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Jahrestagung 2013 »Glaube an Gerechtigkeit? Leitbilder in der Sozialpolitik«

in Köln

Am 26. und 27. September 2013 fand in Köln in den Räumen der Fritz Thyssen Stiftung die Jahrestagung der Sektion Sozialpolitik statt. Organi-siert wurde die Tagung, die mit Mitteln der Fritz-Thyssen-Stiftung geför-dert wurde, von Christoph Strünck und Stephan Kutzner von der Univer-sität Siegen.

In seinem Eröffnungsvortrag analysierte Franz-Xaver Kaufmann (Biele-feld) den »Sozialstaat als kulturell fundierten Prozess«. Demnach seien zen-trale Ideen der Sozialpolitik zwar häufig mit Interessenpositionen verkop-pelt. Dennoch hätten Grundnormen eine eigene kulturelle Rechtferti-gungslogik. Jürgen Kohl (Heidelberg) konnte zeigen, dass die Erwartungen an soziale Sicherung in Europa sehr ähnlich sind und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaats generell hoch ist, unabhängig vom jeweiligen Typus des Wohlfahrtsstaats. Allerdings sei die Zufriedenheit mit der Sozialpolitik sehr unterschiedlich, was aber weniger mit unterschiedlichen Wohlfahrtskultu-ren zu tun habe. Vielmehr gebe es teilweise starke Abweichungen zwischen Ansprüchen und der politischen Umsetzung.

Alexander Lenger (Freiburg) rekonstruierte Parallelen und Wechselwir-kungen zwischen Wirtschaftswachstum, dominanten Gerechtigkeitsvorstel-lungen und sozialpolitischen Entscheidungen in der deutschen Nachkriegs-geschichte. Er zeichnete nach, wie die Akzeptanz der Marktwirtschaft pub-lizistisch und politisch flankiert wurde, indem auf Normen und Traditio-nen der Vorkriegszeit zurückgegriffen wurde. Sigrid Betzelt (Berlin) und Sil-ke Bothfeld (Bremen) griffen das nach wie vor aktuelle Aktivierungsparadig-ma in der ArbeitsAktivierungsparadig-markpolitik auf. Aktivierung könne nur dann die Autono-mie von Individuen fördern, wenn in den Dimensionen der Qualität, des Zugangs und der Partizipation spezifische Rahmenbedingungen geschaffen würden.

Tim Obermeier und Kathrin Schultheis (Remagen) blickten auf die Gerech-tigkeitsvorstellungen von Vermittlern und Klienten bei Arbeitsgelegenhei-ten, die sie empirisch untersucht haben. Diese seien nur in bestimmten Di-mensionen deckungsgleich; gerade was das »Integrationsdogma« angehe, gerieten die Vorstellungen der Arbeitsvermittler in Konflikt mit dem, was die Klienten für gerecht im Sinne einer realistischen Teilhabemöglichkeit hielten. Michael Grüttner (Nürnberg) widmete sich einem ehemals

promi-nenten Instrument der Arbeitsförderung, dem Gründungszuschuss. Mit Rückgriff auf Theorieansätze von Boltanski u.a. konnte er in einer mikro-soziologischen Studie zeigen, wie sehr die Diskurs-Situation zwischen Ver-mittler und Klienten darüber entscheidet, ob Erfolge erreicht oder Kon-flikte ausgelöst werden. Ob die »unternehmerische Eignung« festgestellt wird, hängt eher von den Diskurs-Positionen und damit verbundenen Deutungsmustern ab, als von vorgegebenen Regelwerken oder nachprüf-baren Kriterien.

Marc Breuer (Paderborn) betrachtete die Altenhilfe als ein soziales Feld nach Bourdieu und analysierte darin dominante Deutungen von Teilhabe.

