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Erschließung der DDR-Suizidstatistiken

Im Dokument Unter Verschluss (Seite 137-142)

3. Datengrundlage

3.1 Suizidstatistiken

3.1.3 Erschließung der DDR-Suizidstatistiken

Auch 30 Jahre nach dem Beitritt zur BRD sind die DDR-Suizidstatistiken nicht öffentlich zugänglich. Die wissenschaftliche Literatur war bisher eben-so wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statistischen Bundes- und der Landesämter und des BArchs einhellig der Auffassung, dass Suizidzah-len auf Bezirksebene über eine geschlossene Zeitreihe nicht recherchierbar seien (vgl. Grashoff 2006; Felber / Winiecki 1998; Casper u. a. 1990). Bei-spielsweise resümiert Jacobasch 1996 in ihrer Dissertation:

»Wenn man die akribischen Festlegungen der Meldeordnung von Suiziden und Sui-zidversuchen im Bereich des MdI und des MfS betrachtet, kann man sich vorstellen, dass die Registration innerhalb der statistischen Maschinerie sehr perfekt verlief -natürlich mit dem Ziel der perfekten Geheimhaltung. Leider konnten im Rahmen unserer Untersuchungen die Ergebnisse der Erhebungen im MdI und MfS nicht aus-findig gemacht werden« (Jacobasch 1996: 57).

Ebenso hieß es auf eine Nachfrage meinerseits bei Destatis zu Beginn meiner Recherche in der Antwortemail: »Wir können Ihnen leider auch keine Stelle nennen, wo Sie diese [Suizidzahlen nach Bezirk im Zeitraum von 1961 bis 1990] bekommen können«. Der Grund für diese Unkenntnis und die Annah-me, die Statistiken seien verloren gegangen, liegt sicher in der umfangreichen Vernichtung der Unterlagen zwischen 1989 und 1990.

Welchen Weg haben die Todesursachenstatistiken also nach dem Ende der DDR genommen? Die nach 1989 nicht vernichteten oder gestohlenen Un-terlagen wurden zunächst sichergestellt und vom Robert-Koch-Institut (RKI) aufbewahrt (vgl. Destatis 1995: 12). Die, wie in persönlichen Hintergrund-gesprächen mit ehemaligen Mitarbeiterinnen des SZS und des ISD berichtet wurde, auf dem Speicher des RKI in Kisten deponierten Statistiken wurden

anschließend sukzessive zwischen 1991 und 2001 an das Bundesarchiv über-geben (vgl. Rathje 2003). Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Informationen in den Aufbewahrungskartons noch nicht archivtechnisch aufbereitet wor-den.

Bereits 1998 publizierten Werner Felber und Peter Winiecki einige Ta-bellen mit Suizidzahlen, differenziert nach Altersgruppen und Geschlecht.

Zu der Herkunft dieser Informationen halten die Autoren fest:

»Es war dann im Jahre 1993, dass wir anonym Material zugesandt bekamen, welches die Altersdifferenzierungen der Suizidalität für das gesamte Gebiet der vormaligen DDR zwischen 1961 und 1989 einschloss. Die Postsendung ließ deutlich erkennen, dass es aus dem ehemaligen Institut für Medizinische Statistik und Datenverarbei-tungen in Berlin stammte, dass die Tabellen echt waren, dass es andererseits keine offizielle Übergabe von Material war, weil es weder dazu ein Anschreiben gab noch irgendwo erkennbar war, von wem das Material persönlich uns zugeschickt worden war« (Felber / Winiecki 1998: 43).

Hinsichtlich der Informationen der Suizidzahlen auf Ebene der Bezirke ge-hen die Autoren davon aus, dass die Daten zwar erhoben wurden, allerdings entweder weiter geheim gehalten werden oder im Nachhinein vernichtet wur-den (ebd.: 43). Während eines persönlichen Gespräches mit einem der Au-toren, bestätigte er die Aussage erneut gut 20 Jahre nach Erscheinen des Ar-tikels. Trotz seiner Hartnäckigkeit und jahrelangen Bemühungen konnte er bis dato keine Suizidinformationen für die Bezirke ausfindig machen.

