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Sozialwissenschaftliche Studien zur Pflegebedürftigkeit

Im Dokument GEK-Pflegereport ...: (Seite 45-50)

4 Pflege im Spiegel amtlicher Statistiken und anderer Datenquellen

4.1 Sozialwissenschaftliche Studien zur Pflegebedürftigkeit

Im folgenden Abschnitt werden aktuelle deutsche und internationale Studien zur Pfle-gebedürftigkeit dargestellt. Im Fokus stehen hierfür in erster Linie umfangreiche sozi-alwissenschaftliche Erhebungen bzw. Studien und deren Befunde aus den Jahren 2000–

2009, die den Blick auf die Situation der Pflegebedürftigen und deren Versorgung ermöglichen. Die Studien und vorgestellten Befunde erheben dabei nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll das Analysepotenzial der Erhebungen an einigen Studien exemplarisch vorgestellt werden. Für länger zurückliegende Studien, die vor allem in den 1990er Jahren durchgeführt wurden, kann auf den ersten GEK-Pflegere-port 2008 (Rothgang et al. 2008) verwiesen werden.

4.1.1 SHARE („Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“)

Die umfangreichste internationale sozialwissenschaftliche Erhebung der letzten Jahre, die u. a. Daten zur Pflegesituation bereitstellt, ist das SHARE-Projekt („Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“), das vom Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und Demographischer Wandel (MEA) koordiniert wird (Börsch-Supan et al.

2005; 2008). Diese international vergleichende und multidisziplinäre Panelstudie um-fasst die nicht-institutionalisierte Bevölkerung im Alter über 50 Jahren aus insgesamt 12 Ländern: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz und Spanien. Die erste Welle wurde 2004 erhoben und umfasst insgesamt Daten von ca. 31 Tsd. Befragten. Die zweite Welle (mit den zusätzlichen Ländern Polen, der Tschechischen Republik und Irland, jedoch ohne Israel) wurde 2006/07 erhoben und stellt Informationen von ca. 30 Tsd. Befragten bereit, wovon ca. 20 Tsd. aus der ersten Welle wiederbefragt werden konnten. Eine dritte Welle mit Retrospektivbefragungen ist für 2008/09 angesetzt.

Weitere Wellen sind im 2-Jahresabstand geplant. Zu den Befragungsschwerpunkten gehören neben Fragen zur Gesundheit (subjektive Gesundheitseinschätzung, physische und kognitive Beeinträchtigungen, Gesundheitsverhalten, Inanspruchnahme von Ge-sundheitseinrichtungen), Biomarkern („Greifkraft“, BMI, „Peak-Flow“-Messung), psychischer Gesundheit (psychisches Wohlbefinden, Zufriedenheit) auch Fragen zu sozioökonomischen Variablen, zu Netzwerken und sozialer Unterstützung in Form von informeller Pflege.

Studien zur Pflegesituation, die aus dem SHARE-Projekt hervorgegangen sind, bezie-hen sich überwiegend auf Fragen zur informellen Unterstützung von Pflegebedürftigen durch meist angehörige Pflegepersonen. Die Studien (z. B. Hank/Stuck 2007) beziffern den Anteil der Pflegeleistenden unter den über 50-Jährigen auf ca. 5 %, von denen sich wiederum ein hoher Anteil durch eine regelmäßige Pflegetätigkeit charakterisieren lässt. So pflegen fast die Hälfte der Pflegepersonen täglich und ein weiteres Drittel fast wöchentlich. Darüber hinaus konnten bspw. Haberkern/Szydlik (2008) zeigen, dass

deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern bestehen (vgl. auch Brandt et al. 2009): Während in Nordeuropa ca. 4 % der Befragten im Alter über 64 Jahren gepflegt werden, sind es in den mitteleuropäischen Ländern (mit Ausnahme der Schweiz) bis zu 10 % und in Südeuropa bis zu 13 %. Dabei zeigt sich, dass in den Län-dern mit einem hohen Anteil an formellen (ambulanten) Pflegearrangements gleichzei-tig die informelle Pflege geringer verbreitet ist und umgekehrt (Pommer et al. 2007).

Grundlegend ist für Pflegetätigkeiten in diesem Zusammenhang auch, auf welches informelle Netzwerk die gesundheitlich eingeschränkte ältere Bevölkerung im Pflege-fall potenziell zurückgreifen kann. Hier belegen die Analysen von Pommer et al.

