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In memoriam Dieter Goetze

(29. Oktober 1942 – 27. August 2014)

Im August 2014 verstarb Dieter Goetze, emeritierter Professor für Sozio-logie an der Universität Regensburg. Dieter Goetze war jahrzehntelang prägendes Mitglied der Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthro-pologie, die er sowohl bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung als auch der Form der wissenschaftlichen Debatten und Diskurse maßgeblich beein-flusste. Er war bis 1983 Sektionssprecher, und es war seiner offenen, tole-ranten und ausgleichenden Persönlichkeit zu verdanken, dass in einer Zeit, in der die Beschäftigung mit der »Dritten Welt« und die Kritik an den Mo-dernisierungstheorien eine heftige Arena der Auseinandersetzung darstell-te, innerhalb der Sektion vor allem die systematische Konfrontation der

›großen‹ Theorien mit dem empirischen Material und die Forderung nach begrifflicher Präzision und nach empirischer Überprüfung die Diskussio-nen dominierte. Damit hat er, wie es sein Nachfolger Georg Elwert in der Funktion des Sektionssprechers in einem Rundbrief vom 15. August 1983 formuliert hat, ganz erheblich zur »Wiederbelebung der deutschen Ent-wicklungssoziologie« beigetragen. Seine breite disziplinäre Offenheit und sein Interesse an der Ethnologie aber auch an der sich auch innerhalb der Sektion (neu) positionierenden Frauen- und Geschlechterforschung spie-gelte sich nicht nur in seinen Arbeiten wider, sondern er brachte diese Per-spektiven völlig selbstverständlich in die Profession sowie entsprechende Institutionen ein. Seine Offenheit gegenüber unterschiedlichen methodi-schen und theoretimethodi-schen Ansätzen sowie seine unaufgeregte Art trugen ganz maßgeblich zur Förderung jüngerer Mitglieder und zur kontinuier-lichen Weiterentwicklung der Disziplin bei.

Dieter Goetze kam über ein ethnologisch, politologisch und soziolo-gisch ausgerichtetes Studium bei Professor Mühlmann in Heidelberg 1964 bis 1969 zur Soziologie, wo er promovierte. Er war Assistent in Augsburg von 1970 bis 1975, habilitierte und trat danach eine Professur für Sozio-logie an der Universität Regensburg an, die er bis zu seiner Emeritierung 2007 innehatte. Nicht zuletzt aufgrund seines familiären Hintergrundes (er wurde in Spanien geboren) beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit Spanien und Lateinamerika, vor allem mit Theorien und Ideologien zur sozio-kulturellen Integration sowie, der Rolle von Indigenismus und der katholischen Kirche als Teil dieser Prozesse. Sein breites soziologisches Wissen sowie sein immanentes Interesse an soziologischer

Theorieentwick-lung und seine methodologischen Überlegungen führten im Rahmen der Sektion immer wieder zu wichtigen Grundsatzdebatten.

So löste er in den Diskussionen zur Bedeutung des Ansatzes der »Stra-tegischen Gruppen« (Evers, Schiel 1988) eine Debatte zum methodologi-schen Rahmen aus und machte deutlich, dass eine akteurszentrierte Argu-mentation nicht der Rational Choice Theorie gleichzusetzen sein kann. Er verwies damit schon früh auf Akteursstrukturdynamiken, Akteurskonstel-lationen sowie die Relevanz von Raum- und Zeitparametern. 1993 schrieb er ein Positionspapier indem er eine Neuorientierung der Entwicklungs-soziologie forderte. Er begründete dies mit gesellschaftlichen Phänome-nen, die massiv »in die angenommene ›heile Welt‹ der kapitalistischen Industriegesellschaften einbrechen«. Damit kritisierte er explizit die Ten-denz der Entwicklungssoziologie, »sich von der allgemeinen soziologischen (Theorie-)Diskussion abzukoppeln«. In einem Diskussionsbeitrag bei der Frühjahrssektionssitzung 2004 bestand er auf einer stärkeren Berücksich-tigung von »Kultur«, als »soziale Tatsache« und schlug damit eine wichtige Brücke zur Sozialanthropologie. In seinem letzten Vortrag im Rahmen der Sektionstagung setzte er sich intensiv mit den Transformationen, Transi-tionen und OpTransi-tionen von ›Entwicklung‹ auseinander und plädierte wiederum für eine neue Orientierung der Entwicklungssoziologie, die stärker wechsel-seitige Bezüge zwischen Regionen integrieren müsse aber auch theoretische Prämissen mit einbeziehen sollte, die im Zuge der Auseinandersetzung mit Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen im Entstehen waren und diskutiert wurden.