Auch ein Treffen mit der ehemaligen Direktorin des ISD, die das Insti-tut 1990 leitete und ein Telefonat mit der ehemaligen Mitarbeiterin des ISD und der SZS blieben hinsichtlich der erhofften Erkenntnis über den Ver-bleib der DDR-Bezirkssuizidstatistiken ergebnislos.80Allerdings bestätigten die Gesprächspartnerinnen, dass diese Informationen durchaus erfasst wur-den, weshalb ich annahm, dass in den inzwischen archivtechnisch aufberei-teten Akten des SZS und der ISD die Tabellen im BArch zu finden seien. Als besonders wertvoll stellte sich zu Beginn meiner Archivrecherche die Unter-stützung zweier Mitarbeiterinnen des BArch heraus, die bereits in der DDR im Archiv der SZS tätig waren.81

80 Dennoch sei an dieser Stelle den Interviewpartnerinnen für ihre hilfreiche Unterstützung und Auskünfte gedankt.

81 Beide ließen mich an ihrem ein umfangreichen Wissen über die Bestände, den Zugang der Akten in der DDR für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SZS und ihre Erinnerungen der

Nach meiner Literaturrecherche und den persönlichen Gesprächen nahm ich zunächst an, dass die zwischen 1991 und 2001 aus dem RKI im BArch aufgenommenen zahlreichen Dokumente problemlos für wissenschaftliche Analysezwecke zugänglich seien. Doch nicht nur die Dauer der Informations-aufbereitung seitens des BArchs, aufgrund des Umfangs der aufzubereitenden Archivalien, stellt ein Hindernis beim Zugang der Suizidinformationen dar.

Auch die Art des Archivsystems des Bestandes der SZS folgt einer Logik, die ich zu Beginn nicht erwartet hatte. So hieß es in einer Email des BArchs an mich:

»Der gesamte Bestand DE2 der ehemaligen Staatlichen Zentralverwaltung für Statis-tik wurde nach dem sogenannten ›chaotischen‹ System aufgebaut. Das besagt, dass die einzelnen Akten/Dokumente [...] automatisch eine DE2/ Signatur (Archivnum-mer und Standort) zugewiesen bekommen haben. Somit kann es sein, dass in einem DE2-Behälter unterschiedliche, ganz verschiedene statistische Berichterstattungen la-gern [...] bei einem dokumentierten Bestand von weit über 2.600 lfm [...]«.

Konkret bedeutete das für die Recherchen an dem vorliegenden Buch, dass manche Seiten der Todesursachenstatistiken auch in Kartons zu finden waren, die ansonsten Informationen aus dem Bereich Bildung und Kultur oder Be-triebe und Arbeitsstätten beinhalten und deren Signaturen ebendiesen zuge-ordnet werden. Zudem wurde zwischenzeitlich angekündigt, dass Akten mit Informationen, die ich bereits eingesehen hatte und erneut bestellen wollte, vernichtet wurden. Nach dem zunächst gescheiterten Versuch der Bestellung einer Akte mit den Todesursachen auf Bezirksebene für das Jahr 1970 erhielt ich eine Email in der geschrieben stand: »Die Akte DE 2/41383 kann Ihnen leider nicht vorgelegt werden, da diese bei der weiteren Bearbeitung des Be-standes DE 2 als kassabel bewertet, also vernichtet wurde.« Allerdings konnte der Vernichtungsprozess noch rechtzeitig gestoppt werden.82

Schlussendlich konnte ich nach Sichtung unzähliger Akten, bei denen ich vermutete, dass darin die gesuchten Informationen zu finden seien, die Anzahl der suizidierten Frauen und Männer in den Bezirken der DDR für die Zeitreihe 1952 bis 1990 – mit Ausnahme des Jahres 1981 – in den in Tabelle 3) ausgewiesenen Akten des BArchs aus den Beständen des Minis-teriums für Gesundheitswesen (Bestand DQ1) und den Beständen der SZS

Zeit zwischen 1989 und 1990 teilhaben, was maßgeblich mein Verständnis über die Bestände der Archivalien der SZS prägte.

82 Auch am 5. Februar 2020 befand sich die Archivalie noch im Bestand des BArchs.

(Bestand DE2) recherchieren. Für die Jahre 1954 bis 1960 lässt sich die ab-solute Anzahl der Suizide der Männer und Frauen in den Bezirken auch den statistischen Jahrbüchern der DDR entnehmen, die der VEB Deutscher Zen-tralverlag Berlin jährlich publizierte und die durch die SZS herausgegeben wurden.