(2007), dass nahezu 80 % aller Personen über 50 Jahren und 72 % aller Personen über 50 Jahren mit Pflegebedarf über ein familiales Netzwerk verfügen. 55 % der Pflegebe-dürftigen finden das familiale Netzwerk innerhalb des eigenen Haushalts.

Insbesondere steht bei den Studien zu den Pflegetätigkeiten die (oft problematische) Vereinbarkeit von informeller Pflege und Erwerbstätigkeit im Vordergrund. So haben bspw. Callegaro/Pasini (2008) gezeigt, dass Entscheidungen zur Pflege nicht unabhän-gig von Entscheidungen über den Erwerbsumfang gefällt werden. So reduziert eine intensive Pflegetätigkeit von Frauen die Wahrscheinlichkeit, erwerbstätig zu sein (Crespo 2006). Dabei geht vor allem eine Gesundheitsverschlechterung der Eltern mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer Erwerbstätigkeit von Frauen und einer höhe-ren Wahrscheinlichkeit einer Pflegetätigkeit einher (Crespo/Mira 2008). Bolin et al.

(2008) konnten darüber hinaus den Effekt anschließend reduzierter Erwerbsquoten sowohl für Männer als auch für Frauen über 50 Jahren nachweisen. Ebenfalls fanden sie Hinweise auf einen reduzierten Erwerbsumfang nach den Pflegetätigkeiten.

Im internationalen Vergleich haben die Studien (Crespo 2006; Crespo/Mira 2008) dabei vor allem gezeigt, dass ein Nord-Süd Gefälle besteht. In Ländern mit ausgepräg-ter formeller Versorgung der Pflegebedürftigen durch ambulante Dienstleisausgepräg-ter (Däne-mark, Schweden und den Niederlanden) besteht der stärkste Zusammenhang zwischen Pflegetätigkeiten und geringer Erwerbstätigkeit. Ein geringerer Zusammenhang besteht in den zentraleuropäischen Ländern (Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Schweiz). Der geringste Zusammenhang ist in den südeuropäischen Ländern (Grie-chenland, Spanien und Italien) vorzufinden, wo Pflege traditionell in den Aufgabenbe-reich der Familie fällt.

Die Ausübung von Pflegetätigkeiten ist darüber hinaus aber auch durch das soziale Netzwerk geprägt. Dementsprechend konnten Callegaro/Pasini (2008) zeigen, das Geschwister die Wahrscheinlichkeit der Ausübung von Pflegetätigkeiten mindern.

Ebenfalls in Zusammenhang mit der informellen Pflege durch private Pflegepersonen steht die Untersuchung von Litwin/Attias-Donfut (2009), die für die Länder Frankreich und Israel feststellen, dass, entsprechend der Komplementaritätsthese, ambulante Pfle-gedienste die Angehörigen eher entlasten als dass sich, entsprechend der Substituti-onsthese, die Pflege durch die Kinder reduziert. Dabei konnten sie ebenfalls zeigen, dass die Kombination aus informeller und formeller Pflege vor allem bei größerem Pflegebedarf verbreiteter ist.

Resümierend kann die Nutzung der SHARE-Daten zur Situation der Pflegebedürftigen dahingehend beurteilt werden, dass bislang überwiegend deren Versorgung durch meist angehörige Pflegepersonen im Mittelpunkt der Studien steht. Die Untersuchungen thematisierten dabei dass Ausmaß und die Verbreitung von Pflegetätigkeiten, die Ver-einbarkeit von Pflegetätigkeiten und Erwerbstätigkeit, den Wohlfahrtsstaatlichen Kon-text, Netzwerkeinflüsse sowie das Zusammenspiel von informeller und formeller (am-bulanter) Pflege. Studien, die sich auf die Pflegebedürftigen beziehen, deren Situation, Lebenskontext sowie Gesundheit beleuchten, fehlen bislang. Insbesondere der Panel-charakter der SHARE-Daten bietet hier jedoch ein erhebliches Analysepotential um vor allem auch der Prozesshaftigkeit von Pflegebedürftigkeit gerecht zu werden.

4.1.2 EUROFAMCARE („Services for Supporting Family Carers of Elderly People in Europe: Characteristics, Coverage and Usage”)

EUROFAMCARE ist ein weiteres internationales Projekt, das bereits im Frühjahr 2006 abgeschlossen wurde. Es wurde im 5. Rahmenprogramm der Europäischen Gemein-schaft unter der Key Action 6: The Ageing Population and Disabilities, 6.5: Health and Social Care Services to older People gefördert (Eurofame Consortium 2006). Zu den Zielsetzungen des Projekts gehörte die Analyse der Situation pflegender Angehöriger von älteren Menschen in Europa, insbesondere hinsichtlich der Existenz, Bekanntheit, Verfügbarkeit, Nutzung und Akzeptanz sowie der Hindernisse bei der Inanspruch-nahme von unterstützenden MaßInanspruch-nahmen für die pflegenden Angehörigen. Darüber hinaus wird umfangreich die Hilfs- und Bedarfssituation der Pflegebedürftigen erho-ben.

