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Subjekttheoretische Perspektiven in der Biografieforschung

Inzwischen wurde – angestoßen durch gendertheoretische Infragestellungen des problematischen Subjektverständnisses – eine Neuthematisierung des sub-jekttheoretischen Verständnisses sowie dessen begrifflich‐theoretische Klärung innerhalb der Biografieforschung notwendig.

Verschiedene Autor_innen (Rose 2012, Thon 2012, Hanses 2013, Hartmann 2015, Rendtorff 2015) nehmen aktuelle Transformationen gesellschaftlicher Geschlech-terverhältnisse zum Ausgangspunkt, bisherige Annahmen von Geschlecht und So-zialisation neu zu denken und weiterzuentwickeln. Im Folgenden beziehe ich mich auf einige ausgewählte Arbeiten, die für mich Anknüpfungspunkte an die vorlie-gende Forschungsarbeit bieten.

So zeigt Jutta Hartmann (2015) in ihren Überlegungen, wie die Arbeiten Butlers Anschlussmöglichkeiten für grundlegende sozialisationstheoretische Fragestellun-gen bieten. Dabei geht sie davon aus, dass

»Butlers Konzentration auf die Gleichzeitigkeit von normativer Beschränkung und verändernder Handlungsfähigkeit des Subjekts, mit ihrer Frage, in welcher Art und Weise die Konstruktion heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit als ein Inein-ander von normativen Zwängen und von Transformationen derselben begriffen werden kann … Anschlussmöglichkeiten für grundlegende sozialisationstheore-tische Fragestellungen auf diskurs- und praxistheoresozialisationstheore-tischer Ebene« (Hartmann 2015, S. 55)

bietet. Sie zeigt zentrale Berührungspunkte zwischen poststrukturalistischen Per-spektiven und dem sozialisationstheoretischen Paradigma auf und macht anhand von Studien, die im Anschluss an Butlers Theorien durchgeführt wurden, deutlich, wie anhand diskurs- und praxistheoretischer Überlegungen der Diskussion um Sozialisation und Geschlecht konstruktiv begegnet werden kann (vgl. Hartmann 2015, S. 72). Danach kommt es zu einer Hervorhebung der gesellschaftlich‐kultu-rellen Dimension der Subjektbildung, und »das in seiner Psyche wie in seinem Körper entessentialisierte Subjekt [erscheint; Anm. d. Verf.] mit Blick auf seine Handlungsfähigkeit gleichwohl nicht überdeterminiert« (ebd.). Das Konzept der Performativität ermöglicht, die Dominanz von Strukturen, aber auch Aspekte wie Gewalt und Verletzlichkeit als bedeutsame Sozialisationsfaktoren zu diskutieren und Fragen auf das Wie und Warum von Differenzen zu richten.

»Das in den Praxen liegende Aufrufen wie Untergraben normativer Vorlagen, die Gleichzeitigkeit im Hervorbringen und Verwerfen spezifischer Subjektpositionen, die wechselseitige Wirkkraft verschiedener Differenzkategorien wie die Berück-sichtigung damit zusammenhängender Diskriminierungserfahrungen markieren Facetten einer poststrukturalistischen reformulierten Sozialisationstheorie, die

geeignet dafür erscheint, sich der Komplexität des Geschlechtlichwerdens und -seins anzunähern. Sichtbar werden Spielräume und Geschlechterordnungen, die mit den bisherigen Theorieperspektiven nicht in den Blick gekommen sind.«

(Hartmann 2015, S. 73)

Entgegen den bisherigen sozialisationstheoretischen Ansätzen stehen sich inner-halb der poststrukturalistischen Theorien Subjekt und Diskurs nicht als zwei ge-trennte Dimensionen gegenüber, sondern das Subjekt wird als stets diskursiv ver-standen, und Diskurs wird subjektiv hervorgebracht (vgl. ebd., S. 73). Damit wird das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie mit dem Konzept der Performa-tivität anders als in den Sozialisationstheorien theoretisiert. Indem »SubjekPerforma-tivität als entscheidender Ansatzpunkt von Macht und Subjektivierung als zentraler Ort gesellschaftlich‐kultureller Aushandlung« (ebd.) angesehen wird, ist das Individu-um mittels dieser Struktur als Subjekt konstituiert und nicht in die heteronorma-tive Zweigeschlechtlichkeit integriert (vgl. ebd.). Die Handlungsfähigkeit von Sub-jekten kann sich danach auch nur im Kontext gesellschaftlich‐kultureller Diskurse und Praxen entwickeln. Ansatzpunkte zur Emanzipation bieten die Überlegungen im Anschluss an Foucault (1977, zit. in ebd.) zum »gesellschaftlichen Individuum, das sich seiner Vielfältigkeit gewahr wird und sich zu seinen Weisen der Unter-werfung reflektierend verhält« (ebd.).

