbstkonstruktion und der Beleuchtung ihrer lebensweltlichen, die menschliche Selbstorganisation (in-)formierenden Konsequenzen. Hierzu soll ein Modell vorgeschla-gen werden, das unter dem Begriff „Synpoiese“ (= synergetische, synchrone Erzeugung von Selbst und Nicht-Selbst) ausgebreitet wird. Gerade hierin, in der Synpoiese, begrün-det sich die Viabilität und Emergenz des Selbst. Synpoiese schließt Autopoiese zwar all-gemein mit ein, zielt aber hauptsächlich auf die Erforschung der aus der operationalen Synchronizität zwischen Selbstkonstruktion und Selbstorganisation resultierenden Syner-giepotenziale ab. SynerSyner-giepotenziale meint unvorhersehbare Neuformationen von Bedeu-tungszuschreibungen, die nicht auf einzelne, bereits vorhandene Bedeutungszuschreibun-gen reduzierbar sind, die diesen in ihrer Erwartungshaltung jedoch strukturell entspre-chen. Synpoiese unterscheidet sich dahingehend von der Autopoiese, als dass die selbst-organisierende Einheit (hier das Selbst) stetig weitere, „interne“ und „externe“, zum Äquilibrationsschema passende Konstrukte erzeugt und sich durch diese zugleich selbst in seiner Existenz rückwirkend bestätigt. Ferner werden Synergieeffekte insofern poten-ziert, als dass das Selbst mitunter auch sich „verselbstständigende“ Konstrukte und In-strumente (mit-)erzeugt, von deren Rückkopplungseffekten es weiter (in-)formiert wird (vgl. Maddox 2000:15).

Das Modell der Synpoiese setzt damit eine Doppelseitigkeit von (An)Passung voraus:

Selbst ist einerseits lern- und andererseits reproduktionsbezogen; Unterschiede werden

nicht nur registriert, sondern auch bewirkt. Wie sich darin die Kongruenz von Viabilität und Emergenz des Selbst, der Einfluss epigenetischer Regeln und der Exaptationsgedanke äußern, soll mit den Grundprinzipien von Koevolution und evolvierender Evolution nachvollzogen werden. Der koevolutionäre Aspekt wird dabei unter Bezugnahme auf Gregory Batesons Idee von einem „Muster, das verbindet“ beleuchtet (vgl. Bateson 1995:15 ff.). Komplementär dazu soll unter dem Begriff der „einbettenden Matrix“ die von Heinz von Foerster vorgeschlagene Erweiterung von Batesons verbindendem Muster den Aspekt der evolvierenden Evolution aufgreifen (vgl. von Foerster / Bröcker 2007:314). Beide Aspekte zusammen ergeben die Grundausrichtung des Synpoiesemo-dells und bilden damit auch das theoretische Fundament einer Anthropologie des Selbst.

Das Synpoiesemodell typisiert primär die wechselseitige Beeinflussung von Selbstkon-struktion und Selbstorganisation und referiert in diesem Zusammenhang auf entwick-lungsoffene Konstruktionsprozesse von Bedeutungszusammenhängen. Mit ebendieser wechselseitigen Beeinflussung von Selbstkonstruktion und Selbstorganisation hängt der eingangs erwähnte sowie im Titel der Arbeit enthaltene Terminus des Verhältnisses zu-sammen, welcher hier als Dimension struktureller Kopplungen verstanden wird. Der Terminus „Verhältnis“ spricht indirekte, raum- und zeitversetzte Beziehungen an und damit Beziehungen, die vom Menschen konstruiert, inszeniert und erfundenen werden.