Tab. 3: Liste der Fundorte der Suizidstatistiken, 1952 bis 1990 Archivsignaturen

BArch DQ1/3111 1952; BArch DE2/1280 1953; BArch DE2/1280 1954;

BArch DE2/1280 1955; BArch DE2/1280 1956; BArch DE2/1280 1957;

BArch DE2/1280 1958; BArch DE2/1280 1959; BArch DE2/1280 1960;

BArch DE2/45569 1961; BArch DE2/45569 1962; BArch DE2/45569 1963; BArch DE2/45569 1964; BArch DE2/45569 1965; BArch DE2/45569 1966; BArch DE2/45569 1967; BArch DE2/45646 1961;

BArch DE2/45646 1962; BArch DE2/45646 1963; BArch DE2/45646 1964; BArch DE2/45646 1965; BArch DE2/45646 1966; BArch DE2/45646 1967; BArch DE2/60134 1961; BArch DE2/60134 1962;

BArch DE2/60134 1963; BArch DE2/60134 1964; BArch DE2/60134 1965; BArch DE2/60134 1966; BArch DE2/60134 1967; BArch DE2/60135 1961; BArch DE2/60135 1962; BArch DE2/60135 1963;

BArch DE2/60135 1964; BArch DE2/60135 1965; BArch DE2/60135 1966; BArch DE2/60135 1967; BArch DE2/21350 1968; BArch DE2/31208 1970; BArch DE2/41383 1970; BArch DE2/41383 1971;

BArch DE2/21355 1972; BArch DE2/21348 1972; BArch DE2/21356 1973; BArch DE2/21357 1976; BArch DE2/21358 1976; BArch DE2/45649 1977; BArch DE2/45649 1978a; BArch DE2/55008 1979;

BArch DE2/45649 1980; BArch DE2/55008 1980; BArch DE2/55008 1982; BArch DE2/55008 1983; BArch DE2/55008 1984; BArch DE2/55008 1985; BArch DE2/55008 1986; BArch DE2/55008 1987;

BArch DE2/55008 1988; BArch DQ112/16 1990; BArch DE2/21020 1991e

Konkret sind die Informationen zu der Suizidmortalität des jeweiligen Vor-jahres auf Bezirksebene in den statistischen Jahrbüchern 1955 und bis ein-schließlich 1961 ausgewiesen. Allerdings liegt hier keine Altersdifferenzie-rung vor. Die Angaben der Summe der Suizide in den Tabellen, die den Akten des BArchs entnommen wurden, entsprechen der Anzahl der Suizide in den Bezirken, die in den Jahrbüchern genannt werden.

In den Todesursachenstatistiken der Jahre 1952 bis 1978 sowie 1989, die in den genannten Archivquellen recherchiert wurden, liegen die Suizidzahlen in den Bezirken zudem differenziert in verschiedene Altersgruppen vor. Die Anzahl der Altersgruppen variiert zwischen elf und 19, wobei auch Suizide für unter 10-Jährige in den Tabellen ausgewiesen werden.

Für eine Vergleichbarkeit der Altersgruppensuizide wurden für alle Jahre die Suizidzahlen in folgende acht Altersgruppen zusammengefasst:

– 10- bis unter 15-Jährige – 15- bis unter 25-Jährige – 25- bis unter 45-Jährige – 45- bis unter 50-Jährige – 50- bis unter 60-Jährige – 60- bis unter 65-Jährige – 65- bis unter 75-Jährige – über 75-Jährige

Für diese Altersgruppen liegen lückenlos die Suizidzahlen der Frauen, Män-ner und Personen insgesamt in den Bezirken für die Jahre 1952 bis 1978 sowie 1989 vor. Dieses Rechercheergebnis deckt sich in etwa mit folgender Aussage von Destatis: Ab 1977 wurden »für die Bezirke [...] keine Auswertungen nach Altersgruppen durchgeführt« (vgl. Destatis 1995: 12).

Für das Gebiet der gesamten DDR konnte eine geschlossene Zeitreihe der Suizide der Männer und Frauen in verschiedenen Altersgruppen von 1952 bis 1990 erhoben werden. Die Quelle dieser Angaben ist für die Jahre 1979 bis 1989 die bereits erwähnte Publikation von Felber und Winiecki (vgl. Fel-ber / Winiecki 1998) und für das Jahr 1990 die Archivalie BArch DE2/21020 1991e.

Neben den Suizidstatistiken erhob ich eine Vielzahl weiterer soziodemo-graphischer, sozial- und infrastruktureller Statistiken sowie kriminalstatisti-sche Informationen aus unterschiedlichen Quellen. Im Zusammenspiel mit

den Suizidraten stellen diese Angaben eine solide und bisher einzigartige Da-tenbasis dar, um in den Analysen in Teil II (S. 167ff) die für dieses Buch gestellten Forschungsfragen zu untersuchen.

Im Dokument Unter Verschluss (Seite 137-142)