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Aktivierung durch Appell an die Lesenden

Im Dokument MASTERARBEIT / MASTER S THESIS (Seite 74-78)

7. Analyse von Sibylle Bergs Vielen Dank für das Leben (2012)

7.2. Übereinstimmungen und Diskrepanzen mit Sartre (1948)

7.2.2. Aktivierung durch Appell an die Lesenden

Sartre fordert, dass engagierte Literatur an die Lesenden appelliert und sie dadurch aktiviert.

Konkret soll sie die Spannung zwischen dem faktischen und dem virtuellen Publikum reflek-tieren und dabei maßvoll provozieren. Bereits zu Beginn des Romans ist der Appellcharakter vorhanden, im Vergleich zu späteren Passagen ist er aber subtil und kaum provozierend, wie beim Einstieg des ersten Kapitels Der Anfang., in dem der Fokus auf den Umständen der Zeit liegt:

Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normaler-weise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuro-päischen Landes. | Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts. | Da gab es weder

278 Berg. Vielen Dank für das Leben. S. 387.

zung noch isolierte Fenster oder einladende Kamine; die Einwohner der kleinen Stadt froren, sie waren schlecht gelaunt und hatten steife Finger. Fast meinte man den Kalten Krieg zu spüren. 279

Indem die Erzählstimme mitteilt, dass die Umstände, von denen sie spricht, sonst niemandem oder nur wenigen bekannt und in Erinnerung sind, trägt sie wenig zum inhaltlichen Verständ-nis bei. Aber sie präsentiert sich klar als Instanz, die den Lesenden etwas voraushat, von de-nen „[k]einer [...] wohl“ über dieses Wissen verfügt. Jedenfalls wissen die Lesenden in der Annahme der Erzählinstanz um den Komfort einer Fußbodenheizung, von isolierten Fenstern oder einem Wohnzimmerkamin. Diese Dinge, so heißt es hier explizit, stehen in der in-nertextlichen Realität nicht zur Verfügung und da bereits klar geworden ist, dass es sich um die DDR handelt, kann man davon ausgehen, dass sie in diesem Teil der Erzählung auch kei-ne bekannten und somit auch keikei-ne ersehnten Güter sind. Es wird also klar gemacht, dass die Erzählstimme das lesende Gegenüber anspricht und eine Beziehung zu seiner Realität her-stellt. Außerdem werden der Erfahrungshorizont und der Wissensstand der Lesenden einbe-zogen: Die Umschreibung der „sozialistische Teil des nordeuropäischen Landes“ reicht an-stelle einer namentlichen Nennung. Aus diesen und weiteren Verweisen ergibt sich, dass das faktische Publikum im 21. Jahrhundert lebt und ausreichend Vorwissen zur deutschen Zeitge-schichte mitbringt, um diverse Anspielungen darauf zu verstehen. Diese Personen sind poli-tikinteressiert, identifizieren sich eher mit dem politisch linken und progressiven Spektrum und fühlen sich zumindest von einigen der Themen DDR, sexuelle Selbstbestimmung, Macht-strukturen, Freiheit/Unfreiheit, Vergangenheitsbewältigung, Klimawandel, Gleichberechti-gung und Diskriminierung angesprochen. Die Lesenden müssen sich darauf vorbereiten, dass sie selbst zu Protagonisten und Protagonistinnen gemacht werden, denn die beschriebene Rea-lität ist mit ihrer eigenen verknüpft. Auf die ersten Andeutungen („Fußbodenheizung“ etc.) folgen weitere und konkretere:

Die Welt war damals klein und nicht sehr beängstigend, sie war überschaubar und reichte bis zur Stadt-grenze. Es war das Leben vor dem Internet und den Medien, es gab nur die Tageszeitung, und Journalisten trugen zerknitterte Anzüge. Die Welt gehörte den Männern, und hier, im Ostteil des in Gut und Böse ge-teilten Landes, wunderte sich darüber keiner. Farbige gab es nur in Afrika und in Büchern, man musste ausschließlich das begreifen, was in der kleinen Stadt, im kleinen Land passierte, und das war wenig, es stand in der Tageszeitung. 280