Auch Rose (2012) diskutiert diskurstheoretische Anregungen und Herausforde-rungen biografischer Forschung, die sich aus der Konfrontation mit Implikationen aus der Butlerschen Diskurstheorie ergeben:

»Mit Butler könnte man also sagen, dass das Subjekt in Abhängigkeit von und in Unterwerfung unter normative Diskurse konstituiert wird, die regulieren, was das Subjekt überhaupt sein kann (und damit auch implizit, was es nicht sein kann und darf). Subjektivierung bezeichnet in Butlers Perspektive vor allem die Gleichzeitig-keitder Ermöglichung und der Restriktion des Subjekts im Rahmen von Diskur-sen, denen das Subjekt in seiner Existenz immer verpflichtet und auf sie verwie-sen bleibt. Insofern kann Subjektivierung als normierende und formierende Bil-dung eines Subjekts in Abhängigkeit von einem Diskurs verstanden werden, der immer schon festlegt, unter welchen Umständen etwas überhaupt zum ›Subjekt‹

werden kann, ohne damit subjektive Handlungsfähigkeit gänzlich zu unterminie-ren.« (Rose 2012, S. 115, Herv. im Original)

Das Subjekt ist also einerseits diskursiven Normen unterworfen, wird aber den-noch von Butler als handlungsfähiges Subjekt entworfen. Handlungsfähigkeit ver-steht sich dabei als »begrenzte Ermächtigung eines Subjekts im Diskurs« (ebd., S. 116). Durch wiederholendes, performatives Bestätigen werden nach Butler Nor-men und Ordnungen erst wirksam. Und genau an dieser Stelle, der performativen Herstellung von Normen, sieht Butler die Möglichkeit für Widerstand. Es geht

But-ler darum, »das normierende und normierte Sprechen gleichsam von innen her zu öffnen und in der Kluft der konstitutiven Nicht-Übereinstimmung, die sich in der Wiederholung ergeben kann, die Möglichkeit für Widerstand anzusiedeln.« (ebd., S. 117). Es sind damit Praktiken gemeint, die durch das nicht ordnungsgemäße Wiederholen diskursive Bedeutungen und Normen verschieben können.

Übertragen auf biografische Forschung bedeutet das, dass nicht erzählte Ge-schichten über das Werden des Subjekts als Ausgangspunkt genommen werden.

Stattdessen werden die diskursiven Regulierungen des Sprechens, also die diesem Sprechen eingelagerten Normen, in die Analyse miteinbezogen, denn »das Erzäh-len dieser Geschichte lässt das Subjekt erstwerden, was es bereits zu sein meint«

(ebd., S. 112, Herv. im Original). Demnach gibt es auch kein Subjekt hinter dem Text, sondern allein der lebensgeschichtliche Text gibt Auskunft über das zur Frage stehende Subjekt und dessen Konstitution. Zudem verweist Rose auf die »Weltver-pflichtetheit« (ebd., S. 118) biografischer Texte, die sie als Orte des Aufrufens und Weiterleitens von Diskursen versteht. Aus diesem Grunde folgert sie auch die Not-wendigkeit, die dem Sprechen eingelagerten Normen ebenfalls in die Analyse mit einzubeziehen und sich kritisch‐reflexiv und dekonstruktiv mit biografischen Tex-ten auseinanderzusetzen. Ziel ist dabei, mithilfe von biografischem Material die

»individuellen Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und subjektiver Erfah-rungen« (Ehrenspeck 2010, S. 164, zit. in Rose 2012, S. 111) zu analysieren, um Er-kenntnisse über biografisch vollzogene oder sich im Erzählen vollziehende Denk-und Handlungsmuster zu gewinnen. Das neunte Kapitel dieser Arbeit verfolgt in diesem Zusammenhang empirisch zwei Fragestellungen: Zum einen wird unter-sucht, wie über die Partizipation an Diskursen Kategorien der (Selbst-)Beschrei-bung aufgegriffen werden. Zum anderen wird die Perspektive darauf gerichtet, an welchen Stellen dominante Diskurse unterlaufen werden und sich damit Phäno-mene von Widerständigkeit zeigen.