Bewohner, Träger und Personal hätten zwar unterschiedliche Kapitalaus-stattungen in diesen Diskursen, dennoch seien Kooperationen genauso wie Konflikte zu erkennen, die auch vermeintlich schwache Gruppen wie die Bewohner über Koalitionen mit anderen stärken könnten. Frank Nullmeier (Bremen) widmete sich den zahlreichen methodischen und methodologi-schen Schwierigkeiten, transnationale Leitbilder der Sozialpolitik zu rekon-struieren. Er präsentierte unterschiedliche Entwicklungsthesen, von denen abhänge, ob sich transnationale Leitbilder in Form von Hybridisierung, Transfer, Dominanz oder auch als Parallele entwickelten; letztlich sei aber die Herkunft eines Leitbildes nicht so wichtig wie die Konflikte oder Kop-pelungen zwischen Leitbildern.

Achim Goerres (Duisburg-Essen) ging in einer vergleichenden Studie der Frage nach, ob die Legitimation wohlfahrtsstaatlicher Reformen grundsätz-lich mit wirtschaftgrundsätz-lichem Druck einhergehe. Der Vergleich von zentralen politischen Reden in Norwegen, Schweden und Deutschland zeige, dass sich ähnliche Argumentationsmuster teilweise von der ökonomischen Si-tuation des Landes entkoppelt und damit eine eigenständige Diskurs-Stabi-lität erreicht hätten. Martin Schröder (Marburg) konnte anhand unterschied-licher Datenquellen zeigen, dass es über einen längeren Zeitraum signifi-kante Übereinstimmungen gibt zwischen Einstellungen zu sozialer Gerech-tigkeit, der Medienberichterstattung und der tatsächlichen Entwicklung so-zialer Ungleichheit. In der Phase der Agenda 2010 wurde »soziale Un-gleichheit« weniger in den Medien erwähnt, und die Unterstützung für So-zialleistungen ging gleichzeitig in der Bevölkerung zurück. Inzwischen steht das Thema jedoch wieder auf der Agenda, die sozialen Unterschiede nehmen zu, und vom Wohlfahrtsstaat wird auch wieder mehr Umverteilung erwartet.

Zum Abschluss der Tagung moderierte Michael Brocker vom West-deutschen Rundfunk ein Podiumsgespräch zum Thema: »Welche

Leitbil-der dominieren die Sozialpolitik?« Stephan Lessenich (München) betonte, dass Leitbilder wie Aktivierung sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik von höchst unterschiedlichen Gruppen propagiert wurde und wer-de. Auch wenn die Motive unterschiedlich seien, stärke es insgesamt eine Agenda, die kritikwürdig sei. Laut Stefan Huster (Bochum) habe dieses Leit-bild jedoch dazu geführt, etablierte Routinen der Sozialpolitik in Frage zu stellen und nach der Wirksamkeit von Sozialleistungen zu fragen. Margarete Schuler-Harms (Hamburg) rückte die Bedeutung übergeordneter gesell-schaftlicher Leitbilder in den Vordergrund. Das über Jahrzehnte gewach-sene Familienbild würde nach wie vor auch die Sozialpolitik prägen; auch mögliche Richtungsentscheidungen über eine stärker sozialpolitisch orien-tierte Familienförderung seien davon beeinflusst.

Christoph Strünck

ESPAnet Workshop 2013

Die Sektion Sozialpolitik beteiligte sich außerdem am Doktorandenwork-shop der deutschen Sektion des European Social Policy Network (ESPA-net) am 14. und 15. November 2013 in Köln zum Thema »Privatisation and Marketisation of Social Services and Social Programmes«. Als Senior Researcher von der Sektion war Prof. Dr. Simone Leiber, FH Düsseldorf, aktiv an der Vorbereitung und als Kommentatorin beteiligt. An diesem dritten gemeinsamen Doktorandenworkshop stellten im Rahmen von ver-schiedenen thematischen Panels 14 DoktorandInnen ihre Arbeiten und Er-gebnisse vor.