Damit geht die Verdeutlichung der Konstruktion von Selektivität einher, die nicht einma-lig angelegt ist, sondern immer wieder neu bestätigt werden muss. Bedingt wird die Neu-bestätigung bevorzugter Handlungs- und Verhaltensoptionen dabei vor allem durch wie-derkehrende Aktivitätsrhythmen, in denen vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zielsetzungen synchronisiert sind. Das Selbst ist dabei – berücksichtigt man das radikal-konstruktivistische Viabilitätskonzept – eine von „prinzipiell unzähligen Möglichkeiten, sich in der Umwelt und im Wandel der Umwelten zu behaupten, doch es ist nie die Um-welt, die bestimmt, wie das zu bewerkstelligen wäre“ (von Glasersfeld 2014:25). Dem-gemäß ist das Selbst weder ein evolutionäres Spitzenprodukt noch eine aufgezwungene Lebensnotwendigkeit. Es ist die beständige Einrichtung einer Entscheidung, deren Viabi-lität, aber auch deren Revidierbarkeit bisher zu wenig wissenschaftlich hinterfragt wurde.

Diesbezüglich wird mit dem Synpoiesemodell auch ein Umdenken assoziiert, welches in Richtung Entscheidungs- und Handlungsverantwortung sowie Bescheidenheit weist. An-genommen wird, dass die Kenntnis entwicklungsgeschichtlicher, koevolutionärer Entste-hungs- und Erhaltungsbedingungen der Viabilität des Selbst ein fundierteres Verständnis

gegenwärtiger, kreativ-lebensförderlicher, aber auch destruktiver Formationen menschli-cher Selbstorganisation ermöglicht. „Das Muster, das verbindet“ und „die einbettende Matrix“ werden vor diesem Hintergrund im Folgenden als Metaphern für die entspre-chenden zwei Aspekte der Synpoiese verwendet.

4.3.1 Das Muster, das verbindet

Die Idee von einem „Muster, das verbindet“ eröffnet Gregory Bateson in seinem Werk

„Geist und Natur – eine notwendige Einheit“ mit der Frage: „Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und alle diese vier mit mir?

Und mich mit Ihnen? Und uns alle sechs mit den Amöben in einer Richtung und mit dem eingeschüchterten Schizophrenen in einer anderen?“ (Bateson 1995:15). Von welchem zentralen Stellenwert diese Idee für Bateson ist, drückt er mit folgendem Satz aus: „Ich biete Ihnen den Ausdruck das Muster, das verbindet als ein Synonym, als einen anderen möglichen Titel dieses Buches an“ (Bateson 1995:15). Das Muster, das verbindet, ver-steht Bateson als Metamuster, als „ein Muster von Mustern“ und ebendieses „Metamuster definiert die weitreichende Verallgemeinerung, dass es in der Tat Muster sind, die ver-binden“ (Bateson 1995:19). Er fährt fort: „In Wahrheit ist die richtige Weise anzufangen, über das Muster, das verbindet, nachzudenken, es primär (was immer das bedeuten mag) als einen Tanz ineinandergreifender Teile aufzufassen, und erst sekundär als festgelegt durch verschiedenartige physikalische Grenzen und durch diejenigen Einschränkungen, die Organismen typischerweise durchsetzen“ (Bateson 1995:22).

Der Grundgedanke der hierin anklingenden systemischen Haltung wird insofern in das Synpoiesekonzept aufgenommen, als auch das Selbst als ein solches Muster, das verbin-det, verstanden wird. Im Wechselverhältnis von Erzeugen und Erzeugtwerden, entstehen mit dem Selbst Verbindungen und Verbindlichkeiten, wo zuvor keine waren. Als ent-scheidender Katalysator der Koevolution und Koexistenz von Mensch und Natur, die, wie Serge Moscovici es ausdrückte, „durch und durch Produkt“ ist, stellt Selbst die Verbin-dung zwischen Vorgefundenem und Gemachtem dar (vgl. Moscovici 1990:38). Das darin zugrundeliegende elementare Muster, das verbindet, schöpft sich dabei aus dem Grund-schema der Äquilibration. In dem dauerhaften Streben nach Gleichgewicht gehen Mus-tererkennung und Mustererzeugung ineinander über. Damit ist jedoch kein abstrakter, lebensferner Prozess angesprochen. Konkret gelten alle darunterfallenden Operationen vor allem der aktiven Eindämmung von Versorgungs- und Planungsinstabilitäten. Das

