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7. Motive für das Sporttreiben von Menschen mit Behinderungen

7.1 Sport als Erlebnis

Insgesamt lassen sich zum aktuellen Zeitpunkt in den gemeinsamen Inklusionsbestrebungen der Menschen mit und ohne Behinderungen Ansätze der ursprünglichen, Hahnschen Erlebnispädagogik erkennen.

Hahn identifiziert im Rahmen der Grundsätze seiner Pädagogik vier Verfallserscheinungen der Menschheit. Die für ihn bedeutendste ist der Verfall des Mitgefühls mit seinem Mangel an menschlicher Anteilnahme. Der schnelle Wechsel von nur oberflächlich erlebten Eindrücken vermindere hier die Fähigkeiten zum tiefen Erleben und zu echtem Mitgefühl. Zudem werden durch Einrichtung offizieller Hilfsorganisationen zu Hahns Zeiten und auch durch die Einrichtungen und Organisationen der modernen Gesellschaft, die einzelnen Menschen von ihrer persönlichen Verantwortung durch das soziale System großteils entbunden. Hahn kritisiert auch das Zuschauen, welches in seinem Verständnis mit künstlichen und unverdienten Erfahrungen, so wie unbewussten körperlichen Reaktionen verbunden ist. Somit wird das Zuschauen zu einem unangemessenen passiven Erleben und der Mensch als Zuschauer wird teilnahmslos und von persönlichen Entscheidungen entbunden.138

137 vgl.: Schmidt (2012). 270f.

138 vgl.: Ziegenspeck (1986). 121.

53 Hahn erkannte an Jugendlichen Disharmonien, welche auf einen Verfall der Gesellschaft hinweisen.

Diese Verfallserscheinungen werden von Feige und Deubzer (2004) wie folgt aufgezählt:

- Mangel an menschlicher Anteilnahme (Verantwortungsgefühl, gegenseitige Hilfe, Wertschätzung, Toleranz)

- Verfall körperlicher Fitness und Intuition / Kreativität - Mangel an Initiative / Spontanität

- Mangel an Achtsamkeit gegenüber der Umgebung / Natur139

Dazu entwickelte Hahn die Grundelemente seiner vierstufigen Erlebnistherapie:

- Leichtathletische Übung bzw. körperliches Training - Expedition

- Projekt

- Rettungsdienst140

Ziegenspeck vergleicht 1986 die Pädagogik Hahns mit der jugendlichen Alternativbewegung.

„1. Hahn wollte die persönliche Initiative fördern.

Die Alternativbewegungen warten nicht auf Entscheidungen des Staates und verlassen sich nicht auf dessen Vorhaben, sondern ergreifen selbst die Initiative. Sie organisieren Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen, probieren Möglichkeiten, die eigene Lebenssituation zu verändern usw.“ (Ziegenspeck (1986). 129.)

So konstatiert er entgegen Hahns asketischen Vorstellungen gegenüber der körperlichen Tauglichkeit:

„[…], feststellbar ist aber eine Rückbesinnung auf den Körper. Körperliche Bedürfnisse werden nicht mehr zugunsten von Erfolgsstreben verdrängt. Dies äußert sich auf vielfältige Weise, in bewusster Ernährung, in selbstorganisierten Gesundheitszentren, […], allgemein im bewußten Erleben des eigenen Körpers.“

(Ziegenspeck (1986). 129f.)

Der abschließend von Ziegenspeck (1986) aufgeführte Aspekt der Hahnschen Sichtweise stand bereits damals im engen Kontext zu den Menschenrechten und gewinnt in Bezug zur UN-BRK mit den daraus hervorgehenden Inklusionsbestrebungen erneut an Relevanz.

„4. Hahn setzt sich ein für mehr menschliche Anteilnahme.

In der alternativen Bewegung werden ökologische Ansätze entwickelt mit dem Ziel, die Lebens-, Wohn- und Arbeitswelt humaner zu gestalten. Auch haben sich Gruppen gebildet, die sich gegen die

139 vgl.: Feige / Deubzer (2004). 12.

140 vgl.: ebd.

