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Neben dem ersten Stuttgarter Waldorfschulbau wird in der anthroposophischen Literatur von dem sogenannten

»Stuttgarter Bau« gesprochen, mit dem das erste eigene Ge-sellschaftsgebäude in der Geschichte der anthroposophischen Bewegung gemeint ist, welches 1911 in der Landhausstraße 70 in Stuttgart errichtet wurde. Infolge des Verbotes der An-throposophischen Gesellschaft in Deutschland seitens der Na-tionalsozialisten musste das Haus 1935 aufgegeben und die Inneneinrichtung entfernt werden.

Die Planung des Hauses wurde nach Angaben Rudolf Steiners von dem Architekten und Gesellschaftsmitglied Carl Schmid-Curtius ausgeführt. Im Vergleich mit der Fassade der später gebauten Waldorfschule oder gar der Goetheanumbauten in Dornach fügte sich das Gebäude äu-ßerlich unauffällig in die Häuserzeile der Straße ein. Es scheint, dass Rudolf Steiner die Gestaltung des äußeren Er-scheinungsbildes mehr oder weniger dem Architekten über-lassen hatte, dagegen die Innenraumgestaltung bis in die De-tails vorgab. Dafür spricht eine Äußerung Steiners, die er im Dezember 1911 im Hinblick auf den Münchner Johannesbau, aber auch unter Erwähnung des Stuttgarter Baus machte.

Darin bringt er das Auftreten des nach außen hin unsichtba-ren Spirituellen im Innern des Menschen mit der Ausgestal-tung eines Innenraumes für spirituelle Zwecke in Verbindung und formuliert die Ziele anthroposophischen Bauens noch exklusiv für das Interieur. Es käme einzig auf die dem Spiri-tuellen entsprechende Gestaltung des Innenraums an, ganz abgesehen davon, wie der Bau sich nach außen hin darstel-len würde:

»Da könnte er von allen Seiten mit Stroh umhüllt sein – das ist ganz gleichgültig. Der äußere Anblick ist für die äu-ßere profane Welt da, die das Innere nichts angeht. Der In-nenraum wird das sein, um was es sich handelt.«211

Meines Wissens findet sich be-züglich des Stuttgarter Baus keine Äußerung Steiners oder eines Kom-mentators überliefert, die das äuße-re Erscheinungsbild des Baues er-wähnt, dafür gibt es viele ausführli-che Schilderungen über die Innen-raumgestaltung, die keinen Zweifel an der Urheberschaft Steiners lassen.

Die untergeordnete Rolle des Archi-tekten brachte dieser selbst in seiner Ansprache zur Einweihung zum Aus-druck: »In diesen Räumen sind die okkulten Motive nach einer grundle-genden Idee unter höherer Leitung und Genehmigung angeordnet; wir wissen, daß alles, was uns hier um-gibt, der Ausdruck eines Geistigen ist.«212 Mit »alles« (was uns hier um-gibt) war weitgehend alles im Sinne von Designaufgaben gemeint: von der Farbgebung des gesamten Inte-rieurs bis zum Design beispielsweise der Stühle und Beleuchtungskörper.

Nach dem Münchner Kongress handelte es sich auch bei der Gestal-tung des Stuttgarter Zweighauses um Aufgaben, die Rudolf Steiner nach heutigen Begriffen als Innenarchitekt und als Designer, weniger als Archi-tekt und »Künstler« durchführte.

Wieder wurde versucht, Versamm-lungsräume für theosophische Veran-staltungen spirituell zweckentspre-chend einzurichten; wieder wurden die Räume in der Farbpolarität von Rot und Blau getönt. Rot war der als Besprechungszimmer und