Dieter Goetze hat grundlegende Bücher zur Entwicklungssoziologie geschrieben, die von Generationen von Studierenden und Lehrenden bis heute genutzt werden. Genannt seien an dieser Stelle: 1976 »Entwicklungs-soziologie«, 1984 »Ethnosoziologie« (zusammen mit Claus Mühlfeld), 1997

»Die ›Theoriekrise‹ der Entwicklungssoziologie – Gründe, Mißverständ-nisse und mögliche Neuansätze« sowie 2002 »Entwicklungssoziologie. Eine Einführung«.

Wir haben mit Dieter Goetze einen wichtigen und sehr geschätzten Kollegen verloren, einen Kollegen der durch seine Offenheit, seine Neu-gier aber vor allem auch durch seine angenehme Persönlichkeit für die Sek-tion von unschätzbarer Bedeutung war.

Petra Dannecker, Gudrun Lachenmann und Ulrike Schultz

In memoriam Bernd Hamm (5. August 1945 – 19. Juni 2015)

Am 19. Juni verstarb in Berlin Prof. Dr. Bernd Hamm nach schwerem Krebsleiden, das sich erst Anfang des Jahres bei diesem so vitalen, vor Ener-gie, Lebens- und Arbeitsfreude sprühenden Menschen gezeigt hatte.

Bernd Hamm wurde am 5. August 1945 im hessischen Groß-Gerau ge-boren. Er machte eine Lehre als Schriftsetzer, kam mit diesem Beruf in die Schweiz, holte in Abendkursen das Abitur nach und begann an der Universi-tät Bern Soziologie zu studieren. Hier war Peter Atteslander sein wichtigster Lehrer, Mentor, Freund. Atteslander förderte Kontakte zum Berner Stadt-planungsamt.

Mit der Veröffentlichung seiner Diplom-Arbeit, »Nachbarschaft – Ver-ständigung und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs«, 1973 in der renom-mierten Reihe »Bauwelt Fundamente«, begann Hamms Karriere als shooting star der Stadt- und Regionalsoziologie. Diese war damals in einer stürmischen Entwicklungsphase, erkennbar auch daran, dass ab dem Sommer-Semester 1971 am soziologischen Lehrstuhl von Manfred Teschner der TH Darm-stadt die 1975 offiziell gegründete Sektion Stadt- und Regionalsoziologie in der DGS ihre Arbeit aufnahm. An ihren Sitzungen, ab 1972 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, nahm Hamm regelmäßig teil.

1974 gab er, zusammen mit Peter Atteslander, in der damals so wichtigen

»Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek« einen umfangreichen Reader heraus:

»Materialien zur Siedlungssoziologie«. In der Einleitung werden »Grundzüge einer Siedlungssoziologie« formuliert. »Wir wissen relativ wenig über die Be-ziehung zwischen Raumgestalt und Sozialverhalten«. Dieser Band hat noch heute seinen Stellenwert. Wären die Beiträge besser bekannt, zum Beispiel die Sozialraumanalyse von Eshref Shevky und Wendell Bell, die Konzepte zur Ökologie und Sozialökologie oder von Robert K. Merton die Abhand-lung zur Sozialpsychologie des Wohnens, würden einige Arbeiten nicht mit dem Anspruch auf neue Erkenntnisse aufwarten können.

Es mag angemessen sein oder nicht: am bekanntesten wurde von Bernd Hamm seine 1977 veröffentlichte Arbeit »Die Organisation der städtischen Umwelt. Ein Beitrag zur sozialökologischen Theorie der Stadt«. Zusammen mit einer im gleichen Jahr von Jürgen Friedrichs vorlegten Arbeit zur Chica-goer Schule wurde damit eine der ersten systematischen soziologischen Theorien zur Stadt in ihren Grundzügen vorgestellt und am Beispiel der Stadt Bern empirisch überprüft. Diese Arbeit war 1975 von Professor Attes-lander als Dissertation angenommen worden.