54 Einschränkung bürgerlicher Rechte einsetzen (Initiative gegen Berufsverbote, Terre des Hommes, Amnesty International, …), aber auch örtlich begrenzte Initiativen, wie z.B. therapeutische Selbsthilfegruppen oder Vereine für Bewährungshilfe und Resozialisierung.“ (Ziegenspeck (1986). 130.) Hahns sozialkritische Stellungnahme mit der Definition der Verfallserscheinungen, wurde schon 1986 von Ziegenspeck dazu verwendet, den gesellschaftlichen Wandel und dessen Auswirkungen auf die Werte und das Handeln innerhalb der Gesellschaft im Kontext mit der „Kurzschul“-Pädagogik zu ergründen. Gleiches ist nun erneut zur Begründung der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Inklusion möglich.

Bei der Erlebnispädagogik nach Kurt Hahn findet auch die Individualität deutliche Berücksichtigung.

Allerdings stehen die Stärkung des Gemeinwohls und der Einsatz jedes Individuums dafür an deren erster Stelle.141 Es ist nun zu fragen, ob ein Wandel der Gesellschaft im Sinne der Inklusion der Stärkung des Gemeinwohls dient. Es gilt zu beachten:

„Die Verwerfungen in der Gesellschaft werden von Hahn nicht im Hinblick auf ihre politischen und ökonomischen Ursachen analysiert, sondern ausschließlich unter den Kategorien von gesund und krank beurteilt. Dabei ist das Gesunde jeweils die Norm, an der der Zustand der Gesellschaft gemessen und als

„krank“ diagnostiziert wird.“ (Stübig (2004). 109.)

Verschiedenen Autoren berichten 1998 über den Wandel der damaligen modernen Erlebnispädagogik. Aus diesem Anlass erscheint in diesem Jahr in der Schriftenreihe ‚Brennpunkte der Sportwissenschaft‘ der Band ‚Erlebnissport – Erlebnis Sport‘, der sich diesem Thema widmet. Die neu auftretenden oder sich vermehrt verbreitenden Konzepte von Extremsport, Abenteuersport, Risikosport, Funsport und Trendsport werden zu diesem Zeitpunkt häufig als Kategorie des Erlebnissports subsummiert. Allmer & Schulz (1998a) arbeiten nun in der Sammlung von Beiträgen die besondere erlebnispädagogische Bedeutung von Sport unter Berücksichtigung der verschwimmenden Begrifflichkeiten heraus.

Dieser Wandel der erlebnispädagogischen Bedeutung des Sports hat auch eine besondere Bedeutung im Rahmen der Inklusion. Was besagt Erlebnispädagogik in diesem Kontext nun? Dazu sind aus dem benannten Band zunächst der Beitrag von Allmer / Schulz (1998b) selbst, so wie die direkt darauf folgenden Beiträge von Haubl (1998) und Rittmer (1998) zu berücksichtigen. Frei nach diesen Berichten lässt sich zusammenfassend festhalten:

Erlebnispädagogik meint eine Entwicklung des Individuums durch prägende Erkenntnisse und Erfahrungen, d.h. Erlebnisse. Das Selbsterleben und dessen emotionale Intensität machen dabei die

141 vgl.: Stübig (2004). 109.

55 Kraft, die Stärke des Einflusses des Erlebnisses aus. Je ungewöhnlicher gegenüber dem Alltag und seinen Handlungen die Situation eines neuen Erlebnisses ist, umso emotionaler wird erlebt und umso prägender ist die so neu gewonnene Erkenntnis. Sport bietet die Möglichkeit des emotionalen Erlebens und die Loslösung aus dem Kontext des Alltäglichen. Somit kann in und durch ihn ein Erkenntnisgewinn in Belangen der körperlichen Selbstwahrnehmung, des Selbstbewusstseins, der Fremdwahrnehmung, der sozialen Interaktion und letztendlich auch in Bezug auf die Bewertung und Festlegung sozialer Normen erfolgen.142 Diesen Erkenntnisgewinn machen dabei alle aktiven Sportler, unabhängig davon, ob sie selbst, ein Mitspieler oder Gegner von einer Behinderung betroffen sind.