Emp-fangsraum dienende Vorraum. Der daran anschließende Ver-anstaltungsraum im Erdgeschoss war einheitlich in blauen Tönen213 gehalten, die sich zur Decke hin heller abstuften:

unten die kräftig blau gebeizte Holzverkleidung, darüber eine Putzzone in hellerem Blau und schließlich die nochmals hel-lere, schräg herabgezogene blaue Decke. Die erhaltenen Fo-tografien zeigen ornamentale Bänder, welche die verschie-denen Zonen miteinander verbinden, indem sie von unten nach oben oder von oben nach unten in die mittlere Zone hineinra-gen. Wie in dem Berliner Zweigraum senkten sich tropfenförmige Motive von Oben herab – in Stuttgart

streb-ten ihnen vom Rand der Holzvertäfelung sich öffnende, »emp-fangende« Motive entgegen. Bei den oberen Formen, in ih-rem Wechsel zwischen langen »Tropfen« und kurzen Spit-zen, handelte es sich zweifelsohne um eine Reihung der obe-ren Kapitellformen der sogenannten Sonnensäule. Entspre-chend scheinen die unteren Formen in jeweils zwei Varianten die unteren Kapitellformen wiederzugeben, wobei eine Vari-ante als verbundene Reihung unterhalb der Planetensiegel an der Emporenbrüstung erscheint, die andere als lose Reihe jeweils am Ende der Abdeckleisten der hölzernen Verklei-dungstafeln angebracht wurde.

Licht und Schattenverhältnisse der Abbildungen legen eine reliefartige Ausführung der ornamentalen Muster nahe.

Wie schon erwähnt und bezüglich der Säulenkapitelle zitiert, handelt es sich bei Steinerschen Ornamenten nicht um »lee-ren« oder beliebigen Zierrat, sondern um funktionale Ge-staltungselemente, um Motive einer sphärenmusikalischen Komposition, um »überphysische« Kräfte in physischen For-men, die auf den Betrachter spirituell förderliche Wirkungen ausüben sollten.

Das durchgängige Grundthema der Säulenkapitelle wur-de von Steiner als Zusammenspiel eines Oberen und Unteren charakterisiert: »Dasselbe Motiv geht durch alle sieben Kapitäler: eine Kraft von oben und eine Kraft von unten, die sich entgegenstreben, dann sich erreichend, zusammenwir-ken.«214 Analog könnte der Hauptzweck des theosophisch-anthroposophischen Versammlungsraumes unter dem Motiv der nach »Erkenntnis höherer Welten« strebenden Seelen

be-schrieben werden. Dieses Strebens- und Durchdringungsmo-tiv des irdisch-menschlichen »Unten« mit dem geistig-göttli-chen »Oben« findet sich auch in der Symbolik des Hexa-gramms, das die Gestaltung des Saals entschieden prägte.

Steiner beschrieb das Hexagramm – von ihm auch »Salomo-nischer Schlüssel« genannt – als zwei ineinander geschobe-ne Dreiecke, ein oberes und ein unteres; als Aufwärts- und Abwärtsströmung im Menschen; als realsymbolisches Mit-tel zur Erkenntnis jener Linien, »welche von der Götterseite her in die Welt hineingezeichnet waren, um die Welt zu kon-stituieren.«215

In der Art zweier ineinander geschobener Dreiecke fin-det sich der Sechsstern im oberen Feld der bleiverglasten farbigen Fenster des Saals. Quasi als »Grundton« wurde der Siegelreihe an der Empore ein Hexagon unterlegt und hexa-gonale Elemente finden sich an den oberen Abschlüssen der Türen und Fenster, sowie eines portal- oder chorartigen Raumeinschnitts hinter der später eingebauten Bühne. Die auf dem hellblauen Grund der Empore aufgereihten sieben Planetensiegel waren nunmehr komplettiert, d. h. die fünf Münchner Vignetten des Programmheftes waren um zwei weitere Siegel ergänzt. Die golden ausgeführten Linien der Siegelfiguren glänzten auf einer runden dunkelblauen Schei-be üSchei-ber einem blauen Sechseck. Ein Umbau in den Jahren 1921/22 erweiterte den Veranstaltungsraum um Bühne, Ne-benräume und Säulen. Die höhergelegte Bühne besaß eine Brüstung von sechs gleichen Siegeln in Form durchbrochener Holztafeln. Es scheint sich formal um eine Mischform des ersten und zweiten Planetensiegels gehandelt zu haben. Auf der Fotografie kann man eine siebte gleichartig ausgeführte, aber unterschiedlich gestaltete Siegelform erkennen, die ei-ner Vignette gleicht, die Rudolf Steiei-ner für sein erstes Dra-ma »Die Pforte der Einweihung. Ein Rosenkreuzermysteri-um.« entworfen hatte.