Im Jahr 1977 wurde Bernd Hamm auf eine Professur für Stadt- und Regio-nalsoziologie an die Universität Trier berufen. Hier begann eine umfang-reiche Lehr- und Forschungstätigkeit, mit vielen internationalen Kontakten und Gast-Professuren in fünf Ländern, darunter Kanada, Wien und Nijm-wegen. 1982 erschien als Becksches Elementarbuch Hamms »Einführung in die Siedlungssoziologie«. Sie schließt an die Einleitung im genannten Rea-der an, greift aber auch neue Aspekte auf, zum Beispiel die »räumliche Se-miotik«. Zu diesem Forschungsgebiet entstanden einige Arbeiten, die noch heute ihren Stellenwert haben. Sie wurden in der von Hamm gegründeten Reihe »Trierer Beiträge zur Stadt- und Regionalplanung« veröffentlicht.

Bernd Hamm wandte sich ab Ende der 1980er Jahre mit großer Energie den Themen der Ökologie und den Folgen einer nur ökonomisch moti-vierten Globalisierung zu, und dies in einer europäischen und globalen Per-spektive. Ein erstes Ergebnis waren die Bände zur »Struktur moderner Ge-sellschaften« und »Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie« (zusammen mit Ingo Neumann). Der Untertitel lautet: »Ökologische Soziologie«. Es war schmerzlich für ihn, dass die Fachwelt und weitere Öffentlichkeit diese Ar-beiten nicht enthusiastisch begrüßten und sich der Begriff »ökologische So-ziologie« nicht durchsetzen konnte.

Stolz war er auf zwei kurzfristig eingenommene Professuren: die Jean-Monnet-Professur für europäische Studien der Europäischen Gemeinschaften (1992) und die erste deutsche »UNESCO-Professur für Europa und in glo-baler Perspektive«. Diese Themen entsprachen seinem wissenschaftlichen Impetus und Ethos; sie waren der Anlass zur Gründung des »Zentrums für Europäische Studien an der Universität Trier«, das er von 1993 bis 2005 leitete.

Von den zahlreichen weiteren Veröffentlichungen seien nur noch zwei hervorgehoben: »Die soziale Struktur der Globalisierung« (2006) und, als letzte Monographie, die 455 Seiten umfassende Arbeit »Umweltkatastro-phen« (2011). 595 Anmerkungen und Literaturhinweise erschließen ein Ge-biet, das für Hamm nicht hinreichend in das Zentrum der Soziologie gerückt war. So spielten Enttäuschung und Resignation mit, als er vorzeitig, im Jahr 2008, aber auch aus Protest gegen die Master-Bachelor-Reform, in den Ruhestand ging und nach Berlin zog. Unvergessen bleibt, wie Johan Galtung auf der Abschiedsveranstaltung, am 27. Juni 2008, in der voll besetzten Aula der Universität Trier eine Summe seines Wirkens zog. Sein Engagement bei Attac, in der Lokalen Agenda 21 in Trier und bis zuletzt in Berlin-Grünau für eine verträgliche Energiewirtschaft und lebenswerte Umwelt gehörten zu seinem Verständnis von engagierter Wissenschaft.

Um vieles hatte sich Bernd Hamm Verdienste erworben, nicht zuletzt durch die Intensivierung der deutsch-deutschen und der deutsch-polni-schen Kontakte in der Stadtsoziologie seit den 1980er Jahren. Hierfür verlieh ihm die Universität Katowice 1995 den Ehrendoktor. Von 1983 bis 1995 war Hamm Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission und Vorsitzender des Fachausschusses Sozialwissenschaften – ein »Amt«, das in den 1950er Jahren René König als erster innehatte.

Nur wenige Wochen vor seinem Tod schrieb er mir in einer Briefmail:

»Zur großen Enttäuschung meiner wissenschaftlichen Arbeit ist geworden, was vor nun beinahe 20 Jahren Aufbruch hatte sein wollen, Herausforderung an die community«. Er habe sich darüber geärgert, dass »die Soziologie vor ihrem Gegenstand flieht, der besseren Gesellschaft«.