Heckmair & Michl (2004) äußern sogar:

„Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, Behindertenhilfe und Erlebnispädagogik miteinander zu verbinden!“ (Heckmair / Michl (2004). 143)

Sport bietet dabei die Möglichkeit des Erlebens im Sinne des ‚Erlebnis Sport‘, als des Erlebnisses im und durch Sport. Eine Ausübung von Erlebnissport, also eines Abenteuer oder Risikosports, ist für diese Zwecke nicht erforderlich. Ausnahmefälle wären, wenn eine Person emotional soweit abgestumpft wäre ohne Grenzerfahrungen des Risikos keine Situationen des Sports mehr als Erlebnis empfinden zu können. Auch wenn die Gesellschaft sich zunehmend der Sensationssuche verschreibt - höher, schneller, weiter, außergewöhnlicher, gefährlicher,… - so besteht im inklusiven Sport dafür keine Eile. Die Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen ist beim aktuellen Stand der Inklusion in der Gesellschaft fast Erlebnis genug. Weiteres Erleben ergibt sich daraus folgend in der gemeinsamen Partizipation im Sport.

„Man kann fast die These aufstellen, dass die Nichtbehinderten mehr als die Behinderten von gemeinsamen erlebnispädagogischen Aktionen lernen können.“ (Heckmair / Michl (2004). 148)

In Bezug auf den häufig fehlenden direkten Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen in der heutigen Gesellschaft und in Bezugnahme auf die Potentiale von möglichen inklusiven Sportangeboten in den regulären Vereinen ist dieser Aussage zuzustimmen.

Heckmair & Michl (2004) bringen im Kontext ihrer erlebnispädagogischen Betrachtungen eine pädagogisch wirksame Bedeutung des Zusammentreffens von Menschen mit und ohne Behinderungen für die Weiterentwicklung hin zur inklusiven Gesellschaft klar hervor. Nach über zehn Jahren besitzt diese Deutung im Kontext der Inklusion und der Grundsätze der UN-BRK immer noch eine solche Aktualität, so dass sie nachfolgend zum Abschluss des erlebnispädagogischen Exkurses im vollen Umfang Berücksichtigung finden soll.

142 vgl.: Allmer / Schulz (1998b).; Haubl (1998).; Rittner (1998).

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„Krankheiten und Behinderungen sind keine Minusvarianten menschlicher Existenz, sondern sind uns als Lebens-, Erlebens- und Lernchancen anvertraut. Es gilt, sie wie eine fremde Sprache zu entschlüsseln und zu verstehen. Behinderte Menschen sind aufgrund ihrer persönlichen Lebenserfahrungen für Nichtbehinderte unverzichtbare Zeichen der Orientierung auf einem Lebensweg hin zu mehr Sinn und Eigentlichkeit. Behinderungen sind aber auch Verdeutlichungen dessen, was nichtbehinderte Menschen alles kennen und lernen müssen, aber sehr gerne verdrängen und vergessen: das Phänomen der Grenze und der Umgang mit ihr. Wünsche und Erwartungen von Nichtbehinderten gegenüber Behinderten darf diese nicht verfremden, und die Bemühungen von Nichtbehinderten um behinderte Menschen dürfen nicht zur Ausübung von Macht und Gewalt in Form von Unterdrückung oder von fürsorglicher Belagerung verkommen.

Es ist schlichtweg eine Herausforderung, andere Menschen partnerschaftlich zu behandeln. Behinderte stellen Nichtbehinderte gehörig in Frage, verunsichern deren Werthaltungen und normativen Einstellungen, ihre fraglosen Gewissheiten und weisen auf andere Dimensionen menschlichen Seins hin, die man sonst landläufig und zu gradlinig verfolgt. Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung haben wie alle Menschen ein Recht auf Erleben, auf Bildung, Bewegung und Begegnung.

Weder Emanzipation noch Intelligenz noch Selbstverwirklichung führen allein zum sogenannten Lebensglück, sondern auch die Tatsache, dass wir mit einem Körper in der Welt sind und mit unseren Sinnen die Welt erfassen wollen. Das ist nicht nur unser genetisches Programm, es vermittelt auch Sinnhaftigkeit. Nicht allein die Raschheit des gelebten Lebens oder der Luxus garantieren erfülltes Leben.“ (Heckmair /Michl (2004). 148.)