Vermutlich handelte es sich bei den sechs Siegeltafeln um Teile einer abnehmbaren Brüstung (da die Bühnenebene augenscheinlich auch für eine bestuhlte Nutzung diente) und bei dem siebten Siegel um den »schmückenden« Teil eines

Rednerpultes. Rednerpulte gehörten normalerweise zur Stan-dardausstattung eines anthroposophischen Veranstaltungsrau-mes, da Steiner dem In-Erscheinung-Treten des Geistes durch das gesprochene Wort stets einen würdigen Rahmen zu ver-leihen suchte. Denn: »Wo tritt uns noch eine Andeutung ent-gegen von dem überphysischen Menschen in dem äußeren physischen Menschen? Nirgends anders als da, wo der Mensch dem Worte das einverleibt, was in seinem Innern lebt, wo er spricht, wo das Wort Weisheit und Gebet wird und – ohne die gewöhnliche oder irgendeine sentimentale Ne-benbedeutung dieser Worte – in der Weisheit und im Gebete dem Menschen[leibe] sich anvertrauend, Weltenrätsel um-hüllt!«216

Aus dem Zitierten und den bis anhin erörter-ten Maximen des spirituellen Funktionalismus Steiners geht der hohe Stellenwert eines Redner-pultes für anthroposophische Mitteilungen hervor.

Das erste Goetheanum in Dornach wurde von Steiner mehrfach als »Haus des Wortes« bezeich-net, und dementsprechend gestaltete er den Ort des gesprochenen Wortes, nämlich das Rednerpult, höchst ungewöhnlich als funktionale Skulptur. Es wird bei der Besprechung dieses »Pultes« zu zei-gen sein, inwiefern man quasi von einem anthro-posophischen Kultus des Wortes – im Sinne der Vermittlung göttlicher Worte – sprechen könnte, zu dessen Bestandteil ein adäquat gestaltetes Rednerpult gehörte.

Kultische Handlungen innerhalb der damaligen theoso-phischen Gesellschaft nach Art freimaurerischer Riten wur-den in der sogenannte Esoterischen Schule Rudolf Steiners bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges abgehalten. Für diese symbolisch-kultischen Handlungen wurde durch die In-itiative des Architekten Schmid-Curtius und des Gesell-schaftsmitgliedes E. A. Carl Stockmeyer im Kellergeschoss des Stuttgarter Hauses eigens ein Saal eingerichtet, der nach Angaben ausgeführt wurde, die Steiner für ein Architektur-modell gegeben hatte. Zu dem Bau eines begehbaren Mo-dellbaus kam es, weil Stockmeyer, der als

einundzwanzig-jähriger Student an dem Münchner Kongress teilgenommen hatte und unter dem starken Eindruck der künstlerischen Ge-staltung 1908 Rudolf Steiner nach der Architektur fragte, die zu den damals gezeigten Säulen gehören würde. Dieser skizzierte ihm kurzerhand auf, wie die Säulen in zwei gegen-überliegenden Reihen einen elliptischen Raum umfassen und eine Kuppel in Form eines dreiachsigen Ellipsoids tragen sollten. Hinter den Säulen sollte ein, gleichfalls von Ellipso-iden »muschelartig« überdeckter, Umgang sein. Mit bis in Einzelheiten gehenden Erläuterungen versehen, unternahm Stockmeyer den Bau eines Modells, das als der »Modellbau von Malsch« in die anthroposophische Architekturgeschich-te einging.217

Von der Grundsteinlegung des Malscher Baus haben sich Erinnerungsnotizen erhalten, die für das Verständnis der For-mensprache des oberen Stuttgarter Saals dienlich sind, da vergleichbare Aufzeichnungen der Stuttgarter Grundsteinle-gung mit Ausnahme eines Fragments nicht mehr vorliegen.

Erstaunlich genug ist schon die Tatsache einer feierlichen Grundsteinlegung für einen Modellbau, anlässlich derer Steiner eine festliche Ansprache hielt und eigenhändig eine Grundstein-Urkunde mit einer symbolischen Zeichnung ver-fasste. Von dem Festakt, der in der Nacht vom 5. auf den 6.