Von vielen Ehrungen und Mitgliedschaften sei nur diese erwähnt: Seit 1986 war Hamm im Bundesverband Bildender Künstler. Seine Zeichnungen, Grafiken, Siebdrucke und Fotografien, die bis in die 1960er Jahre zurück-gehen, wurden auf mehreren Ausstellungen gezeigt.

Ein hoch Begabter und hoch Motivierter, der seine Studierenden, nicht zuletzt wegen seines Engagements für eine bessere Welt, begeistern konnte, ist von uns gegangen.

Bernhard Schäfers

In memoriam Arno Klönne (4. Mai 1931 – 4. Juni 2015)

Der Soziologe, Politikwissenschaftler und Historiker Arno Klönne wurde am 4. Mai 1931 in Bochum geboren. Er wuchs in Paderborn auf und stu-dierte nach dem Abitur in Marburg und Köln Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Promoviert wurde er im Jahre 1955 bei Wolfgang Abendroth mit einer jugendsoziologischen Studie über die Hitlerjugend und ihre Gegner. Arno Klönne hatte bereits als Heranwachsender, während des Zweiten Weltkriegs, erste Verbindungen zur katholischen Jugendbewe-gung; in Paderborn gründete er selbst eine Jugendgruppe, die den Namen

»Jungenschaft Paderborn«, später »dj.1.11 paderborn« trug. Beruflich war er zunächst als Landesjugendpfleger in Wiesbaden tätig und wurde dann wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster. Von 1978 bis 1995 war er Professor für Soziologie an der Uni-versität Paderborn. Er trat nicht nur durch eine Vielzahl von Publikationen hervor, darunter Standardwerke zur Geschichte der Hitlerjugend und eine in mehreren Auflagen erschienene Sozialkunde der Bundesrepublik, son-dern auch durch vielfältiges politisches und gesellschaftliches Engagement.

So gehörte er beispielweise zu den Herausgebern der Zeitschrift »pläne«, 1961 auch zu den Mitgründern des gleichnamigen Schallplattenlabels und des Verlags. In den 1960er Jahren war er einer der Sprecher der Oster-marschbewegung. Noch im April des Jahres 2015 sprach er bei einer Ostermarschveranstaltung und engagierte sich bis kurz vor seinem Tod am 4. Juni 2015 in dem von ihm initiierten »Linken Forum Paderborn«.

Jugendbewegt geprägt »gegen den Strom der Zeit …«

Unter Soziologen und auch Vertretern anderer Wissenschaftsdisziplinen war und ist es noch immer nicht selbstverständlich, die Person des Forschenden in irgendeiner Weise hinter ihren Forschungen sichtbar werden zu lassen.

Der Satz: »De nobis ipsis silemus« trifft in mancher Hinsicht, aber doch nur mit Einschränkungen für Arno Klönne zu. Für ihn gilt die nicht zuletzt unter Soziologen verbreitete Devise »Von uns selber schweigen wir« nur insofern, als er stets sehr zurückhaltend war, wenn es darum ging, über Familie und Freunde zu sprechen. Zu seinen prägenden Erfahrungen in der Jugendbewe-gung jedoch hat Arno Klönne immer wieder Stellung genommen. So teilte er im Jahre 2011, wenige Wochen nach seinem achtzigsten Geburtstag, in

einem maschinenschriftlichen autobiographischen Text mit, er empfinde es

»als lebenslänglich wirksamen Glücksfall«, die Jugendbewegung »erlebt« zu haben; wörtlich fügte Klönne hinzu: »Weiß der Himmel, welch ein wohlan-gesehener Ordinarius mit Bundesverdienstkreuz oder auch ministrabler Poli-tiker sonst aus mir geworden wäre.«

Dass er bis zu seinem Tode 2015 ein unangepasster Intellektueller war, der sich engagierte, aber nicht vereinnahmen ließ, wurde nicht zuletzt in ausführlichen Äußerungen Klönnes während eines Podiumsgesprächs aus Anlass seines 75sten Geburtstages deutlich. Die Metapher »gegen den Strom«, mit der Klönne 2006 seine erzählten Erfahrungen auf den Punkt brachte und mit der er lange zuvor – 1957 bereits – einen Bericht über Ju-gendwiderstand im Dritten Reich überschrieben hatte, stellt gleichsam die Klammer zwischen seinen persönlichen Erfahrungen und aus diesen er-wachsenen Lebensprägungen sowie Selbstdeutungen dar.

