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Sozialrechtliche Fragen der Entgiftung und Entwöhnung Olaf Kleßen, Stendal

Viele Wege führen in die Abhängigkeit von Suchtstoffen und auf ebenso vielen Wegen lässt sich das Ziel herbeiführen, eine Lösung aus der Abhängigkeit zu erreichen. Ermöglicht wird das heute durch eine Vielzahl ganz unterschiedlicher therapeutischer Ansätze, die sich eng am jeweiligen Bedarf des Suchtkranken orientieren. Die Aufgabe, den Betroffenen aus ihrer Abhängigkeit heraus zu helfen, darf heute als gesicherte und unumstrittene Notwendigkeit betrachtet werden.

Die Alkoholabhängigkeit hat unter den Suchterkrankungen einen zahlenmäßig hohen Anteil. An ihrer Behandlung orientieren sich die wesentlichen rechtlichen Fragestellungen für Patienten, Therapieeinrichtungen und Kostenträger.

Seit ihrer rechtlichen Anerkennung als Krankheit durch das Bundessozialgericht im Jahr 1968 (Urteil vom 18. Juni 1968 – 3 RK 63/66 -) hat sich zu ihrer Therapie ein Hilfesystem entwickelt, das wesentlich von der Wechselbeziehung Finanzierung, Kostenträger und Therapieerfordernissen geprägt ist. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind für die einzelnen alkoholkranken Patienten wie auch für die Leistungserbringer nicht immer gleich. Im Wesentlichen lassen sich drei Hauptgruppen unterscheiden: 1. Patienten, die in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung versichert sind und die besonderen rentenversicherungsrechtlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt haben, 2. solche die nur gesetzlich krankenversichert sind und 3.

solche, die in keiner dieser Versicherungen versichert sind. Für letztere besteht, von zahlenmäßig geringfügigen Ausnahmen abgesehen, eine Dreiecksbeziehung zwischen Patient, Leistungserbringer und Sozialhilfeträger. Für die anderen Patienten kommen im Verlauf der Behandlung Beziehungen zu den Rentenversicherungsträgern und/oder den Krankenkassen hinzu.

Die für die alkoholkranken Patienten interessante Frage, welche Leistungen sie zur Behandlung ihrer Krankheit erhalten können, lässt sich global relativ einfach beantworten. Sie haben Anspruch auf notwendige, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche ambulante und stationäre ärztliche und psychotherapeutische Krankenbehandlung zur Krankheitserkennung, Heilung, Linderung oder zur Verhütung einer Verschlimmerung (vgl. § 27 Abs. 1, 39 SGB V, § 37 Abs. 1 BSHG). Ferner können sie medizinische Leistungen zur Rehabilitation beanspruchen, um den Auswirkungen einer Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und um dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit oder ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder eine möglichst dauerhafte Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, §§ 39 Abs. 3, 40 Abs. 1 Nrn. 1 und 7 BSHG oder ohne das Ziel der Sicherung der Erwerbsfähigkeit: §§ 11 Abs. 2, 27 Abs. 1, 40 Abs. 2 SGB V).

Die Art und der Umfang der Behandlung ergibt sich in erster Linie aus den medizinischen Notwendigkeiten, wobei sie dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen muss (vgl. § 18 Abs. 1 SGB V, § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI).

Die Frage, von welchem Kostenträger und welchem Leistungsanbieter der Alkoholkranke die Behandlungsleistungen erhält, ist dagegen wesentlich schwieriger zu beantworten.

Der therapeutische „Königsweg“ Kontakt-, Entzugs-, Entwöhnungs- und Nachsorgephase, der aus therapeutischer Sicht als Einheit verstanden wird, verteilt sich leistungsrechtlich auf verschiedene Kostenträger. Der idealtypische Behandlungsverbund sieht eine ambulante Kontaktphase im Wesentlichen zur Krankheitsfeststellung sowie zur Motivation und Einsichterzeugung zur Abstinenzbehandlung mit Finanzierungsbeteiligungen der Krankenkassen, Sozialhilfeträgern und auch der Gesundheitsämter für ambulante ärztliche Untersuchungen und psychosoziale Beratungen vor. In der Regel sollen sich eine geplante stationäre Entzugs- bzw. Entgiftungsphase,

Ausschuss für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung des Landes Sachsen-Anhalt 8. Bericht des Ausschusses für den Zeitraum Mai 2000 - April 2001

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eine kurzfristige (bis zu zwei Monaten), mittelfristige (3 – 5 Monate) oder langfristige (6 und mehr Monate) stationäre oder, sofern möglich, ambulante Entwöhnungsphase sowie eine ambulante Nachsorgephase anschließen. Die Nachsorge bei Suchtberatungsstellen, Psychosozialen Beratungsstellen, Psychiatern, niedergelassenen Ärzten, suchtmedizinischen Ambulanzen und Selbsthilfegruppen wird im Wesentlichen wieder durch die Krankenkassen, Sozialhilfeträger und Gesundheitsämter finanziell begleitet.

