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Schlussfolgerungen und historischer Ausblick

Telekinese und Emotion: Schock und Suspense

Versteht man Trauer als eine Einstellung zu Zeit und Vergänglichkeit, die den

„Sachverhalt des Verlustes […] in seiner ganzen Brutalität oder Grausamkeit“

akzeptiert,109 dann beschreibt De Palma den Schlusseffekt des Films sehr präzise als Umschlagen von einem Zeitverhältnis ins andere sowie als Umschlagen von Aktivität in Passivität, das sich mit diesem Schock verbindet. Die letzte Szene stellt einen Akt des Abschiednehmens dar – nur, um dann im letzten Augenblick zu bekräftigen, dass es nicht nur niemals einen Abschied geben wird, sondern dass die Zuschauer es sind, die nicht losgelassen werden (Abb. 20–21).

107 Vgl. Lagier: Les mille yeux de Brian De Palma, S. 85.

108 De Palma, zit. nach Brown: Considering De Palma, S. 61.

109 Ludwig Binswanger: Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien. Pfullingen 1960, S. 124. Vgl. auch die Ausführungen zur Melancholie im 4. Kapitel.

Abb. 20–21: Das Fließen der Tränen und das Zerreißen der Ordnung.

Abb. 21

In dieser letzten Szene konzentriert sich noch einmal die Dramaturgie des Sus-pense, wie Carrie sie durchgehend gestaltet. Ich möchte in einem letzten argu-mentativen Schritt versuchen, sie als Durchlaufen eines konkreten affektiven Erlebens nachzuvollziehen. Gleichzeitig sollen in diesen Nachvollzug die im Verlauf dieses Kapitels angesammelten Erkenntnisse einfließen, so dass wir zu einem Fazit gelangen können. Den Horizont dieser Erkenntnisse möchte ich durch einige Bemerkungen Maurice Merleau-Pontys zur Gestaltwahrnehmung

abstecken, die sich hervorragend auf die Szene übertragen lassen. Merleau-Ponty schreibt (im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Empfindung und Sinn):

Ich gehe am Strand auf ein am Ufer gescheitertes Schiff zu, der Schornstein oder Mast des Schiffes verfließt mit den Zweigen und Stämmen eines Gehölzes am Rande der Dünen;

plötzlich aber verbindet er sich aufs deutlichste mit dem Schiff und verwächst mit ihm zu einem Ganzen. Während ich mich näherte, wurde ich der Ähnlichkeits- und Nähebeziehun-gen nicht gewahr, die schließlich ein zusammenhänNähebeziehun-gendes Bild der Aufbauten des Schiffes ergeben hätten. Ich fühlte nur, daß der Anblick der Dinge plötzlich sich wandeln würde, die Spannung auf etwas, das bevorstand, sich anzeigend wie ein Gewitter in den Wolken.

Und plötzlich wandelte sich denn auch die Sicht, meine unbestimmten Erwartungen recht-fertigend. Und nachträglich erkenne ich auch den „Grund“ der Verwandlung des Bildes in der Ähnlichkeit und Kontiguität dessen, was „Reiz“ heißt – d. h. auf kurzen Abstand begeg-nende bestimmteste Phänomene, aus denen ich meine „wahre“ Welt aufbaue. […] Doch diese Gründe richtiger Wahrnehmung waren der richtigen Wahrnehmung selbst zuvor nicht als Gründe gegeben. Die Einheit eines Gegenstands gründet sich auf ein Vorgefühl einer bevorstehenden Synthesis, die mit einem Schlage auf zuvor in der Umgebung nur latent sich stellende Fragen die Antwort gibt und ein Problem auflöst, das sich nur stellte in Form einer bestimmten Unruhe; sie fügt Elemente zusammen, die zuvor sozusagen nicht ein und derselben Welt zugehörten und darum […] der Assoziation nicht fähig waren. Indem sie sie endlich zu allererst auf ein und denselben Boden stellt – den des einen Gegenstandes –, ermöglicht die Synopsis erst Kontiguität und Ähnlichkeit zwischen ihnen […].110

Merleau-Ponty illustriert hier, wie sich eine Gestalt im Zusammenspiel mit der Wahrnehmungsaktivität eines Betrachters konstituiert. Ein wesentlicher Punkt in dieser Illustration ist für unseren Zusammenhang das Element der Unruhe, welches nach Merleau-Ponty am Beginn dieses Prozesses steht. Er beschreibt es als das Gefühl einer nicht eindeutig zu lokalisierenden Spannung, die auf etwas Bevorstehendes hin ausgerichtet ist – die also sowohl die räumliche als auch die zeitliche Dimension betrifft. Dieser Unruhe ist es eigen, dass sie sich erst retro-spektiv auf klar definierte Gründe zurückführen lässt, eben weil diese Gründe sich auf das Ganze des in der Zeit ablaufenden Vorgangs beziehen. Der Boden des einen Gegenstands, von dem Merleau-Ponty spricht, ist der Prozess der Verände-rung selbst. Ins Bewusstsein rückt dieser Prozess der VerändeVerände-rung (die Dauer) genau in dem Maße, in dem die aufgebaute Spannung zugleich ihrem Höhepunkt und – im Suspense – ihrem Umschlagen zustrebt.

