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6.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse

6.2.4.3 Stufen

Das Stufenniveau der moralischen Entwicklung gibt Informationen über das allge-meine sozialkognitive Entwicklungsniveau und spielt eine zentrale Rolle bei der Erklärung des Sozialverhaltens wie beispielsweise Aggression (vgl. Eckensberger, 1988). Die Ergebnisse zeigen alters- und schichtspezifische Unterschiede zwischen Kindern mit problematischem und Kindern ohne problematisches Sozialverhalten.

In der Gruppe der 6- bis 8-jährigen Kinder sind mehr aggressive als nicht aggressive Kinder auf einem Stufenniveau, dass sich auf einer Stufe <= 1 bewegt. Bei den 9- bis 10-jährigen Kindern bestehen keine Gruppenunterschiede. Eine Schlussfolgerung aus dem Ergebnis ist, dass sich das Argument einer Entwicklungsverzögerung in der Fähigkeit der sozialen Perspektivenübernahme, die problematisches Sozialverhalten mitbedingt, nur für die jüngeren Kinder stützen lässt. Das ist interessant, weil es für ein gezieltes Training der sozialkognitiven Fähigkeiten im frühen Grundschulalter spricht. Eine Interpretation des Ergebnisses wäre, dass sich bei den älteren Kindern bereits „Teufelskreise“ etabliert haben, die zum Teil durch ein sozialkognitives Defizit im früheren Entwicklungsalter entstanden sind. Zur Validierung dieser Hypothese sind jedoch Längsschnittstudien erforderlich.

Ein besonders interessantes Ergebnis ist der Einfluss der sozialen Schicht auf das moralische Entwicklungsniveau: Die aggressiven Kinder in der Unterschicht haben ein niedrigeres moralisches Stufenniveau im Vergleich zu den nicht aggressiven Kindern der Unterschicht. In der Mittelschicht ist das Ergebnis genau umgekehrt, und in der Oberschicht ergibt sich kein Zusammenhang. Insgesamt argumentieren die Oberschichtkinder im Durchschnitt auf einem höheren Niveau als die Unterschicht-und die Mittelschichtkinder. Der allgemeine Schichteffekt im Stufenniveau ist sozialisationstheoretisch erklärbar: Den Kindern aus der Oberschicht stehen in ihrem familiären und sozialen Umfeld häufig deutlich mehr materielle und kulturelle Ressourcen zur Verfügung (Bücher, Lerngelegenheiten etc.). Auch das Kommuni-kationsklima in ihrem sozialen Umfeld gestaltet sich häufig positiver, die Eltern diskutieren mehr mit ihrem Kind und bieten mehr Gelegenheiten zu kognitiven Auseinandersetzungen. Das fördert das sozialkognitive Entwicklungsniveau nach-haltig. Kindern in der Unterschicht fehlen meistens Gelegenheiten zur Diskussion und zur Rollenübernahme (vgl. Kapitel 1). Das Argument wird durch die Erfahrungen gestützt, die wir bei den Elternabenden in den Diskussionen mit den Eltern verschiedener sozialer Schichten gemacht haben. Der Diskursstil der Eltern unterschied sich drastisch in Abhängigkeit vom Schulhaus. In einem der Schulhäuser, in dem vor allem Unterschichtkinder den Unterricht besuchen, verwandelte sich der Elternabend zur „Untersuchung über Aggression“ in eine „In-vivo-Untersuchung über Aggression“.

Die Eltern begannen bereits nach kurzer Zeit, die Forscher während des Vortrags zu unterbrechen und sich gegenseitig sowie den Lehrpersonen, dem Schulpräsidenten und den Medien die Schuld für das Aggressionspotenzial zu geben. Jeder versuchte, die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Zahlreiche Eltern verliessen unter lautstarken Beschuldigungen das Diskussionsforum vorzeitig.