Komplizierter ausgestaltet sind die Behandlungsphasen des Entzugs bzw. der Entgiftung und der Entwöhnung. In der bisherigen Praxis haben sich für beide Bereiche unterschiedliche Leistungserbringer herausgebildet. Die Entgiftung erfolgt in der Regel in Allgemeinkrankenhäusern oder psychiatrischen Kliniken. Die Entwöhnungsbehandlung wird in speziellen Fachkrankenhäusern durchgeführt. Dieses stationäre System ist Folge einer rechtlichen Trennung zwischen Krankenhausbehandlung und Rehabilitation sowie unterschiedlicher Kostenträger und eines ebenfalls unterschiedlichen Finanzierungs- und Krankenhausplanungssystems. Die Kosten der Entzugsbehandlung tragen überwiegend die gesetzlichen Krankenkassen. Die Entwöhnungsbehandlung fällt in den Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Rentenversicherung.

Für die ausschließlich der Sozialhilfe zugeordneten Patienten ergibt sich kein wesentlich anderes Behandlungssystem. Die Leistungen der Sozialhilfeträger nach dem Bundessozialhilfegesetz (§ 37 BSHG: Krankenhilfe <insbesondere Krankenhausbehandlung> und §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG:

ambulante oder stationäre Behandlung oder sonstige ärztliche oder ärztlich verordnete Maßnahmen zur Verhütung, Beseitigung oder Milderung der Behinderung als Eingliederungshilfe für Behinderte, zu denen auch Suchtkranke gehören) sind an der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 37 Abs. 1 Satz 2 BSHG) und letztlich faktisch auch an dem durch die Rehabilitations-Zuständigkeiten der Rentenversicherungsträger geprägten stationären Hilfesystem orientiert.

Seit der „Suchtvereinbarung“ vom 20. November 1978 zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) hat sich in der Praxis ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen stationärer Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung statuiert, das heute aus medizinischer Sicht vermehrt in Frage gestellt wird. Nach §§ 3 und 4 Abs.

2 dieser Vereinbarung wird grundsätzlich vom Krankenversicherungsträger stationäre Entzugsbehandlung gewährt, wenn sie für die Durchführung der Entwöhnungsbehandlung erforderlich ist. Sie kommt in Betracht bei toxisch bedingten Versagenszuständen im somatischen und/oder psychischen Bereich, z.B. bei drohenden komatösen Zuständen (Leberversagen u.a.), Delirgefahr, psychiatrischen Komplikationen (Depressionen, Suizidgefahr, akuten alkoholischen Psychosen usw.). Die Notwendigkeit einer Entzugsbehandlung ist von einem Arzt festzustellen.

Der nahtlose Übergang von der Entzugsbehandlung in die Entwöhnungsbehandlung ist anzustreben. Stationäre Entwöhnungsbehandlung wird nach §§ 2 und 4 Abs. 1 dieser Suchtvereinbarung vom Rentenversicherungsträger in speziellen Einrichtungen gewährt, wenn der Abhängigkeitskranke voraussichtlich auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft wieder eingegliedert, die Abhängigkeit ambulant nicht erfolgreich behandelt werden kann, der Abhängigkeitskranke motiviert und bereit ist, eine erforderliche Nachsorge in Anspruch zu nehmen und eine Entzugsbehandlung nicht erforderlich ist oder bereits durchgeführt ist.

Dieser noch zu Zeiten der Geltung der Reichsversicherungsordnung etablierte Wegbereiter bestimmt auch heute unter Geltung der Sozialgesetzbücher V (Krankenversicherung) und VI (Rentenversicherung) im Wesentlichen die Praxis. Die gesetzlichen Regelungen stehen diesem Verfahren jedenfalls solange nicht entgegen, solange es nicht die Leistungsrechte der Patienten verkürzt. Eine Leistungsbeeinträchtigung wird in letzter Zeit allerdings zunehmend beklagt.