Die empirische Untersuchung wurde 2004 in 6 Ländern durchgeführt (Deutschland, Griechenland, Italien, Polen, Schweden und Großbritannien). Sie umfasst für die Län-der jeweils eine Baseline-Studie mit ca. 1.000 pflegenden Angehörigen, die mindestens 4 Std. in der Woche ihren pflegebedürftigen Angehörigen im Alter über 65 Jahren pflegen oder unterstützen und eine Follow-Up-Studie, die 12 Monate nach der Erstbe-fragung durchgeführt wurde. Damit stehen insgesamt Angaben zu 5.923 Befragten zur Verfügung. Zusätzlich wurden in 23 europäischen Ländern Hintergrundberichte erstellt, um die Situation pflegender Angehöriger zu dokumentieren.

Betrachtet man die wichtigsten Ergebnisse der Studie hinsichtlich der Nutzung einzel-ner Dienste (z. B. Lamura et al. 2006), dann zeigt sich, dass ein Drittel der pflegenden Angehörigen innerhalb der letzten 6 Monate einen Dienst in Anspruch genommen hat.

Fast 5 % haben sozial-emotionale Hilfe in Form von Beratungen, Sozialarbeit oder Selbsthilfegruppen, 4 % haben Informationsangebote über Erkrankungen oder Pflege-dienste, 1,7 % haben Entlastungsangebote, etwa durch eine Kurzzeitpflege und 11 % haben allgemeine Dienste wie die eines Hausarztes in Anspruch genommen. Betrachtet man die Dienstleistungen für die älteren Menschen, dann überwiegen ambulante Pfle-gedienste (16,5 %), Haushaltshilfen (16,1 %), emotionale bzw. psychosoziale Betreu-ungen (12,2 %), Transportdienste (10,6 %), soziale Dienste (7,5 %) sowie privat be-zahlte Pflegekräfte (2,6 %). Insgesamt haben damit fast alle älteren Menschen einen so-zialen Dienst in den letzten sechs Monaten genutzt. Dabei zeigte sich, dass die

pflegen-den Angehörigen insbesondere in Schwepflegen-den, Großbritannien und Deutschland ein breites Angebot professioneller Unterstützung in Anspruch nehmen können.

Hilfen bzw. Beratungen beim Zugang zu den Diensten wurden von den pflegenden Angehörigen bei den Angehörigen des Gesundheitssystems, sowie in den Mittelmeer-ländern vor allem bei den informellen Netzwerken wie Familie, Freunden und Nach-barn gesehen. Hindernisse bei der Inanspruchnahme bzw. z. T. auch Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Diensten werden in bürokratischen Hürden gesehen (13,1 %), die vor allem in Deutschland und den Mittelmeerländern verbreitet sind, in hohen Kosten (12,8 %), insbesondere in Polen und Griechenland, sowie mangelnder Informationsvermittlung (8,9 %), die am häufigsten in Italien, Polen und Großbritan-nien als problematisch angesehen wird.

Die aus der Eurofamcare-Studie hervorgegangene Erhebung bietet damit umfangreiche Items zur Hilfebedarfsanalyse sowohl der Pflegebedürftigen älteren Menschen als auch der sie pflegenden Menschen und bietet damit einen wichtigen Beitrag der Analyse zur Situation der häuslichen Pflege.

4.1.3 LEILA75+

Die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im Alter in den neuen Bundesländern wurde von Wilms et al. (2001) untersucht. Ihre Ergebnisse beruhen auf der Leipziger Langzeitstu-die (LEILA75+), einer prospektiven populationsbezogenen StuLangzeitstu-die zur Epidemiologie demenzieller Erkrankungen im Alter, die zwischen dem 1.1.1997 und dem 30.6.1998 erhoben wurde. Der Stichprobenumfang umfasst 1.338 Personen in einem Alter von über 75 Jahren. Die Repräsentativität ist – aufgrund einer systematischen Zufallsstich-probe – zwar grundsätzlich gegeben, allerdings nur beschränkt auf Leipzig-Süd. Be-standteil der Studie waren 5 Follow-Up Befragungen zwischen 1998 und 2005, die durchschnittlich ca. alle 17 Monate durchgeführt wurden und neben klinischen Inter-views auch neuropsychologische Assessments beinhalteten.