Sektionsveranstaltung »Revival oder Rückzug? Der Sozialstaat in Krisen-zeiten« auf dem DGS-Kongress 2014 in Trier

Krisen und Sozialstaat stehen in einem vielschichtigen, spannungsreichen Verhältnis. Nicht zuletzt dem Sozialstaat kommt gemeinhin die Aufgabe zu, sowohl gegenwärtige Gefährdungen als auch Zukunftsunsicherheiten zu reduzieren. Insbesondere in Krisenzeiten wird er damit zum Adressaten von Sicherungserwartungen. Und zahlreiche Beispiele zeigen, dass es ihm tatsächlich gelingen kann, die sozialen Folgen von Krisen abzufedern – bei konjunkturellen Krisen, indem er etwa Sozialleistungen bereit hält, die vor

Verelendung schützen, die Kaufkraft stabilisieren oder Qualifikationen erhal-ten; bei strukturellen Krisen, indem er individuelle und kollektive Hand-lungsspiel- und -zeiträume eröffnet und so betroffenen Akteuren die erfor-derlichen strukturellen Anpassungsleistungen ermöglicht. Sozialpolitik kann und soll derartigen Krisen etwas entgegensetzen. So gesehen sind Krisen Be-währungsproben für den Sozialstaat.

Andererseits sind Krisen Umbruchphasen. Das gilt für den Sozialstaat als zentrales institutionelles Arrangement moderner Gesellschaften in beson-derer Weise. In Krisenzeiten geraten soziale Rechte, Sicherungssysteme und Sozialpolitiken diskursiv unter Druck. Zahlreiche Befunde belegen zwar, dass die rhetorische Infragestellung sozialstaatlicher Leistungen und In-stitutionen nicht zwangsläufig auch zu faktischem Sozialstaatsabbau im gro-ßen Stil führen muss. Jedoch ist unterhalb stabiler Sozialleistungsniveaus

»schleichender« Sozialabbau durchaus möglich: etwa durch die Neuaus-richtung von Umverteilungsmustern oder die Neujustierung von Finanzie-rungsanteilen zwischen sozialen Gruppen, durch die Verschärfung von Zu-gangsvoraussetzungen zu Sozialleistungen, durch den Abbau öffentlicher Beschäftigung oder – und in Krisenkontexten besonders bedeutsam – schlicht durch sozialpolitische Untätigkeit trotz massiven Problemanstiegs.

Damit sind institutionelle Krisen immer auch Phasen, in denen etablierte Re-distributionsregeln zur Diskussion stehen und geprüft wird, welche sozialen Beziehungen tragfähig, welche Formen von Solidarität möglich sind – kurz:

welche Wir-Gruppen-Konstruktionen sich als umverteilungsfest erweisen.

Analytisch betrachtet kann also Sozialpolitik abhängige oder unabhän-gige Variable oder in verkoppelten Fragestellungen beides sein. Abhänunabhän-gige Variable ist sie, sofern sie auf gesellschaftliche Ursachen wie zum Beispiel Krisen reagiert. Unabhängige Variable ist sie, wenn man sie als Ursache weitergehender gesellschaftlicher Entwicklungen begreift. Die drei Vorträ-ge in der Sektionsveranstaltung lassen sich gut in dieses Schema einordnen.

Patrick Sachweh (Frankfurt am Main) nahm mit seinem Vortrag die erst-genannte Perspektive ein, ging aber zugleich darüber hinaus. Im Zentrum seines Vortrages stand weniger die Frage, wie mittels Sozialpolitik auf die Krisenphänomene der letzten Jahre reagiert wurde, sondern darüber hinausgehend und international vergleichend die Frage, in welcher Weise diese Krisen und die sozialpolitischen Reaktionen darauf auf die Akzeptanz des Sozialstaates und auf die Unterstützungsbereitschaft der Leute durch-schlagen. Dabei untersuchte er gruppenspezifische Krisenbetroffenheiten und setzte diese in Beziehung zu gruppenspezifischen

