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Soziale Positionierung über die Schreibweise

Im Dokument MASTERARBEIT / MASTER S THESIS (Seite 36-39)

3. Engagement als Funktion der Form: Barthes (1953)

3.1. Soziale Positionierung über die Schreibweise

Während Sprache und Stil Barthes’ Ansicht nach gegeben und nicht individuell beeinflussbar sind – Sprache als allen Menschen einer (Sprach-)Gruppe gemeinsames

138 Barthes. Am Nullpunkt der Literatur. S. 66.

139 Barthes, Roland (1953). Le degré zéro de l’écriture. In: Derselbe. Le degré zéro de l’écriture suivi de Nou-veaux essais critiques. Paris: Éditions du Seuil. Nachdruck von 1972. S. 7–67. Hier: S. 18.

140 Barthes. Am Nullpunkt der Literatur. S. 18.

141 Ebd. S. 67.

142 Ebd. S. 19.

tel, Stil als durch äußere Umstände erworbene Technik und Fähigkeit, diese zu verwenden – ist die Schreibweise jene Ebene, auf der sich das Individuum positioniert. Sie ist der „Ton[...]

oder [...] [das] Ethos“143 eines Textes oder auch „der Vortrag, der Zweck, die Moral, das Na-turell ihres [der Schreibenden] Sprechens“.144 Die Schreibweise ist das, worin sich das schrei-bende Individuum „individualisiert“.145 Das heißt nicht, dass sie immer einzigartig ist: Ver-schiedene Schreibende können sich Barthes zufolge zu unterschiedlichen historischen Zeit-punkten für dieselbe Schreibweise entscheiden; eine literarische Strömung oder eine publizis-tische Gruppe kann sich über eine gemeinsame Schreibweise identifizieren. Dennoch ist die Schreibweise immer individuell beeinflussbar, wenn die Entscheidung für ihre Verwendung nach eigenem Ermessen getroffen wird. Dazu muss den Schreibenden bewusst sein oder – etwa im publizistischen Kontext – explizit oder implizit bewusst gemacht werden, dass es unterschiedliche Schreibweisen gibt. Das heißt, diese Ebene der Form muss reflektiert und kenntlich gemacht werden, was dann möglich ist, wenn verschiedene Schreibweisen parallel zueinander existieren.146

Aus literaturgeschichtlicher Sicht handelt es sich Barthes zufolge bei der Differenzie-rung der eigenen Schreibweise um ein relativ junges Phänomen, das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt auftritt. Als sich im Frankreich des 17. Jahrhunderts ein ein-heitliches Verständnis von Literatur als Kunst zu formen beginnt, sei die Natur der Schreib-weise noch ausschließlich funktional oder dekorativ gewesen, nämlich die in die Praxis um-gesetzte Abstraktion davon, wie man zu schreiben hat:

Eine instrumentale Schreibweise, da man die Form als im Dienste des Gehaltes stehend betrachtete, [...] ei-ne ornamentale Schreibweise, da dieses Instrument mit seiei-ner Funktion fremden Akzidentien geschmückt war, die [...] der Tradition entnommen waren, das heißt, dass diese bürgerliche Schreibweise, die von un-terschiedlichen Schriftstellern aufgenommen wurde, [...] nur ein glückliches Dekorum war, aus dem sich der Akt des Denkens erhob.147

Die unterschiedlichen Schreibweisen des 17. Jahrhunderts sind also kein Ausdruck der sozia-len Positionierung, sondern Kennzeichen der Textgattung. Sie werden auch nur darum reflek-tiert und verändert, um sie als Instrument für den allgemeinen Gebrauch „zum Zweck einer Überredung“ zu verbessern, nicht um sich individuell über sie zu positionieren und zu enga-gieren.148 Bis um 1850 bleiben die Schreibweisen der auf Beständigkeit bedachten bürgerli-chen Literatur noch einheitlich, da „die Form nicht zerrissen sein konnte, weil es auch das

