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Klagen können auch über das Ziel der Einzelfallgerech­

tigkeit hinaus ein wichtiges Instrument in der Antidiskri­

minierungsarbeit sein. So kann im Sinne einer strategi­

schen Prozessführung eine Klage auch dazu geeignet sein, das bestehende Antidiskriminierungsrecht in kritischen Fragen juristisch zu durchleuchten und damit weiterzu­

entwickeln.

Zum einen kann nur durch Rechtsprechung die häufig unsichere Rechtslage geklärt und somit mehr Sicherheit für alle Betroffenen geschaffen werden. Das AGG enthält eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, die eine

sichere Anwendung schwierig macht und daher noch der Auslegung durch Gerichte bedürfen. Zum anderen kann ein strategischer Prozess dazu dienen, Vorschrif­

ten des AGG, die mit den EU-Richtlinien, auf denen das AGG beruht, nicht übereinstimmen und dadurch Rech­

te der Betroffenen schmälern, durch Vorlage beim Euro­

päischen Gerichtshof einer Überprüfung unterziehen zu lassen.16

Zudem kann die (strategische) Klage von der Bera­

tungsstelle durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit als Inst­

rument der gesellschaftlichen Aufklärung und Sensibi­

lisierung genutzt werden. Anhand des Klagefalles kann auf die dahinterstehende strukturelle Benachteiligung aufmerksam gemacht werden. Aber auch nicht erfolg­

reiche Klagen können einen strategischen Nutzen haben, wenn dadurch Schutzlücken des Gesetzes sichtbar wer­

den. Dies kann die Antidiskriminierungsberatungsstelle auf der Ebene der politischen Arbeit wiederum im Sinne der Betroffenen thematisieren und daraus Forderungen wie beispielsweise Gesetzesänderungen ableiten.

Ob ein Fall sich für einen strategischen Prozess eignet, hängt von vielen – nicht nur rechtlichen – Faktoren ab.

Wesentlich dabei ist auch die Rolle der betroffenen Per­

son, die letztlich mangels Verbandsklagerecht und Pro­

zessstandschaft im AGG, als Kläger_in bereit sein muss, den langen gerichtlichen Weg gehen zu wollen und dabei den Stress, die Kosten und die Öffentlichkeit auf sich zu nehmen.

Da es das Ziel eines strategischen Prozesses ist, recht­

liche Fragen auf höchstrichterlicher Ebene klären zu las­

sen, die zum Teil auch auf europäischer Ebene (mit-)ent­

schieden werden müssen, ziehen sich diese Prozesse in der Regel über mehrere Jahre hin. Für Betroffene ist es dann schwer und fast schon unzumutbar, auf das Ende des Verfahrens zu warten. Angesichts dessen verlieren sie verständlicherweise die Motivation zu klagen. Ein Ver­

bandsklagerecht für Antidiskriminierungsverbände wür­

de Abhilfe schaffen, denn es kann nicht nur den betrof­

fenen Personen die Bürde des Klageweges nehmen, son­

dern auch effektiv zur Rechtsdurchsetzung und Entwick­

lung des Antidiskriminierungsrechts beitragen.

Im Beratungsgespräch sollten diese Perspektiven – das individuelle und das strategische Interesse – auch für die betroffene Person sichtbar gemacht und gemeinsam die Chancen und Risiken einer Klage abgewogen werden.

Dabei müssen stets die Interessen der betroffenen Person

03 Klage und Beistandschaft nach dem AGG

Vorrang vor strategischen Zielen haben. Im Idealfall stim­

men beide Interessen überein, insofern als die betroffene Person ein eigenes Interesse an einem strategischen Pro­

zess hat und diese Last mit Unterstützung der Beratungs­

stelle auf sich nehmen möchte.

Daniel Bartel,

04 Beschwerdebrief

Antidiskriminierungsbüro Sachsen

Beschwerdebriefe sind eine von vielen Beratungsstellen häufig genutzte Interventionsform. Ein Grund dafür ist ihre hohe Flexibilität in Form und Inhalt. Sie können situationsklärend und/oder Rechte durchsetzend formuliert werden. Sie kön­

nen die Perspektive von Klient_innen, aber auch die von Beratungsstellen spiegeln und/oder eine rechtliche Situation darstellen. Sie können unterschiedlich detaillierte Beschreibungen, Erklärungen und Argumentationen ebenso enthalten wie konkrete Forderungen und/oder die Bitte um eine Stellungnahme. Sie können ausführlich oder knapp ausfallen, ver­

mittelnd oder konfrontativ. Oftmals sind sie die erste nach außen gerichtete Intervention und stellen den Kontakt zu Per­

sonen/Institutionen her, die für eine Diskriminierung verantwortlich gemacht werden. In einem mehrstufigen Interventi­

onsprozess lassen sie sich gut mit Vermittlungsgesprächen, rechtlichen Schritten, Öffentlichkeitsarbeit u.ä. kombinieren.