Mit dem Ziel eine Beschreibung der Einschränkungen in der selbständigen Lebensfüh-rung aus der AltenbevölkeLebensfüh-rung einer Großstadt in den neuen Bundesländern zu liefern und zusätzlich die Effekte soziodemographischer Merkmale zu berücksichtigen, konn-ten interessante Ergebnisse aus der Baseline-Erhebung 1998 vorgelegt werden (Wilms et al 2001). Es zeigt sich – in deutlicher Anlehnung an andere Altersstudien –, dass mehr als 45 % der befragten Personen vor allem Probleme bei beweglichkeitsbezoge-nen, instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) haben und dass das durchschnittliche Ausmaß an Schwierigkeiten bei der Ausübung von ADLs/IADLs um etwa 10 % höher liegt als im Bundesdurchschnitt.

Neuere Untersuchungen, die den Längsschnittcharakter der Studie nutzen, liegen bspw.

mit Luck et al. (2008) vor. Sie analysieren die Dauer, die an Demenz erkrankte ältere Menschen durchschnittlich in der häuslichen Umgebung bis zum Heimeintritt verwei-len. Demnach verbringen alle an Demenz inzidenten Fälle durchschnittlich 1.005 Tage bis zum Heimeintritt in der häuslichen Umgebung. Das Risiko bei verwitweten und geschiedenen Menschen ist dabei um 350 % höher als bei verheirateten Menschen,

wodurch Verwitwete und Geschiedenen durchschnittlich 964 Tage zu Hause verbrin-gen und Verheiratete 1.522 Tage.

4.1.4 LEANDER („Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkrank-ten“)

Die Längsschnittstudie LEANDER, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat zum Ziel, die Belastung pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter in Bezug auf Unterschiede in der Pflegebelastung, ihrer Verän-derungen über die Zeit, Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden und auf die Evaluation von Interventionen zu untersuchen.9

Die Ausgangsstichprobe umfasst 888 Personen, die über fünf Messzeitpunkte im Zeit-raum von 36 Monaten befragt wurden. Für 226 Probanden liegen dabei Informationen zu allen Befragungszeitpunkten vor. Neben soziodemografischen Merkmalen wie (u. a.

Familienstand, Elternschaft, Berufstätigkeit, Schulabschluss, Haushaltseinkommen) und Merkmalen der Pflegearrangements (Betreuungsdauer und der Inanspruchnahme professioneller Unterstützung) wird eine Vielzahl von Belastungsdimensionen abgebil-det (u. a. basale und erweiterte Betreuungsaufgaben, emotionale Unterstützung, kogni-tive Einbußen, Beziehungsverlust, mangelnde soziale Anerkennung). Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Belastungsdimension auf Depressivität, Aggressivität und Gesundheitsstatus der Pflegenden analysiert.

Bezogen auf das Ausmaß der Belastung zeigen die Befunde (vgl. Zank/Schacke 2007), dass sich Männer und Frauen nicht in ihrer objektiven Belastung unterscheiden, Frauen sich aber stärker belastet fühlen als Männer. Ferner steigt die Belastung mit zunehmen-dem Schweregrad der Demenz an und wird in den Kleinstädten stärker empfunden als in Großstädten. Darüber hinaus beschreiben sich pflegende Angehörige im gemeinsa-men Haushalt mit den Pflegebedürftigen objektiv und subjektiv belasteter als in ge-trennten Haushalten.

Die negativen Konsequenzen des Pflegeprozesses werden vor allem in den persönli-chen Einschränkungen, die mit der Pflege verbunden sind, gesehen. Diese sind insbe-sondere für eine erhöhte Depressivität als auch für einen schlechteren physischen Ge-sundheitszustand bedeutsam. Weiterhin ist die Belastung durch die Beaufsichtigung („Rund-um-die-Uhr-Betreuung“) und eine niedrige Schulbildung ein Prädiktor für erhöhte Aggressivität.

Die Leander-Studie bietet damit insgesamt eine sehr differenzierte Analyse einzelner Belastungsdimensionen. Hervorzuheben ist insbesondere auch der Längsschnittcha-rakter, der Informationen in kürzeren Zeitintervallen bereitstellt, als dies in anderen Erhebungen der Fall ist.

9 Ein weiterer geplanter Projektabschnitt widmet sich den Prädiktoren der Morbidität und Mortalität der Demenzpatienten und pflegenden Angehörigen.

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