3.4 Fazit

Die vorliegende Arbeit rekurriert aus zwei Gründen auf biografietheoretische Per-spektiven:

1. Eine biografietheoretische Perspektive impliziert meines Erachtens immer auch die Annahme individueller Lebensgeschichten, denen eine individuierte Struktur von Haltungen und Dispositionen zugrunde liegt. Biografische Er-fahrungsprozesse lassen sich demnach getrennt von kollektiven Prägungen analysieren – wenngleich diese aufeinander bezogen bleiben. Eine biografische Perspektive lohnt sich in der vorliegenden Studie, weil so die adoleszenten und biografischen Verarbeitungsprozesse der befragten jungen Frauen analysiert

werden können. Zudem ermöglicht der Rückgriff auf biografietheoretische An-nahmen, insbesondere in Bezug auf erzähltheoretische Grundlagen (Schütze 1983), Wandlungsprozesse und damit Transformationen der Orientierungs-rahmen in den Biografien in den Blick zu nehmen (vgl. dazu auch die Arbeiten von Helsper u.a. 2013; Kramer 2009; Kramer 2013). Konkret bedeutet das, die Perspektive auf die Genese individueller Beziehungsvorstellungen, die Inkorporation von Praktiken und Orientierungen – nicht nur, aber insbe-sondere auch im Erfahrungsraum Familie –, sowie Transformationen dieser inkorporierten Haltungen und Praktiken zu richten.

2. Biografie wird sowohl als Prozess als auch als Produkt gedacht und verstanden und versucht somit als Konzept, die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft zu erfassen. Mit den thematisierten Fragen nach Handlungsmög-lichkeiten von Frauen in Gewaltbeziehungen sowie nach der möglichen Repro-duktion und Transformation von Verhaltensweisen und sozialen Verhältnissen werden auch Fragen zu Subjektivität aufgeworfen, weshalb der biografietheo-retische Zugang um eine subjekttheobiografietheo-retische Perspektive ergänzt wird. Diesen Fragen liegen diskurstheoretische Überlegungen zugrunde, die davon ausge-hen, dass wir den zeitgeschichtlichen Diskursen sowie den strukturellen Be-dingungen des Aufwachsens unterliegen bzw. uns mit diesen auseinanderset-zen: »Denn eine Biografie wird nicht nur durch die individuelle Erfahrungs-geschichte und durch situative und kommunikative Bedingungen strukturiert, sondern eben auch durch Diskurse, die quer zu den übrigen Konstitutionspro-zessen liegen« (Spies 2009, [Absatz 70]). Theorien der Subjektivation sind

»zwingend auf praktikentheoretische bzw. praxeologische Theorien ver- und an-gewiesen – und das nicht nur, weil praxeologisch betont wird, dass das, was Men-schen sind, nicht substantiell zu begreifen ist, sondern auch und in dem entsteht, was sie aus sich selbst – unter naturalen, sozialen und kulturellen Bedingungen – machen; sondern vielmehr, weil Subjektivationsprozesse einerseits auf konkrete, materiale, soziale und kulturelle sowie explizit praktische Gestaltungen und de-ren Dynamik und Prozessualität andererseits verweisen« (Ricken u.a. 2017, S. 205).

Aus den diskurstheoretischen Bezügen leitet sich somit ein praxeologisches Grundverständnis ab, das davon ausgeht, »dass Subjekte aus der Verwirklichung von Körpern in sozialen Praxen entstehen« (Alkemeyer u.a. 2015, S. 25). In diesem Verständnis rückt »daswievor daswasund vor daswarum« (Stauber 2014, S. 28, Herv. im Original). Demnach richtet die vorliegende Arbeit ihre Perspektive bei der Frage nach der Herstellung und Gestaltung von Paarbeziehung und dem Umgang mit Gewalterfahrungen darauf, wie die beteiligten Akteurinnen an ihrer eigenen Konstitution mitwirken, wo und wie dominante Normen wiederholt werden. Sie richtet ihren Blick aber auch darauf, wie solche Normen und Diskurse

unterlaufen und unterbrochen werden können, wie sich individuelle Praktiken also auch diskursiv niederschlagen können, und zeigt damit nicht nur Momente der Unterwerfung, sondern auch der Ermächtigung auf.