Im Positionspapier der Leiter von Suchtabteilungen in bayrischen Bezirkskrankenhäusern zur Entzugsbehandlung4 wird auf eine zunehmend restriktive Haltung einiger gesetzlicher Krankenkassen und Medizinischer Dienste der Krankenversicherung (MDK) hingewiesen, wonach sich die durch die Krankenversicherung kostengestützte Entzugsphase auf eine rein körperliche Entgiftung beschränken solle. Ungewissheiten ergeben sich auch für Patienten, die nicht den idealtypischen Behandlungsweg beschreiten5. Der sog. Königsweg wird von weniger als 1 % aller Alkoholabhängigen pro Jahr begangen. Vielfach beginnt die Behandlung bereits mit der notwendigen körperlichen Entgiftung im Rahmen einer stationären „Notfallbehandlung“ im Allgemeinkrankenhaus anlässlich eines schweren Rausches („hilfslose Person“), epileptischen Anfalls, Unfall mit Kopfverletzungen, körperlichen Verletzungen oder Erkrankungen oder Suizidhandlungen. Auch sind spontane Aufnahmen im Krankenhaus nach einer ärztlichen Einweisung und einem unvermittelten Entschluss des Patienten nicht selten. Die gesamte Vorbereitung zur Therapiedurchführung (Kontaktphase), die ohne den festen Willen des Betroffenen, sich von der Sucht zu lösen, in der Regel erfolglos ist, fehlt. Insbesondere die Motivationsbehandlung muss dementsprechend nachgeholt werden. Eine nicht unerhebliche Zahl Alkoholkranker kommt für eine Entwöhnungsbehandlung aus weiteren gesundheitlichen Gründen von vornherein nicht in Betracht. Aber auch für sie wird eine über die bloße körperliche, mit Medikamenten begleitete Entgiftung hinausgehende, meist stationäre Behandlung für notwendig erachtet.

Für die Patienten, deren Erwerbsfähigkeit nicht nachhaltig gebessert werden kann oder die nicht die rentenversicherungsrechtlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllen, scheidet eine Kostenübernahme durch den Rentenversicherungsträger aus. Das gleiche gilt bei akuter Behandlungsbedürftigkeit vor Beginn der Entwöhnungsbehandlung oder bei Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung (vgl. §§ 10 – 12, 13 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGB VI). Dieser Personenkreis ist auf die Leistungen der Krankenversicherung beschränkt. Das bedeutet allerdings keineswegs einen Ausschluss von medizinisch adäquaten Rehabilitationsleistungen oder eine Einengung auf eine stationäre körperliche Entgiftungsbehandlung. Die gesetzlichen Regelungen im SGB V (§§

27, 39, 40) geben einen ausreichenden Spielraum, um dem Alkoholkranken die notwendige Krankenhausbehandlung und medizinische Rehabilitation nach den Regeln des Krankenversicherungsrechts, insbesondere durch die Krankenkassen, also auch ohne Beteiligung des Rentenversicherungsträgers zukommen zu lassen.

Welche medizinischen Leistungen nur mit den Mitteln eines Krankenhauses (= Kranken-hausbehandlung) und welche darüber hinausgehende Leistungen (= medizinische Rehabilitation) erbracht werden können, richtet sich nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und den individuellen Behandlungsbedürfnissen. Eine Zuordnung der einzelnen ärztlichen Leistungen zur Krankenhausbehandlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V) oder zur medizinischen Rehabilitation in einer Rehabilitationseinrichtung (§ 111 SGB V) hängt im Wesentlichen von der medizinischen Zielsetzung der Behandlung von Alkoholkranken ab.

Ihre seriöse Darstellung übersteigt den Rahmen eines Berichts. Hierfür wäre ein neutrales Rechtsgutachten angemessen. Mit ihm könnten nicht nur praxisrelevante Probleme für die Patienten und Leistungserbringer im Einzelnen aufgezeigt, sondern auch einer rechtlichen oder, soweit notwendig, politischen Lösung zugeführt werden.

4 Das Positionspapier wurde am 06.10.2000 von der Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Krankenhäuser (Vorsitzender: Prof. Dr. M. Wolfersdorf) und am 27.10.2000 von der Konferenz der ÄrztlichenDirektoren derBayrischen Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie (Vorsitzender: Prof. Dr. H. E. Klein) verabschiedet.

5 Böcker, Felix M., Medizinische Welt (im Druck)