Unterstützungsbe-reitschaften für den Sozialstaat. Im Ergebnis zeigt sich, dass die so ge-nannte Eigennutz-These den größten Erklärungswert für diese Unterstüt-zungsbereitschaft bietet: In Krisenzeiten steigt bei einigen sozialen Grup-pen der Bedarf an sozialstaatlichen Leistungen – und damit auch deren Unterstützung für den Sozialstaat. Vor allem in universalistisch geprägten Sozialstaaten steigt diese Unterstützungsbereitschaft auch dann, wenn nicht eigene Betroffenheit, sondern die sozial und persönlich nahestehen-der Akteure den Bedarf an sozialstaatlichen Leistungen erhöht (Unsicher-heitsthese). Hingegen lässt sich nicht zeigen, dass Krisenerfahrungen gene-rell in der Gesellschaft zu mehr Solidaritätsbereitschaft und steigender So-zialstaatsunterstützung führen (Empathiethese).

Im Vortrag von Andrea Hense (Bielefeld) erschien Sozialpolitik hingegen stärker als unabhängige Variable. Auf Basis einer Kombination von Theo-remen sozialer Produktionsfaktoren sowie feld- und habitustheoretischer Elemente und anhand von SOEP-Daten untersuchte sie den Einfluss so-zial- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen auf die subjektive Prekari-tätswahrnehmung. Dabei zeigt sich nicht nur, dass das institutionelle Set-ting sozialpolitischer Maßnahmen in Abhängigkeit von persönlichen Be-troffenheitserfahrungen einen wesentlichen Einfluss auf subjektive Prekari-tätsempfindungen hat. Hense konnte auch zeigen, dass die Zielrichtung so-zialpolitischer Reformen (Kommodifizierung oder Dekommodifizierung) entsprechende Auswirkungen auf diese Prekaritätswahrnehmungen hat.

Aus dieser Perspektive kann der Sozialstaat als Krisenmanager Impulse set-zen, die individuelle Prekaritätswahrnehmungen, letztlich also auch indivi-duelle Krisenerfahrungen, begünstigen oder abschwächen können.

Der Vortrag von Stefan Kutzner (Siegen) schließlich kann als Beispiel dienen für eine verkoppelte Fragestellung. Ausgehend von einer Charakte-risierung der frühen deutschen Rentenpolitik als fragmentiert macht Kutz-ner zunächst auf einige rentenpolitische Reformen aufmerksam, deren In-tention oder zumindest Effekt eine Universalisierung der Alterssicherung in Deutschland ist. Dem stehen jedoch in jüngster Zeit politische Maßnah-men gegenüber, die sich Kutzner zufolge als eine Re-FragMaßnah-mentierung des deutschen Alterssicherungssystems interpretieren lassen. Darüber hinaus zeigen einige basale inhaltsanalytische Analysen, dass den jüngsten Maß-nahmen, insbesondere der Einführung der so genannten Lebensleistungs-rente, ein paternalistisches Staatsverständnis zugrunde liegt, das bereits für die Einführung der Rentenversicherung unter Bismarck prägend war. Eine verkoppelte Fragestellung im oben verstandenen Sinne ist dies insofern,

weil Kutzner ausgehend vom demographischen Wandel als Herausforde-rung für den Sozialstaat Sozialpolitik zunächst als abhängige Variable kon-zeptualisiert, daran anschließend aber auch zeigt, inwieweit sich durch so-zialpolitische Anpassungsbemühungen ihrerseits auch gesellschaftliche Strukturen und Wechselbeziehungen wandeln.

Insgesamt präsentierten die drei Vortragenden (zwei weitere Referen-tinnen mussten ihre geplanten Vorträge leider absagen) sehr unterschiedli-che Sichtweisen auf das Verhältnis von Sozialstaat und Krise. Schon diese kleine Zahl an Beiträgen zeigt, dass die Frage nach sozialpolitischer Ent-wicklung unter Kriseneindruck weder mit einem Befund spürbaren Revi-vals noch mit dem Nachweis sozialstaatlichen Rückzugs eindeutig zu be-antworten ist. Vielmehr erweist sich jenseits von Auf- und Abbau der Um-bau des Sozialstaates in Krisenzeiten und in Reaktion auf Krisen als ein wiederkehrendes Muster.

Thilo Fehmel