Spätestens hier ist nicht mehr zu leugnen, dass Berg auf gegenwärtige Ereignisse verweist, die auch sieben Jahre nach dem Erscheinen des Buches noch aktuell sind: Da gibt es einerseits die Welt des faktischen Publikums mit Internet und Massenmedien, andererseits eine vergan-gene Welt mit Journalismus, hinter dem eine konkrete, greifbare Person steht, die für das, was sie schreibt, zur Rechenschaft gezogen wird. Die Tatsache, dass Frauen in Machtpositionen

279 Berg. Vielen Dank für das Leben. S. 7.

280 Ebd. S. 7.

unterrepräsentiert sind, ruft in der Welt des faktischen Publikums gesellschaftliche Spannun-gen hervor, Zuwanderung und FluchtbewegunSpannun-gen werden als Bedrohung empfunden, beides spielt in der Welt der Vergangenheit keine Rolle. Berg verweist hier implizit darauf, dass die DDR im Nachhinein idealisiert wird: In dem beschriebenen Land, in dem kaum jemand frei-willig bleiben will, gibt es nicht nur keine ungewollte Zuwanderung, weil die Grenzen ohne-hin versperrt sind und gründlich kontrolliert werden, sie kann auch nicht über das noch nicht vorhandene Internet als scheinbare Bedrohung inszeniert werden.

Um ihren Appell zu unterstreichen, stellt Berg dem faktischen Publikum ein virtuelles gegenüber. Zum virtuellen Publikum gehören Personen, die grundsätzlich den Roman lesen und seinen Inhalt verstehen können und die einen relevanten Bezug, etwa geographischen, zu den enthaltenen Realitäten haben, die Lektüre aber ausschließen, weil sie sich etwa nicht für die Themen oder die Texte von Sibylle Berg interessieren. Weiters gehören zum virtuellen Publikum Personen, welche die Zustände in der DDR oder in der guten alten Zeit generell idealisieren sowie jene, welche die folgende Aussage als Angriff auf ihre Überzeugungen empfinden würden: „Die Anhänger des sozialistischen und die Anhänger des kapitalistischen Systems kämpften, so war zu hören, um die Weltherrschaft, Genaueres über den Ausgang stand noch nicht fest, und es beeinflusste das Leben der Menschen in ihrer kleinen Stadt nur geringfügig.“281

Unabhängig davon, ob dieses von Berg konstruierte virtuelle Publikum wirklich in dieser Form existiert, evoziert sie das Bild einer geteilten Gesellschaft, in der die einen sich von ihrem Appell angesprochen fühlen und die anderen nicht. Das virtuelle Publikum besteht dabei aus jenen Gruppen, zu denen man selbst nicht gehören möchte. Das virtuelle Publikum ist also aus konstruierten Menschentypen zusammengesetzt, die negativ vom faktischen Pub-likum abgegrenzt werden. Es dient dazu, ein Einverständnis zwischen Erzählstimme und fak-tischem Publikum zu schaffen, indem zu diesen suggerierten Typen Spannung aufgebaut wird. Verstärkt wird diese Spannung hier mit dem Ausdruck „so war zu hören“, der die Ent-fernung und damit die Unbeteiligtheit von den politischen Entscheidungsprozessen sowie die Fremdbestimmtheit der unterdrückten Seite des virtuellen Publikums andeutet. Von der geo-graphischen („Stadtgrenze“, „kleine Stadt“, „kleines Land“) und politischen („Gut und Böse“) Sphäre zoomt Berg im Abschluss des ersten Kapitels in die persönliche hinein:

Waren sie sensibel, die Menschen, dann mochten sie mitunter ein wenig schwerer atmend auf ihre grauen Straßen schauen, nicht wissend, dass sie die Farbe vermissten oder die erfreulichen Vorteile des Konsumie-rens, und sie wurden von einer fast ohnmächtig machenden Langeweile befallen. So, das ist es nun, für