April 1909 beim Aufgehen des ersten Frühlingsvollmondes vollzogen wurde, berichtete ein Teilnehmer:

»Rudolf Steiner trat vor den Tisch, hinter dem wir standen, mit der von ihm verfassten Urkunde.

Erst erklärte er das Zeichen des Makrokosmos, das er mit einfachen Linien darauf gezeichnet hatte. Um den aus zwei sich durchkreuzenden Dreiecken gebil-deten Sechsstern schlossen sich zwei Drachen, wel-che sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Oben ein weißer, beflügelter Drache, untenhin ein vertrock-neter, dunkler. Rechts standen untereinander die Worte:‹Oben alles wie unten.›, und man las links von unten beginnend nach aufwärts: ‹Unten alles wie oben›.«218

Es ist anzunehmen, dass die Stuttgarter Grundsteinle-gung ebenfalls mit einer derartigen Feier samt vergleichba-rer Urkunde begangen wurde. Jedenfalls bietet das »Zeichen des Makrokosmos« eine Erklärung für die von einem Kreis umschlossenen Hexagramme der Saalfenster, die hexagona-len Gestaltungselemente an den oberen Abschlüssen von Fens-tern, Türen und Stühlen, sowie für das Sich-Ineinanderfü-gen von oberer und unterer Ornamentik. Die in theosophi-schen Kreisen bekannte hermetische Lehre von der Entspre-chung des himmlischen Makrokosmos mit dem irdischen Mi-krokosmos, des »Oben alles wie unten – Unten alles wie oben«

dürfte auch als Gestaltungsaufgabe verstanden worden sein, als andere Form des Satzes: »Kein Geist ohne Materie – kei-ne Materie ohkei-ne Geist«. In der Wiedergabe der Ansprache Steiners nach dem Gedächtnis einer Teilnehmerin heißt es:

»Unter Schmerzen hat unsere Mutter Erde sich verfestigt.

Unsere Mission ist es, sie wieder zu vergeistigen, zu erlösen, indem wir sie durch die Kraft unserer Hände umarbeiten zu einem geisterfüllten Kunstwerk.«219

Eigentlich hätte sich Steiner den Modellbau als großen Raum, als »Rosenkreuzertempel« unterirdisch, in den Fel-sen gehauen gewünscht, am besten in Granit. Die Säulen sollten wenn möglich aus grünlichem sibirischem Syenit her-gestellt werden, die Wände leuchtend rot und die Decke blau gefärbt sein. »Unterirdisch«, sprich im Kellergeschoss des Stuttgarter Zweighauses wurde nach den raumangepassten Vorgaben des Malscher Modellbaus dieser sogenannte »Säu-lensaal« eingebaut. Das Makrokosmische fand seinen Aus-druck in eben diesen Planetensäulen (die nicht in Syenit, son-dern in rotem Sandstein ausgeführt wurden) und in symboli-schen Malereien der zwölf Tierkreiszeichen an der Kuppel-decke.

Mit dem Entwurf für den Modellbau von Malsch bezie-hungsweise den Stuttgarter Säulensaal wird Steiners archi-tektonische Imaginationsgabe sichtbar – und gleichfalls ein sich oft wiederholendes Muster der Entstehung seiner Ent-würfe: Jemand tritt mit einer Frage, Idee, einem Wunsch oder

Vorschlag an Steiner heran, er antwortet, greift zum Stift und entwirft.

Nur wenige dieser primären Entwurfsskizzen liegen noch vor, öfter finden sich sekundäre Skizzen oder Pläne, die auf der Grundlage der Primärskizzen oder mündlichen »Skiz-zen« angefertigt wurden. Manchmal finden sich darin einge-zeichnete Korrekturen von Steiners Hand. Eine sekundäre Planzeichnung für die Bestuhlung des Säulensaals blieb er-halten. Sie zeigt die zwei Arten der Saalstühle, die in der Formgebung der Lehne dem jeweils eckigen und runden For-menduktus der Säle angepasst waren. Da die Fertigstellung des Säulensaals später als diejenige des oberen Versamm-lungsraums erfolgte, datiert die Zeichnung für die Nachbe-stellung der Säulensaal-Stühle auf den 12. 3. 1912. Die An-zahl von zwölf Stühlen weist auf die kultisch-symbolische Bestimmung des Saals.220

