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Signaturenlehre, Organotherapie und „Dreck-Apotheke“

Im Dokument Mater Puerorum: (Seite 41-46)

3. Alternative Erklärungsansätze durch die medizinische Lehre des Paracelsus

3.3 Signaturenlehre, Organotherapie und „Dreck-Apotheke“

In engem Zusammenhang mit der Lehre des Paracelsus ist weiter die bereits aus der Antike von Plinius und Dioskurides überlieferte arzneikundliche Signaturenlehre zu sehen, auf die er in seinen Schriften ausführlich Bezug nahm. Sie besagte, dass die Wirkung einer Pflanze oder eines Gegenstandes aus seiner Form, Farbe oder Namen abgeleitet werden könne. So wurde Lungenkraut beispielsweise gegen Lungenerkrankungen verabreicht oder der Einsatz von Bestandteilen der Pfingstrose in der Epilepsie-Behandlung auf deren rote Blüten zurückgeführt, wurden doch dieser Farbe seit dem Mittelalter dämonenabwehrende Kräfte zugeschrieben. Parallel existierte die sogenannte Organotherapie, die ähnlichen Überlegungen folgend organische Substanzen wie Tierpräparate (hierunter fiel das Bibergeil) einsetzte, die entweder anhand von Eigenschaften ausgewählt wurden, die den betroffenen

84 Temkin: The Falling Sickness, S. 175-177.

85 Ebd., S. 182-183.

Epileptikern fehlten oder aber die der Epilepsie ähnlich waren; nicht selten wurden auch menschliche Innereien und Exkremente verabreicht. Letztere können zusätzlich dem 1669 vom Eisenacher Arzt Christian Franz Paullini (1643 – 1712) vorgestellten Konzept der sogenannten „Dreck-Apotheke“ zugeordnet werden, der die Überzeugung zugrunde lag, dass sie mit Lebensgeistern aufgeladen seien, die eine besonders für den einfachen Mann erschwingliche Therapieoption darstellen sollten.86

Obwohl Paracelsus ohne Zweifel entscheidend dazu beigetragen hat, durch die von ihm begründete Lehre die medizinische Diskussion seiner Zeit allgemein und die zur Epilepsie im Speziellen voranzubringen, ebnete er gleichzeitig vielen aus der Welt der volkstümlichen (Natur-)magie entlehnten Therapieansätzen den Weg in die zeitgenössische ärztliche Praxis.87 Er und seine Anhänger sollten stets Außenseiter bleiben, wie sich in den folgenden Kapiteln auch an dem untersuchten Quellenmaterial zeigen wird, in dem sich nur vereinzelt Hinweise auf seine Lehre fanden und stattdessen das modifizierte humoralpathologische Modell vorherrschte.

86 Wolf-Dieter Müller-Jahncke/Christoph Friedrich/Julian Paulus (Hrsg.): Geschichte der Arzneimitteltherapie.

Stuttgart 1996, S. 58-61, sowie Schattner: Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge, S. 57-59, sowie Jütte:

Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit, S. 92.

87 Temkin: The Falling Sickness, S. 177-178. Als Beispiel für eine Beeinflussung zugunsten solcher Praktiken führte Temkin den im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch als Autor eines pädiatrischen Lehrwerks zu Wort kommenden Arzt Daniel Sennert auf.

Das epileptische Kind im Fokus ärztlicher Fallberichte der Frühen Neuzeit

Im vorangegangenen Kapitel habe ich überblicksmäßig Hintergrundinformationen zusamengestellt, die mir zum besseren Verständnis der folgenden Darstellung und Interpretation des untersuchten Quellenmaterials hilfreich scheinen. Letzteres ermöglichte es, eine unterschiedliche Aspekte der frühneuzeitlichen Epilepsie-Konzeption widerspiegelnde Gruppe von Betroffenen zu rekonstruieren, die gleichmäßig alle Altersklassen vom Neugeborenen bis zum jungen Erwachsenen umfasst, einen repräsentativen Ausschnitt der damals geläufigen Ausprägungsformen des zunehmend als heterogen wahrgenommenen epileptischen Krankheitsbildes bietet und besonders, was unterschiedliche Therapieansätze anbelangt, einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt der zeitgenössischen Ärzteschaft ermöglicht.

Vergleicht man zunächst die Fälle kindlicher Epilepsie (bis zu einem Alter von 18 Jahren) zahlenmäßig mit denjenigen, die die berücksichtigten Autoren in ihren Sammlungen zu Patienten im Erwachsenenalter dokumentiert haben, überwiegen erstere mit knapp 60%

und nähern sich damit heutigen Zahlen an, laut denen etwa 75% der Epilepsien bereits im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert werden. Dies spricht, zumindest was das konkrete Krankheitsbild anbelangt, gegen die in der Fachliteratur geäußerte These, dass studierte Ärzte in der Frühen Neuzeit kaum Kinder behandelt hätten.88 Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Schriften von Amatus Lusitanus und Lazare Rivière, in denen kindliche Patienten dominieren; ersterer berichtet sogar ausschließlich von solchen. Auch die Sammlungen von Pieter van Foreest, Philippus Grülingius, Felix Platter und Nicolaus Tulpius erwiesen sich als ergiebig, was Schilderungen über Epileptiker anbelangt, und zeigen dabei ein relatives Gleichgewicht zwischen kindlichen und erwachsenen Betroffenen.