143 Barthes. Am Nullpunkt der Literatur. S. 18.

144 Ebd. S. 19.

145 Ebd. S. 18.

146 Vgl. ebd.

147 Ebd. S. 48.

148 Ebd. S. 48.

Bewußtsein nicht war“.149 Es ist also noch nicht üblich, dass Schreibende sich über die Schreibweise differenzieren, da sie keine Distanz zu anderen Schreibweisen einnehmen müs-sen. Erst die gesellschaftlichen Umbrüche in Europa um 1850 haben nach Barthes dazu ge-führt, dass sich das literarische Engagement in der Annahme oder Ablehnung der traditionel-len Schreibweisen zu manifestieren beginnt. Literaturschaffende beginnen nun, ihre Schreib-weise zu reflektieren und erkennen, dass es sich um keine bloß formale Entscheidung handelt, sondern um eine der sozialen Verortung. Barthes bezieht sich dabei nicht auf die Wahl eines Publikums, das einer bestimmten Gesellschaftsschicht angehört. Wie Sartre geht er davon aus, dass die Schreibenden wenig Einfluss darauf haben, wer letztendlich ihre Texte lesen wird, da der lesende Teil der Gesellschaft immer ein gewisser und gleichbleibender ist. Statt-dessen treffen die Literaturschaffenden „eine Gewissensentscheidung [...]. Seine Schreibwei-se bedeutet eine Art und WeiSchreibwei-se, Literatur zu konzipieren, nicht, sie zu verbreiten.“150 Mit der Schreibweise positionieren sich die Schreibenden in einem geschichtlich und kulturell ge-schaffenen Raum sozialer und moralischer Dimension. Mit jedem Anklang von etwas Be-kanntem erfolgt eine Positionierung. Eine Schreibweise steht also nicht für sich allein, sie findet sich im Kontext der bereits existierenden Schreibweisen wieder: So „bleibt die Schreibweise noch erfüllt von der Erinnerung an früheren Gebrauch“.151 Eine jede Schreib-weise reflektiert ihr Verhältnis zu den vorhergehenden, und zu diesen vorhergehenden gehört jede Schreibweise ab dem Moment ihrer Existenz. Auch die eigene, individuell gewählte Schreibweise wird nach ihrer Verwendung für Barthes zu einer bereits gewesenen und kann nicht mehr als frische, unverbrauchte Schreibweise wiederverwendet werden: „Ein hartnäcki-ger Nachklang, der von allen früheren Schreibweisen und aus der Vergangenheit meiner eige-nen Schreibweise stammt, übertönt meine gegenwärtigen Wörter.“152

Bei ihrer ersten Verwendung ist die Schreibweise aber ein Ausdruck praktisch ausge-übter Freiheit und markiert einen „Schnitt“ in der Literatur.153 Diese Schnitte nehmen in Barthes’ Wahrnehmung im 20. Jahrhundert zu, was dafür spricht, dass die Arbeit an der Schreibweise eine Tendenz der Literaturproduktion zumindest bis zur Mitte des letzten Jahr-hunderts ist und dass zentrale Innovationen auf diesem Gebiet geschaffen werden. Der Inno-vationsprozess kann für Barthes aber keine allgemeingültige Schreibweise hervorbringen, da jede Schreibweise nur im Augenblick ihrer ersten Verwendung eine Innovation ist. Der abs-trahierbare Aspekt in Barthes’ Theorie der Schreibweise als Funktion des Engagements ist

149 Barthes. Am Nullpunkt der Literatur. S. 10.

150 Ebd. S. 19.

151 Ebd. S. 20.

152 Ebd. S. 20.

153 Ebd. S. 20.

also der Reflexionsprozess, der seinen Abschluss in der sozialen Positionierung findet, nicht die jeweilige Schreibweise, die so ein Prozess hervorbringt.154

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