Sie beschwerten sich auch darüber, dass sie anstelle einer Ursachenbestimmung und des Aufweisens möglicher Lösungswege keine allgemeine Handlungsanweisung erhielten, wie dem Problem zu begegnen sei, ohne aber Bereitschaft zu zeigen, selbst an den Problemen zu arbeiten. Im Gegensatz dazu ergaben die Diskussionen in einem anderen Schulhaus, in dem vor allem Kinder aus der Mittel– und Oberschicht den Unterricht besuchen, konstruktive Lösungsvorschläge zu der Aggressionsproblematik sowie kritische Anmerkungen zur Untersuchung auf Seiten der Eltern und Lehrer. Die Eltern schlugen beispielsweise vor, auf bildungspolitischer Ebene Massnahmen gegen Gewalt und aggressives Verhalten in Schulen zu ergreifen (beispielsweise migrationspolitische Massnahmen) und diskutierten den Einsatz von Rollenspielen in der Klasse. Die Beschreibung des elterlichen Diskursstils macht das Ergebnis, dass die aggressiven Kinder aus der Unterschicht ein niedrigeres Stufenniveau der moralischen Entwicklung aufweisen, verständlicher.

Zusammengefasst stützen die Ergebnisse mehrheitlich die Annahme der Theorie des sozialen Verstehens, dass sich Kinder mit problematischem Sozialverhalten in ihrem Gefühlsverständnis und ihrem allgemeinen sozialen Verständnis auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau befinden. Diese Annahme wird auch in der aktuellen Forschungsliteratur gestützt (Happé & Frith, 1996).

Die Analyse der Alters-, Geschlechts- und Schichteffekte zeigt, dass die meisten Zusammenhänge mit Aggressivität schichtspezifisch sind. Das stützt die psychosozialen Erklärungen der Genese aggressiven Verhaltens (vgl. Kapitel 3.1), die zeigen, dass das soziale Milieu die sozialkognitiven Fähigkeiten und das Sozialverhalten differenziell beeinflusst.

Es ergeben sich so gut wie keine Geschlechtsunterschiede. Die Annahme, dass sich aggressive Kinder geschlechtsspezifisch in ihren sozialkognitiven Fähigkeiten von-einander unterscheiden, wird durch die Ergebnisse der Untersuchung demnach nicht gestützt. Der Befund stützt damit auch die allgemeinen Ergebnisse der Untersuchungen über Geschlechtsunterschiede in der moralischen Entwicklung, die entgegen den Annahmen von Gilligan (1984) insgesamt zu dem Befund kommen, dass sich Mädchen und Jungen in ihrer moralischen Entwicklung nicht voneinander unterscheiden (vgl.

Walker, 1984).

Ein wichtiger Alterseffekt in den Ergebnissen ist, dass sich nur die 6- bis 8-jährigen aggressiven Kinder in ihrem moralischen Entwicklungsniveau von den nicht aggressiven Kindern unterscheiden.

Aggressives Verhalten kann sich je nach Entwicklungsalter auf verschiedenen Ebenen manifestieren. Es ist möglich, dass vor allem bei Kindern im frühen Grundschulalter Unterschiede im sozialen Verstehen bestehen und sich bei Kindern im mittleren bis späten Grundschulalter Folgeprobleme daraus ergeben (vgl. Kapitel 2). Für die praktische Arbeit bedeutet das, dass gezielte altersspezifische Interventions- und Präventionsmassnahmen eingesetzt werden müssen. In Kapitel 8 wird ein Trainings-programm zur Förderung der Fähigkeit des Gefühlsverständnis im frühen Grundschul-alter beschrieben, das auf den Ergebnissen der Untersuchung aufbaut.

Tabelle 6.2.13 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Moraluntersuchung.

Tabelle 6.2.13: Übersicht über die Ergebnisse der Moraluntersuchung

Variable* Effekte

Nicht aggressiv Aggressiv

Gefühlsattribution Opfer** +

Gefühlsattribution Selbst als

Regelverletzer +

Personbewertung

Regelverletzer +

Entscheidung Freund +

Alterseffekte

Gefühlsattribution Selbst als Regelverletzer

- 6-8 Jahre +

Stufenniveau***

- 6-8 Jahre +

Schichteffekte

Gefühlsattribution Selbst als Regelverletzer

- Mittelschicht - Oberschicht

+ + Personbewertung

Regelverletzer

- Mittelschicht +

Stufenniveau - Unterschicht - Mittelschicht

+

+ * In der Tabelle sind nur die signifikanten Effekte angegeben.

** Ein „–“ bedeutet, dass mehr negative Gefühlszuschreibungen aufgetreten sind.

*** Ein „–“ bedeutet ein niedrigeres Stufenniveau.

6.3 Informationsverarbeitung aggressiver Kinder in einer Situation mit