Zwischenbemerkung:

Unter dem Gesichtspunkt einer designfokussierenden Be-trachtung gilt es hervorzuheben, dass sich die bildnerisch-schöpferischen Leistungen Steiners am Stuttgarter »Bau«

ausschließlich auf die Innenarchitektur221, auf das Design des Interieurs richteten, gemäß seiner Aussage: »Der Innenraum wird das sein, um was es sich handelt.« Diese Aussage war auch auf das zuerst für München projektierte erste Goethea-num gemünzt – damals noch »Johannesbau« genannt. Mit Ausnahme der Entwürfe für dieses Münchner Gebäude wid-mete sich Steiner erst mit den Bauten für Dornach dem ar-chitektonischen Exterieur und trat als Architekt der Goethe-anumbauten, sowie als »Architekt von Wohn- und Zweck-bauten« in Erscheinung.222 Das architektonische Werk Steiners wurde relativ gut dokumentiert und erforscht – das Gebiet des Design nur teilweise. Schmuckdesign wurde un-ter dem Begriff »Kleinodienkunst« innerhalb der Gesamt-ausgabe erfasst. Den erwähnten Eurythmiefiguren wurde ein eigener Band gewidmet, ebenso den Glasfenstern der Goe-theanumbauten. Weiter finden sich Bände über Rudolf Steiners grafische, malerische und plastische Werke. Was bislang gefehlt hat, und was die bisherige Untersuchung zei-gen sollte, war einerseits die Relevanz der modernen Design-begriffe für ein umfassenderes Verständnis der bildnerischen Werke Steiners. Was weiterhin fehlte, und was andererseits hier dargestellt werden soll, ist eine Werkgruppe, die zu dem gehört, was einen Innenraum ausmacht, nämlich dessen Möblierung.

Die bisherige Darstellung folgte einem Zoomvorgang, der jedes neue Kapitel nach dieser Richtung hin »vergrößer-te«: Einleitend die Annäherungen: weitgefasste Ansichten, ein mehrfaches Unter-die-Lupe-Nehmen des kunsthistorisch schillernden Problemfalls Steiner. Dann der eingrenzende Wechsel von der bunten kunsthistorischen Übersicht zum Blick auf die Bezeichnung Rudolf Steiner Design durch äl-tere und neuere Designbegriffe. Endlich wurde mit dem In-Augenschein-Nehmen konkreter Ereignisse und Werke, wie denen des Münchner Kongresses, eine Art Originalgröße

her-gestellt, deren überblicksartige Einstellung für das Farbde-sign beibehalten wurde. Denn für die nun nachfolgenden Ob-jekt-Betrachtungen, die einen Lupensprung von der Über-sicht zur EinzelanÜber-sicht vollziehen werden, erschien mir eine gewisse Kenntnis der Steinerschen Farbauffassung grundle-gend wichtig, da Steiner in aller Regel den farbigen Innen-raum gestaltete und als dessen Bestandteil das farbige Mö-bel.

Ein Problem des Themas hatte ich schon eingangs er-wähnt. Die unglaubliche Fülle der Schriften und Vortrags-nachschriften war das eine, das andere besteht in den geradezu organisch ineinander gewachsenen Gedanken und inhaltli-chen Bezügen der Anthroposophie, aus denen sich schwerlich eine Gedankenlinie isolieren lässt. Ein strikt »geradliniger«

Aufbau der Darstellung von Designkomponenten aus dem Steinerschen Werk, erschien dadurch nicht nur erschwert, sondern zuweilen auch inadäquat. Aus den verzweigten Ge-dankenläufen, die oft unterirdisch ab- und an unvermuteter Stelle wieder auftauchen, sollte hier kein langweiliges Ka-nalsystem erstellt werden, weshalb dem Leser – wie er si-cher schon bemerkt hat – einige »Sprünge« zugemutet wer-den, insofern zusammengehörige Aspekte an verschiedenen Stellen im Text auftauchen.223