darin implizite Streben nach Wohlbefinden potenziert sich mit jeder erfolgreichen Kon-struktion von Stabilitätsversprechen. Der gesamte Existenzbereich des Selbst wird sonach durchgehend nach dem Grundschema (oder eben Muster) des Äquilibrationsprozesses erfindend synchronisiert, ausnahmslos jede Nische der menschlichen Selbstorganisation ist davon „durchtränkt“ oder wie Piaget es formulierte, ist jeder „lebendige Gedanke“ durch „inventive Konstruktion“ gekennzeichnet. Hinter jeder Innovation, hinter allen Programmen und Formaten der menschlichen Selbstorganisation, ob individuell oder kol-lektiv, steht das Selbst als Substrat im Sinne eines katalytisch-synergetischen Aus-gangselementes, durch welches die gesamte Um-, Mit- und Außenwelt zugunsten des Äquilibrationsprozesses abstrahierend, erfindend, planend und unterscheidend sequenziert wird. Das verbindende Muster äußert sich sonach durch gestaltende und erkennende Zü-ge, die jedoch immer auf die Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen und zu bewirken, zu-rückgehen. Die Metapher des verbindenden Musters umfasst hier speziell den aktiven, schöpferischen Aspekt der Synpoiese. Unter diesem Aspekt findet Selbstkonstruktion primär über die erzeugte Differenzierung zwischen Selbst und Nicht-Selbst statt. Eben-diese Differenzierung begründet sich durch die synergetische, synchrone Erzeugung von Selbst und Nicht-Selbst, die mit dem Synpoieseansatz angesprochen wird. Die Effekte solcher koevolutionären Verbindungen, den „Tanz ineinandergreifender Teile“, wie Bate-son sagt, gilt es in weiteren Schritten näher zu beleuchten. Unter der Bezeichnung des verbindenden Musters wird diesbezüglich im nächsten Kapitel vor allem die Viabilität, Emergenz und Vervielfältigung der konstruierten Differenzierungsbezüge von Selbst und Nicht-Selbst erläutert.

4.3.2 Die Matrix, die einbettet

Derselben systemischen Haltung folgend, wie sie mit dem verbindenden Muster assoziiert wird, erweiterte Heinz von Foerster Batesons Idee um einen „komplementären Gedan-ken“, den er als „die Matrix, die einbettet“ beschreibt. Von Foerster geht es dabei um ein Ideenbett oder einen Ideenkontext, in welchem sich Muster entwickeln und kristallisieren können. Die „einbettende Matrix“ stellt somit den größeren, allgemeineren Rahmen dar, in dem sich verbindende Muster überhaupt erst bilden. Von Foerster charakterisiert eine solche Matrix allgemein als „etwas, das einbaut; etwas, in dem etwas wachsen kann; et-was in dem etet-was entsteht“. In diesem „Spiel mit Worten“, wie er es anspricht, ist verbale Präzision weniger ausschlaggebend als die Erfindung eines Komplements (von Foerster / Bröcker 2007:314).

In gleicher Weise bildet diese Idee einer einbettenden Matrix auch im Kontext des Syn-poiesekonzeptes ein Komplement zum koevolutionären Aspekt des verbindenden Mus-ters. Mit der Idee der einbettenden Matrix sollen die Grunddynamiken einer evolvieren-den Evolution in die Überlegungen zur Komplementarität von Selbstkonstruktion und Selbstorganisation aufgenommen werden. Hierin soll zum Ausdruck kommen, wie das als exklusiv „persönlich“ wahrgenommene anthropologisch moderne Selbst entwicklungsge-schichtlich vor allem aus „unpersönlichen“ Kräften hervorgegangen ist. Solche Kräfte stehen allgemein in Verbindung mit epigenetischen Regeln sowie emergenten Eigen-schaften und damit auch mit evolutionär ungerichtet entstandenen EigenEigen-schaften in Form von Exaptationen. Der dynamische, synergetisch-konstruierende Aspekt des Selbst, das Muster, das alles mit seiner Selbstkonstruktion verbindet, ist dementsprechend kein kon-textloses Wirkungsgefüge; es vollzieht und schöpft sich prinzipiell in und aus einer viel-schichtigen Hintergrundmatrix von sozio-kultureller Konditionierung. Gleichzeitig kon-stituiert genau diese Matrix im Sinne einer evolvierenden Evolution das Beharrungsver-mögen von Person; das Selbst ist seine eigene Matrix und somit entfällt ein rekonstruier-barer „Beginn“ der Selbstkonstruktion. Deutlich zutage tritt an dieser Stelle die Kongru-enz der Viabilität und EmergKongru-enz des Selbst. Die darin inbegriffene Synchronizität von