Arno Klönne gehört zu jener um 1930 geborenen »Kerngruppe der

›skeptischen Generation‹«, die ideologische Verengungen sowie Vereinnah-mungen, von welchen Gruppen und Interessen auch immer, stets ablehn-ten. Wie er das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, hat er wiederholt beschrieben. Der von Faschismus und Krieg wesentlich mitbe-stimmte generationelle Zeithorizont sei, wie Klönne mehrfach betont hat, für ihn ebenso prägend gewesen wie spezifische Erfahrungen in der katho-lischen Jugendbewegung in den Kriegsjahren und auch nach 1945. Bereits 1951, also im Alter von 20 Jahren, hat er in dem auflagenstarken Spur-buch-Verlag unter dem Titel »Fahrt ohne Ende« solche Erfahrungen, die durchaus exemplarisch für katholische Jungen seiner Altersgruppe gewesen sein dürften, einem breiteren jugendlichen Publikum vermittelt. Im Vor-wort dieser »Geschichte einer Jungenschaft« spricht Klönne von »wir« und bringt bereits einige Stichworte ins Spiel, die retrospektiv und aus der Dis-tanz betrachtet, fast schon programmatisch für seinen Lebensentwurf zu sein scheinen. Da ist die Rede von einer »illegalen Jungenschaftshorte«, deren Mitglieder zwar nicht politisch opponieren, sich aber ihres abwei-chenden Verhaltens und der Gefahren bewusst sind, denen sie unter den Bedingungen der Diktatur und des Krieges ausgesetzt sind.

Lebensgeschichtliche und berufsbiographische Kontingenzen

Unter den sich entwickelnden Interessen und Perspektiven, also Faktoren, die für Klönne »zusammenkamen«, sind weitere zu nennen: das bildungs-bürgerliche Elternhaus beispielsweise, in dem es auch nach 1933 anregende Literatur gab, als diese aus öffentlichen Bibliotheken bereits entfernt worden war, unter anderem des sozialistisch-pazifistischen Schriftstellers Leonhard Frank; auch jugendbewegt-katholische Zeitschriften der Zwischenkriegs-zeit gehörten dazu. Begegnungen mit facettenreichen jugendkulturellen Milieus nach 1945 sind ebenfalls anzuführen: Als »Leitpersonen« nannte er beispielsweise den Linkskatholiken Walter Dirks oder den jugendbewegten Enno Narten. Bei letzterem habe ihn besonders beeindruckt, dass er

»Fragen der Zeit« angesprochen habe, zum Beispiel »dass soziale Gerech-tigkeit erreicht, die Gefahr neuer Kriege ausgeräumt werden müsse«.

Dass Klönne bei Wolfgang Abendroth, selbst unangepasst und im wei-testen Sinne jugendbewegt und »widerständig«, promoviert hat, gehört zweifellos ebenfalls zu den Kontingenzen seiner Biographie. Seit seiner 1955 erschienenen Dissertation über »Jugend im Dritten Reich« hat Klönne in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen nicht zuletzt »bündische Um-triebe«, jugendliches nonkonformes Verhalten, Widerständigkeit im engeren Sinne und andererseits unauffällige Anpassung sowie auch überzeugtes akti-ves »Mitmachen« im Dienste des Regimes untersucht. Seine Publikationen zur Jugendbewegung und zu subkulturellen Jugendmilieus sind kaum zu zählen; viele sind ausdrücklich an ein breiteres, nicht selten auch an ein ju-gendliches Publikum gerichtet, dem er an historischen Beispielen nicht zu-letzt zu vermitteln versuchte, sich »antizyklisch« zu verhalten.