Ich habe diese Zwischenbemerkung an einer Stelle ein-geschoben, wo der weitere Gang der Darstellung mit einer ersten kunsthistorischen Gegenstandserfassung224 der Mö-bel und MöMö-belentwürfe Rudolf Steiners fortfahren wird. Die Textstelle handelt jedoch nicht nur einfach von Stühlen und ihrer mehr oder weniger interessanten Gestaltung, sondern von einem kultischen Gebrauch der Stühle, der ihre Gestal-tung mit bestimmte. Der Begriff Spiritueller Funktionalis-mus birgt im esoterischen Kern Prozess- und Objektgestal-tungen für kultisch-spirituelle VerrichObjektgestal-tungen und Funktio-nen. Nach dem Sinngefüge der Anthroposophie soll Esoterik zunehmend zu exoterischem Allgemeinwissen werden, um jenen menschheitlichen Kulturprozess zu befördern, der be-stimmt sei, die ganze Erde in ein »geisterfülltes Kunstwerk«

zu metamorphosieren.

Auf komplexe Weise findet sich in Steiners anthroposo-phischer Weltsicht nahezu alles mit allem verknüpft: Esote-risches mit Exoterischem, Mikrokosmisches mit Makrokos-mischem, Vergangenes mit Zukünftigem.

Beispiel Stuhl: Zwar verlaufen einige Erkenntnislinien der allgemeinen Kulturgeschichte mit der anthroposophischen gemeinsam, was die Besonderheit des Sitzens auf Stühlen anbelangt, deren sich heutige Zeitgenossen selten bewusst sind. So etwa die Verbindungen vom Stuhl zum Thron, und die damit verbundene Tatsache, dass dem Sitzen auf einem Stuhl seit alters Ehre beigemessen wurde, oder dass Stühle immer noch als Insignien der Recht- bzw. Machtsprechung dienen.225 Doch selbst die Geschichte des Sitzens brachte Steiner mit kosmischen Weiten in Verbindung, die sich der hellseherischen Forschung erschließen:

»[...] der Mensch, der in jenen alten Zeiten sei-ne Erlebnisse ausdrückte, die er hatte als [...] wol-lender Mensch, [hat] nicht gesagt: Ich gehe. – Schon in den Worten lag das nicht. Er hat auch nicht ge-sagt: Ich setze mich. – Wenn man die alten Sprachen auf diese feinen Inhalte prüfen würde, würde man überall finden, daß für die Tatsache, die wir bezeich-nen als: Ich gehe –, das alte Orientalische hatte: Mars impulsiert mich, Mars ist in mir tätig. [...] Das Nie-dersetzen war die Jupitertätigkeit in dem Menschen.

[...] Also man fühlte in seinen Gliedmaßen die Wei-ten des Kosmos draußen.«226

Spielte bei Steiner dieser esoterische Aspekt des Sitzens als makrokosmisch-planetarisches Jupitererlebnis für die Formgebung von Stühlen eine Rolle? Was verstand Steiner unter »Jupitertätigkeit im Menschen«? Die nachfolgende Fokussierung der Darstellung auf die Möbel und Möbelent-würfe Steiners wird nicht jede ikonografische oder ikonolo-gische Bezugslinie aufnehmen können, wie etwa das Jupitererlebnis227 innerhalb des planetarischen Kosmos der Anthroposophie oder die historischen Bezüge des

esoterisch-kultischen Gebrauchs der Stuttgarter Säulensaalstühle zu den Ritualen der Freimaurer. Die Erfassung des physischen Kor-pus der Möbel wird jedoch Kontexte und Aura des Meta-physischen nicht aus dem Blickfeld rücken.

Die Beschreibung der Möbelentwürfe Rudolf Steiners wird weiterhin von Zitaten begleitet sein, weil sie die Grund-lage für das Verständnis formaler Elemente auf dem Gebiet der Möbelgestaltung liefern, und zu dem bisher erörterten spirituellen Funktionalismus neue Aspekte beitragen werden.

Stühle

Werfen wir nochmals einen Blick auf die Planzeichnung für die Stuttgarter Stühle. Im Vergleich mit der damals zeit-genössischen Formgebung, die noch überwiegend den

Werfen wir nochmals einen Blick auf die Planzeichnung für die Stuttgarter Stühle. Im Vergleich mit der damals zeit-genössischen Formgebung, die noch überwiegend den