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Die Suizidraten nach Alter in der DDR

Im Dokument Unter Verschluss (Seite 103-107)

2. Was wissen wir und was noch nicht? Zu Suiziden in der DDR

2.2 Unterschiede der Suizidraten innerhalb der DDR

2.2.3 Die Suizidraten nach Alter in der DDR

Neben den Geschlechterdifferenzen konnte bereits für die gesamte DDR ge-zeigt werden, dass die absolute Suizidmortalität mit zunehmendem Alter an-steigt (vgl. Straub 2000; Dinkel / Görtler 1994: 200; Wiesner u. a. 1992: 20;

Kirsch 1991; Hoffmeister u. a. 1990: S. 605ff; Späte u. a. 1978: 455; Cordes 1963: S. 18ff). Allerdings lag im internationalen Vergleich »in der DDR eine unverhältnismäßig hohe Suizidalitat unter alten Menschen vor« (Casper u. a.

1990: 229–230).

Als Erklärung für die hohen Suizidraten Älterer in der DDR gilt das Zu-sammentreffen verschiedener Faktoren:

»[B]estimmte Lebensumstände (Vereinsamung, Hilflosigkeit), krankheitsbedingte Störungen und Begrenzungen des Lebensraumes (erlebte Leistungsminderung), chro-nische Schlafstörungen und Schmerzzustände sowie gestörte Umweltbeziehungen (Verlust der Arbeit, Fehlen eines Aufgabenkreises, Zerfall von Familienstrukturen) [treffen] gerade in dieser Altersgruppe brennpunktartig zusammen« (Otto 1979:

455).

Zudem wird angemerkt, dass das »Betreuungsangebot der Volkssolidarität oft aus ganz persönlichen Gründen und individuellen Einstellungen nicht alle alten Bürger erreicht, dass weiter die gesetzlich möglichen Unterstützungen und Hilfen nicht in Anspruch genommen werden, weil ›man sich da als Bittsteller vorkommt‹, dass aber andererseits dankbar jede Hilfe bei der Überwindung von Schwierigkeiten angenom-men wird, sobald Partner bei der Bewältigung des Altwerdens und der Vereinsamung akzeptiert werden« (ebd.: 457).53

Ferner gehen Dinkel und Görtler davon aus, dass die hohen Suizidraten der älteren Menschen in der DDR auf die ansteigende Morbidität, Pflegebedürf-tigkeit und Perspektivlosigkeit zurückzuführen seien und es weniger einen Einfluss durch das politische und gesellschaftliche System gebe (vgl. Din-kel / Görtler 1994: 201). Wiesner und Kollegen lenken bei ihrer Diskussion möglicher Gründe für die steigende Suizidalität mit zunehmendem Alter den Blick auf psychische Erkrankungen. So sei Depression die häufigste dem Al-terssuizid vorausgehende Diagnose. Gleichzeitig kamen in der DDR bei fast jeder dritten Person ab einem Alter von 65 Jahren schwere depressive heitsepisoden vor (vgl. Wiesner u. a. 1992: 446). Weitere konkrete Krank-heitsbilder, die sowohl mit dem Alter als auch dem Suizidrisiko stiegen, sei-en all jsei-ene mit hoher Schmerzbelastung und geringsei-en Heilungschancsei-en, wie etwa maligne Neoplasmen, multiple Sklerose, Parkinson oder rheumatische Arthritis (vgl. ebd.: 446). Allerdings, so halten die Autoren fest, führe nicht al-lein eine Krankheitsdiagnose zu Alterssuiziden: »Kaum eine Suizidhandlung, unabhängig von der Art der zugrundeliegenden psychischen oder körperli-chen Erkrankung, findet ohne Bezug zur menschlikörperli-chen Umwelt statt« (ebd.:

446). Folglich sei auch ein »Vorhandensein einer gravierend höheren psych-iatrischen Morbidität in der ostdeutschen Population [...] nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen« (ebd.: 447). Wie auch Wiesner und Kollegen zeigte Slusariuk, dass bei über 40 Prozent seiner untersuchten Suizidfälle zuvor eine

53 Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 2.1.1 hinsichtlich verschiedener Erklärungen der hohen Alterssuizidraten aufgrund des politischen Systems und der in der DDR unterstellten bestehen-den Betreuungsmissstände.

»auffällig depressive Verstimmung feststellbar war« (Slusariuk 1987: S. 38).

Neben der Depression als dominierende Ursache ermittelte der Autor psy-chische Erkrankungen als zweithäufigstes Motiv.

Obgleich die Suizidraten mit zunehmendem Alter steigen und im Seni-um ihr MaximSeni-um erreichen, wurden durchaus auch in der DDR Suizide bei jüngeren Personen registriert, untersucht und diskutiert. Allerdings waren die Differenzen der Suizidraten der BRD und der DDR in den jüngeren Alters-gruppen geringer als bei den älteren (vgl. Schmidtke u. a. 1996: 152). Jaco-basch identifizierte in ihrer Dissertation 54 Publikationen, die sich mit Sui-ziden im Kinder- und Jugendalter in der DDR befassen. In diesen vornehm-lich medizinischen Arbeiten werden Jacobasch zufolge insbesondere »broken-home, Persönlichkeitsfehlentwicklung und die Rolle der Schule« (Jacobasch 1996: 24) als Erklärungen für die Suizidalität junger Menschen genannt. Al-lerdings sind diese Rückschlüsse nicht unumstritten. In einigen Publikatio-nen wird deutlich gemacht, dass broken-home in der DDR keineswegs eine direkte Ursache für Jugendsuizide war (vgl. Felber 1993; A. Schulze 1986;

Ficker 1976). Felber nennt es »allenfalls eine unspezifische (Mit-)Ursache für abweichendes Verhalten« (Felber 1993: 167) und Schulze resümiert diesbe-züglich: »Die statistisch fassbare broken-home-Situation ist an sich nicht die Ursache, sondern der Boden, auf dem solch ungünstige Entwicklungen er-wachsen können« (A. Schulze 1986: 109). Bei dieser Aussage bezieht er sich auf eine Schlussfolgerung Fickers, der sich einige Jahre zuvor in seiner For-schung aus neurologisch-psychiatrischer Perspektive mit dem Stellenwert der broken-home Situation im Entwicklungsgefüge suizidaler junger Menschen befasst hatte (vgl. Ficker 1976).