Einschränkend muss ich an dieser Stelle jedoch anmerken, dass sich aus den Fallberichten von Rivière und Grülingius in Anbetracht ihrer knapp gehaltenen Länge – oft umfassen sie

88 Mary Lindemann: Health and Healing in Eighteenth-Century Germany. Baltimore 1996, S. 346-368, sowie Iris Ritzmann: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert. Köln 2008, S.

106-107. Allgemein maß die frühneuzeitliche Gesellschaft dem körperlichen Wohlbefinden von Kindern einen hohen Stellenwert bei; allerdings waren den Arbeiten dieser Autorinnen zufolge in vielen Fällen Chirurgen oder andere alternative Heilspersonen wie kinderheilkundlich versierte Frauen erste Anlaufstellen für die Eltern erkrankter Kinder. Dass es sich bei Krämpfen offenbar um einen der häufigsten Krankheitszustände im Kindesalter handelte, konnte Hannah Newton in ihrer Studie u.a. durch die Auswertung von Rezeptbüchern nachweisen. Vgl. Hannah Newton: The Sick Child in Early Modern England (1580 – 1720). Oxford 2012, S. 46.

nur wenige Sätze – kaum verwertbare Informationen gewinnen ließen. Philippus Hechstetter, Gregor Horstius und Augustinus Thoner dagegen fallen als Gegenpole insofern auf, als sie fast ausschließlich die Krankengeschichten erwachsener Epileptiker schriftlich fixiert haben. In den Werken von Paul de Sorbait und Johannes Wierus schließlich findet das Krankheitsbild Epilepsie gar keine Erwähnung. Die folgende Grafik veranschaulicht – ohne Anspruch auf absolute statistische Korrektkeit zu erheben – die Altersverteilung der in den berücksichtigten Observationes behandelten Epileptiker. Hieraus lässt sich unschwer erkennen, dass Krampfanfälle Kinder jeden Alters treffen konnten; auch bezüglich des Geschlechterverhältnis zeigte sich eine annähernd gleichmäßige Verteilung.

Häufig im Zusammenhang mit als epileptisch eingestuften Ereignissen wurden deren Persistenz über Stunden bis Tage sowie Symptome wie Lähmungen und geistige Umnachtung berichtet. Bei Neugeborenen und Säuglingen war weiter die Frage entscheidend, ob die Anfälle auf eine angeborene Veranlagung oder aber ein fehlerhaftes Verhalten der Amme zurückzuführen seien; bei älteren Kindern rückte der Magen ins Zentrum des Interesses, der Abbildung 4: Kreisdiagramm zur Altersverteilung der anhand der Auswertung der Observationes ermittelten kindlichen und jugendlichen Epileptiker

durch ihre unkontrollierte Gefräßigkeit oder aber Wurminfektionen Schaden nehmen und so Krampfanfälle verschulden konnte; bei Patienten im Jugendalter stand die drohende Chronifikation der Erkrankung im Vordergrund.

Systematisiert man die Vielzahl der Fallberichte nach den soeben genannten Aspekten, lassen sich fünf verschiedene Patientengruppen voneinander abgrenzen, deren Krankengeschichten im nächsten Abschnitt zur Veranschaulichung der in den folgenden Unterkapiteln dargestellten Themenkomplexe vorgestellt werden. Unter letztere fallen die zugrunde liegenden pathophysiologischen Vorstellungen, die im Untersuchungszeitraum einem Wandel unterworfen waren, der sich auch in den vorliegenden Quellen nachvollziehen ließ, weiter zum Teil komplexe therapeutische Vorgehensweisen und schließlich die weitgehend von antiken Autoren übernommenen Prognosekriterien.

Relevante diagnostische Verfahren bestanden dagegen – anders als heute – nicht, vielmehr scheint es sich bei der Epilepsie um eine Blickdiagnose gehandelt zu haben, deren typische Symptome dermaßen in der kollektiven Vorstellungswelt verankert gewesen sein müssen, dass sie in den untersuchten Fallberichten nur selten explizit erläutert wurden. Eine Ausnahme bilden hier aus dem Schema fallende ungewöhnliche Anfallsformen, denen in der im Zeichen der Observatio stehenden Medizin der Frühen Neuzeit viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die, wie wir im Folgenden noch sehen werden, zu einer Erweiterung der Krankheitsdefinition geführt haben. Besonders interessante Beobachtungen trugen in diesem Kontext Antonio Benivieni, Arnoldus Bootius, Wilhelm Fabricius und Martinus Rulandus bei.

Im Dokument Mater Puerorum: (Seite 41-46)