Beschwerdebriefe können komplett von den Klient_in­

nen selbst verfasst oder von Berater_innen mitgeschrieben werden.1 Oftmals fassen Beschwerdebriefe die wesentli­

chen Punkte und Ergebnisse des Sprechens im geschützten Raum zusammen2 und drücken die Erfahrungen, Bewer­

tungen und Erwartungen der Klient_innen gegenüber den Diskriminierungsverantwortlichen aus. Das gemeinsame Verfassen und Absenden eines Briefes auf dem Briefkopf einer Beratungsstelle wird von vielen Klient_innen als di­

rekte Stärkung und Bestätigung erlebt.

Seitens der Adressat_innen stellt ein Beschwerdebrief oftmals den ersten Kontakt dar. Er enthält die wesentlichen Informationen zu einer Situation sowie die daraus resul­

tierenden Interpretationen und Forderungen. Adressat_in­

nen werden in der Regel aufgefordert, die Sachverhalte zu überprüfen, sich zu positionieren und konkrete Ergebnisse mitzuteilen. Die schriftliche Form der Auseinandersetzung und die häufig direkte Einbeziehung einer Beratungsstel­

le bewirken eine hohe Verbindlichkeit in der Antwort. In größeren Unternehmen und Verwaltungen geht ein Ant­

wortbrief regelmäßig über mehrere Schreibtische. Der Be­

schwerdebrief leistet so bereits im Prozess der Beantwor­

tung wichtige Arbeit. Er erzeugt Aufmerksamkeit für den konkreten Fall und löst eine Auseinandersetzung aus.

1 vgl. Kapitel „Interventionen im Überblick“

2 vgl. Kapitel „Sprechen im geschütze(re)n Raum“

04 Beschwerdebrief

Pro Contra

inhaltlich und formal flexibel gestaltbar direktes Nachfragen und Verständnisfragen sind nicht möglich – durch die mittelbare Interaktion entsteht ein größerer Interpretations- und Spekulationsspielraum bezüglich der Absichten der anderen Seite

kann Klient_innen den Prozess der Auseinanderset­

zung mit einer Diskriminierungserfahrung und der persönlichen Klärung erleichtern und den Dialog mit Berater_innen strukturieren (Was ist passiert? Was war verletzend? Welche Erwartungen und Forderungen habe ich?)

setzt hohe sprachliche Kompetenz bei Berater_innen, Klient_innen und Adressat_innen voraus

unterstützt die Entwicklung einer eigenen Sprache und

Ausdrucksweise geringe Definitionsmacht und Kontrolle bei Antwort­

schreiben, Gefahr der Wiederholung von Diskriminie­

rungserfahrungen

hohe Definitionsmacht beim Verfassen Auseinandersetzungsprozesse auf Seiten der Diskri­

minierungsverantwortlichen sind nur schwer nachvoll­

ziehbar (Wer liest den Brief? Wie reagieren sie? Was wird diskutiert?)

entschleunigt Prozesse bei den Klient_innen und Ver­

antwortlichen und eröffnet Raum zum Nachdenken Auseinandersetzungen können verschleppt bzw. um­

gangen werden – Beharrlichkeit und Geduld sind nötig

das Verfassen und Versenden eines Beschwerdebrie­

fes ist eine symbolisch bedeutsame, in sich geschlos­

sene und von Klient_innen gut kontrollierbare Interven­

tion

verdeutlicht die auftrags- und klient_innenbasierte Form der Arbeit von Beratungsstellen (nichts passiert, ohne die ausdrückliche Zustimmung der Klient_innen)

für Klient_innen oftmals emotional und zeitlich niedrig­

schwelliger als ein direktes Gespräch überschaubarer Aufwand für Beratungsstelle

oftmals hohe Aufmerksamkeit aufseiten der Verant­

wortlichen, in der Regel gibt es eine Antwort gut dokumentierbar, hohe Beweiskraft und Verbindlich­

keit

durch Einbeziehung Dritter (Brief in Kopie zur Kennt­

nisnahme) kann leicht eine relevante Öffentlichkeit hergestellt werden