Schulze sieht vielmehr die kritische Auseinandersetzung mit dem System als einen Auslöser für Suizidhandlungen Jugendlicher und begründet seine Annahme wie folgt:

»Der Zusammenbruch des sozialistischen Wertnormensystems, sobald das kritische Denken bei den Jugendlichen einsetzt, führt zu einem Verlust an Orientierung im Wertnormenbereich, einem Verlust an Glaubwürdigkeit und einer hohen subjektiven Verunsicherung, die in vielen Fällen durch banale Anlässe zu suicidalen Handlungen führt« (A. Schulze 1986: 127).

Allerdings bleiben bei Schulze weiterführende Analysen aus, die diese These stützen. Ferner kann nicht allgemeingültig gezeigt werden, dass die

Suizidra-ten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der DDR kontinuierlich im Vergleich zu der Rate derselben Altersgruppe in der BRD verhältnismäßig hoch waren. Grashoff stellt in diesem Zusammenhang fest:

»Während jene Generationen, deren Kindheit durch die Erfahrung von Krieg und Nachkriegszeit geprägt war, in der DDR höhere Selbsttötungsraten aufwies als die vergleichbare Generation in der Bundesrepublik, verschwand die Ost-West-Differenz Anfang der 1970er-Jahre nahezu vollständig. Seit den 1980er-Jahren sanken die Selbsttötungsraten nicht nur in beiden Teilen Deutschlands, sie glichen sich auch einander an. Diese Entwicklung kann als Folge des ›Aussterbens‹ jener Generationen angesehen werden, die zu den großen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutsch-land seit dem 19. Jahrhundert beigetragen hatten« (Grashoff 2007: 260–261).

Ob tatsächlich ein Generationeneffekt hinter den höheren Suizidraten Ju-gendlicher und junger Erwachsener bis Ende der 1960er-Jahre steckt, ist al-lerdings alleine durch die von Grashoff beobachteten Zusammenhänge nicht so einfach zu schlussfolgern. Die Verläufe könnten ebenfalls ein zeitlicher Ef-fekt sein, wie Grashoff selbst konstatiert. Denn die temporär erhöhten Sui-zidraten der jungen Generation verzeichnete die DDR konkret im Zeitraum 1962 bis 1966, was auch auf einen möglichen Zusammenhang zum Mauer-bau in Berlin hinweisen könnte (vgl. Grashoff 2006: S. 101ff). Hinsichtlich dieser Überlegung hält Grashoff fest:

»Es wäre sicher falsch, zu behaupten, durch den Mauerbau wären Menschen systema-tisch in den Suizid getrieben worden. Dass die vor allem Ende 1961, Anfang 1962 enorm verschärften Repressionen aber in Einzelfällen vorhandene Konfliktsituatio-nen zugespitzt und das Gefühl der Ausweglosigkeit insbesondere bei jungen Men-schen bestärkt haben könnten, ist nicht unwahrscheinlich« (Grashoff 2007: 258).

Nicht nur der Anstieg der Jugendsuizidraten bis Ende der 1960er-Jahre weist Parallelen zu historischen Veränderungen in der DDR auf. Auch das Absin-ken verläuft seit den 1970er-Jahre zeitgleich zu den sozialpolitischen Refor-men (vgl. Kapitel 1.3.3, S. 56ff). Doch auch wenn Grashoff diesbezüglich schlussfolgert, dass ein kausaler Zusammenhang möglich sei (vgl. Grashoff 2006: 103), sind diese parallelen Entwicklungen der Geschichte und der Sui-zidraten keineswegs ein Beleg für Kausalzusammenhänge, sondern stellen le-diglich eine mögliche Interpretation der Verläufe dar.

Cordes, der zwischen 1952 und 1958 in beiden Teilen Deutschlands ähn-liche Verläufe der Suizidraten junger Erwachsener beobachtete, führt

die-se »auf Konflikte und Unstimmigkeiten durch Berufdie-seintritt, die-sexuelle Ent-täuschung und Familienkonflikte in voreilig geschlossenen Ehen« (Cordes 1963: 21) zurück und steht damit im Schulterschluss mit Oschlies, der eben-falls Familien- aber auch Schulkonflikte sowie Liebes- und Partnerkonflikte als Auslöser für Suizidhandlungen Jugendlicher und junger Erwachsener an-sieht (vgl. Oschlies 1976: 55). Auch die Archivrecherchen Grashoffs zeigen, dass in Abschiedsbriefen Jugendlicher der Leistungs- und Anpassungsdruck ebenso wie die strengen erzieherischen Maßnahmen der Lehrkräfte durch-aus als Motive genannt wurden (vgl. Grashoff 2006: S. 102ff). Allerdings sind diese vereinzelt vorliegenden letzten Zeilen in ihrer Aussagekraft für die Gesamtheit der Suizidraten aller Jugendlichen nicht ausreichend.54

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