„Anfang“ und „Ende“ des Selbst bedingt eine Verschränkung von „Input“ und „Output“ aller inventiven Konstruktionen. Kennzeichnend für diese Synchronizität ist die Zirkula-tion eines gemeinsamen Bedeutungszusammenhangs zwischen SelbstkonstrukZirkula-tion und menschlicher Selbstorganisation; die entworfene, erwünschte oder nur erhoffte Lebensre-alität steht hierbei strukturell in direktem Zusammenhang mit den unaufhörlichen Fluktu-ationen des Äquilibrationsprozesses. Selbst eine einbettende Matrix steht für eine offene Potenzialität, mit der kein endgültiges Ziel, kein dauerhafter Zustand verbunden ist. Diese offene Potenzialität ist die synpoietische Verkettung des Selbst mit nicht nur seiner indi-viduell erfahrenen, sondern auch mit seiner phylogenetischen Geschichte. In dieser Mat-rix ist keine Erfindung, kein hervorgebrachter Zustand, keine vom Menschen erschlosse-ne Existenznische strukturell gänzlich losgekoppelt von vorausgegangeerschlosse-nen Lebenszu-sammenhängen. Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ursachen und Wirkungen bedingen sich so zirkulär kausal gegenseitig und sind unauftrennbar miteinander verwo-ben. Als potenzielle Möglichkeiten, nicht aber als Vorgaben sind jegliche Konstruktionen von Kontext und Relevanz in der Biologie von Homo sapiens so gesehen immer schon latent verfügbar. Gemeint sind spontane Neukombinationen von bereits vorhandenen,

potenziell zur Verfügung stehenden Elementen, wie sie mit dem Exaptationsansatz ange-sprochen werden. Keineswegs unterstellt wird damit ein genetischer Determinismus;

vielmehr richtet sich hierbei abermals der Hinweis auf die emergente Verzweigung von Biologie und Entwicklung. Selbst ist hierin keine vorprogrammierte Absicht, gleichzeitig aber auch kein kontextloser Zu-Fall. Besonders mit den Lebensbedingungen, die mit der kognitiven und landwirtschaftlichen Revolution erzeugt wurden, im Ineinanderlaufen von Vorgefundenem und Gemachtem, potenzierte sich das Verhaltensrepertoire und damit die Viabilität des Selbst. Die einbettende Matrix stellt dahingehend einen adaptiven Hinter-grund dar, der sich insbesondere durch den Wagenhebereffekt (Tomasello) und das auf epigenetischen Regeln beruhende, vorangelegte Lernen (Wilson) kennzeichnet. So ist auch Selbstkonstruktion an diesen Hintergrund strukturell gekoppelt und gleichzeitig wird derselbe Hintergrund vom Selbst erzeugt. Hierin, in ebendiesem adaptiven Hintergrund, findet sich von Foersters Formulierung wieder: „Etwas, das einbaut; etwas, in dem etwas wachsen kann; etwas in dem etwas entsteht“. Eine eingehendere Betrachtung dieser unter dem Begriff der einbettenden Matrix angedeuteten Aspekte der Synpoiese und damit der Aspekte des Selbst soll im kommenden Teil der Arbeit erfolgen. Da die einbettende Mat-rix den allgemeineren, größeren Kontext der Selbstkonstruktion repräsentiert, steht sie im Folgenden auch als Beginn der Begründung des Synpoiesemodells.

Im Dokument Von der Viabilität des Selbst (Seite 103-109)