Ein »Skeptiker« und »Mittler« zwischen Milieus und Generationen

Vom Geburtsjahrgang her gehört Klönne zu einer Altersgruppe, die den Faschismus bewusst erlebt hatte und deshalb – so jedenfalls Schelsky – mehrheitlich nicht nur eine tiefe Abneigung gegen Ideologien, sondern auch gegen politisches Engagement jedweder Art hegte. Arno Klönnes be-rufliches und politisches Wirken jedoch belegt, dass die um 1930 Gebo-renen keineswegs so unpolitisch waren, wie Schelsky annahm. Um ein Bei-spiel zu geben: Klönne engagierte sich wie manch andere Angehörige der skeptischen Generation auch aus politischen Gründen »gegen jede neue

Militarisierung«. »Es lag darin« so Franz-Werner Kersting 2002 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, »nicht nur die aus Erfahrung her-kommende und vernünftige Furcht vor einem neuen Krieg, sondern eben-so sehr die Opposition gegen militärische Machtstrategien und der Zorn auf den Kasernenhofgeist jeder Art«.

Klönne hatte Schelsky bereits in den 1950er Jahren kritisiert und dessen Thesen »die Vision einer demokratisch engagierten Jugend entgegenge-setzt«. Wie ist diese Kritik damit in Einklang zu bringen, dass Klönne eini-ge Jahre Schelskys Assistent eini-gewesen ist? Schelsky, so Klönne, sei sehr to-lerant gewesen, wie auch Dieter Claessens bestätigt hat. Mit letzterem – auch das sei erwähnt – hat Klönne 1965 eine »Sozialkunde der Bundesre-publik« herausgebracht, die weite Verbreitung fand. Es wäre schön gewe-sen, Klönne noch nach Schulen-Bildungen in der Soziologie und seiner Selbstverortung in der Soziologen-Zunft zu befragen. Antworten auf diese und weitere Fragen werden nun nur noch auf der Grundlage seiner im-mens umfangreichen Publikationen, Stellungnahmen und Interviews zu finden und vielleicht später einmal Teil einer wissenschaftlichen Biographie über Klönnes Lebensleistungen sein.

Viele Menschen, die Arno Klönne verbunden waren, werden sich wohl in den kommenden Monaten und Jahren an Begegnungen mit ihm als Freund, akademischen Lehrer, anregenden Gesprächspartner und kriti-schen Zeit-Beobachter erinnern. Sie werden an Ereignisse und Anlässe denken, bei denen sich Arno Klönne einmischte, meist nachdenklich und nicht selten auch provozierend, dabei in Diskussionen konzentriert und freundlich dem fragenden Publikum zugewandt, intensiv bei diversen Ver-anstaltungen und Projekten sowie Publikationen beratend, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Und eine ganze Reihe derjenigen, die Arno Klönne begegnet sind, wird ihn wohl auch als »Mittler« zwischen Angehö-rigen unterschiedlicher jugendkultureller Milieus und sozialer Bewegungen und den in diesen sich auf unterschiedliche Weise engagierenden Erfah-rungs-Generationen erlebt haben.

Im Rückblick auf die »bewegte Jugend« im 20. Jahrhundert betonte Klönne wiederholt: Sofern die historische Jugendbewegung »gegen den Strom« schwamm, habe sie Heranwachsenden auf der Suche nach tragfähi-gen Lebensentwürfen sinnvolle Erprobungsmöglichkeiten geboten. Die Ju-gendbewegung hat aus seiner Sicht zwar nach 1945 für seine eigene Alters-gruppe und noch für eine Reihe rund zehn Jahre jüngerer eine auch indivi-duell lebensgeschichtlich bedeutsame Blütezeit erlebt. Sie gehöre jedoch als

historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts weitgehend der Vergangen-heit an. In dieser Deutung war er wieder – wie bereits angesprochen –Zeit-zeuge und Soziologe bzw. Historiker zugleich. Einen so engen Zusammen-hang zwischen Forschung und Leben, eigenen Erfahrungen und professio-nellem Zugang zu dem Themenfeld »Jugendbewegung«, wie sie im Lebens-werk Arno Klönnes sichtbar ist, wird es, das lässt sich wohl mit einiger Ge-wissheit sagen, künftig nicht mehr geben.

Barbara Stambolis

Habilitationen

Dr. Johannes Stauder hat sich am 24. April 2015 an der Universität Heidel-berg habilitiert. Die Habilitationsschrift trägt den Titel »Opportunitäten und

Dr. Johannes Stauder hat sich am 24. April 2015 an der Universität Heidel-berg habilitiert. Die Habilitationsschrift trägt den Titel »Opportunitäten und