281 Berg. Vielen Dank für das Leben. S. 7.

immer, mochten sie sich sagen, die Sensiblen, das also ist mein Leben, es scheint ja nichts Besonderes zu werden.282

Hier wird aufgezeigt, dass die Vorstellungen von Individualismus in einer kapitalistischen Gesellschaft extrinsisch motiviert und konstruiert sind, aber letztendlich wiegt die Abwesen-heit von Möglichkeiten und der persönlichen FreiAbwesen-heit, diesen Vorstellungen aus freier Ent-scheidung zu folgen oder sie abzulehnen, noch schwerer und verdeutlicht noch einmal die verschiedenen möglichen Perspektiven auf diese Realität. Der letzte Satz des Kapitels – „es scheint ja nichts Besonderes zu werden“ – streicht den zynischen Fatalismus hervor, der die ganze Erzählung durchzieht. Er eröffnet gleichzeitig die Erwartung, dass sich die aufgebaute Spannung zwischen dem faktischen und dem virtuellen Publikum, die hier aufgebaut wurde, entladen wird. In der Folge baut Berg eine Erzähldynamik auf, in der sie die Lesenden auf immer wieder neue Arten überrascht, schockiert und verwirrt. Die Provokationen sind dabei stark und energisch. Das gelingt Berg unter anderem, indem sie Gedanken, Figurenreden, Allgemeinplätze und Interjektionen unerwartet zusammenfließen lässt, wie im folgenden Bei-spiel:

Thorsten sieht zwar mittelmäßig aus, ist aber unterdessen Abteilungsleiter und fährt einen Dings [...] und dann geht er fremd, vielleicht wird er Karin verlassen [...] oder er bleibt doch bei ihr und bei ihrer Ge-wichtszunahme und ihrer rasch voranschreitenden Verblödung, das passiert, wenn man den halben Tag Fernsehen schaut, Hut ab, das ist die Basis der Gesellschaft, dieses uninformierte, dumme Pack mit seiner lauernden Wut auf die Enttäuschung, die das Leben ist, und dann wird rechtsradikal gewählt, denn irgend-wer ist ja schuld, die anderen sind schuld, und vielleicht wird im Bioladen eingekauft, alles Bio, ich kaufe Bio, aber verdammte Scheiße, einen Orgasmus macht das auch nicht.283

Berg schwenkt hier innerhalb eines Satzes von einer atemlosen Erzählung hin zu unmittelba-ren Vorwürfen, die an die Lesenden gerichtet sein können („voranschreitende Verblödung“,

„Basis der Gesellschaft“, „dann wird rechtsradikal gewählt“), denen unterstellt wird, gesell-schaftliche Tendenzen und ihre Ursachen zu ignorieren und sich stattdessen in Selbstgefällig-keit zurückzuziehen („ich kaufe Bio“). So kann man feststellen, dass Berg das Vertrauen der Lesenden sucht, indem sie sich auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont bezieht, aber auch, dass sie sie auf teils brüske Art mit unangenehmen Realitäten konfrontiert. Der weitere Handlungsverlauf und die provozierende Erzählweise führen, aus meiner subjektiven Sicht, zu der Schlussfolgerung, dass die Welt unabänderlich schlecht und alle Menschen darin fremdbestimmt sind. Ich stimme daher dem bereits zitierten Literaturkritiker Bucheli zu, wenn er schreibt: „Man denkt sich lediglich: Ja, gewiss, recht hat die Erzählerin. Die Welt ist

282 Berg. Vielen Dank für das Leben. S. 7–8.

283 Ebd. S. 198.

schlecht geordnet [...].“284 Damit entfernt sich Berg von Sartres Forderung der subtilen Pro-vokation sowie Aktivierung und ist eher in der konfrontativen Literatur Louis’ anzusiedeln.

Im Dokument MASTERARBEIT / MASTER S THESIS (Seite 74-78)