Die Struktur des Bildes zu Beginn der Szene ist in diesem Sinne, mit Mer-leau-Ponty gesprochen, als eine latent sich stellende Frage zu verstehen, oder,

110 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 36–37.

um es mit Peretz zu formulieren, als Form der Adressierung des Zuschauers,111 welche eine spezifische Art und Weise der Wahrnehmung provoziert. Eben dies ist gemeint, wenn Bonitzer davon spricht, der Fleck oder der Makel rufe den Blick erst hervor („the gaze, itself evoked by a third element, a perverse object or a stain“).112 Hier finden wir das formale Äquivalent für das, was die kognitiven Theorien in der Beziehung des Zuschauers zur filmischen Figur suchen: Es ist eben diese Struktur des Bildes als Frage, seine temporale Instabilität, welche uns berechtigt, ein Engagement des Zuschauers zu konstatieren.

Sierek spricht in diesem Zusammenhang davon, das Auge des Zuschauers niste sich in den Leerstellen des Bildes ein: „Spannung stellt sich in diesem klaffenden und brüchigen ‚Dazwischen‘ ein. Den Raum zwischen zwei Punkten dehnt sie aus und entleert ihn, statt ihn zu verdichten. Spannung ist extensiv und nicht intensiv. Erst nach diesem Entleeren füllt sie die Lücken mit dem Betrach-terkörper, saugt ihn in dieses Vakuum […].“113 Eben dies ist die Funktion der Zeit-lupe wie auch des langsamen Wellenschlagens in der Musik. Damit erklärt sich, weshalb die von Merleau-Ponty beschriebene Unruhe nicht eindeutig lokalisier-bar ist: Sie breitet sich gerade in bezug auf das Ganze aus und betrifft keine klar definierbaren Intensitäten. Diese Unbestimmtheit ist nicht einfach das Fehlen einer klar zuweisbaren Lokalisierung: „Wir müssen uns entschließen, die Unbe-stimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen. Nur im Bereich dieses Phä-nomens begegnen uns Qualitäten. Der Sinn, den eine jede Qualität beschließt, ist ein äquivoker, ist mehr ein Ausdruckswert als eine logische Bedeutung.“114 Im Falle der Spannung handelt es sich um die Qualität einer sich über den Raum und die Zeit ausbreitenden Unruhe. Dabei handelt es sich nicht um eine ‚reine‘

Empfindung, sondern immer schon um einen sinnvollen Zusammenhang.115 Und es ist eben der Moment, in dem sich die Unruhe auf eine klar definierbare Inten-sität fokussiert, der Moment des Schocks, an dem der Suspense umschlägt: „Die Emotion bedeutet jedesmal, so Daney, ‚das Kippen von einem Register in ein anderes‘.“116

Damit kommen wir nochmals zurück auf die Frage, wie Telekinese und Sus-pense, bzw. Suspense und Emotion miteinander zusammenhängen. Bei Brown findet sich eine Paraphrase von De Palmas Haltung zu dieser Frage:

111 Peretz: Becoming visionary, S. 26.

112 Bonitzer: Hitchcockian Suspense, S. 28.

113 Sierek: Spannung und Körperbild, S. 117.

114 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 25.

115 „Stets entdeckt die Analyse von Qualitäten ihnen innewohnende Bedeutungen.“ Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 23.

116 Bellour: Das Entfalten der Emotionen, S. 73.

The telekinesis […] is just an extension of Carrieʼs own adolescent emotionality, basically.

It has no good or evil attached to it; it’s just an extension of her subconscious desires. And, unfortunately, it’s used in a kind of very emotional sense. She has no control over it; it just sort of erupts.117

Mit Blick auf die letzte Szene und den Schockeffekt des aus den Steinen hervorbre-chenden Arms interessiert mich hier besonders diese Idee des Hervorbrechens.118 Wie ist dieser Schockeffekt in der letzten Szene beschaffen, diese gewisser-maßen negative „Synthesis, die mit einem Schlage auf zuvor in der Umgebung nur latent sich stellende Fragen die Antwort gibt?“ Nimmt man De Palmas Vor-schlag ernst, dann ist es die Emotion selbst, restlos in Handlung übersetzt, die wie eine seismische Erschütterung die Konfiguration der Welt erschüttert und sie in einem neuen Licht erscheinen lässt.119 Die E-motion, als Bewegung, die nach außen führt, stellt notwendig – und zwar nicht nur für die Figur, sondern vor allem auch für den Zuschauer – die Frage nach der Möglichkeit von Kontrolle, bespielt sie doch stets die Grenze zwischen Aktivität und Passivität.120 Folgt man Merleau-Pontys Beschreibung, dann gründet sich der Schock, durch den die alte Ordnung in eine neue Ordnung überführt wird, auf das Gefühl des Zuschauers,

„dass der Anblick der Dinge plötzlich sich wandeln würde“ – er kommt also kei-neswegs aus dem Nichts. Das „Hervorbrechen“ der Emotion stellt sich in dieser Sichtweise dar als Umschlagpunkt eines Balance-Aktes. In diesem Sinne spricht Royal Brown bezüglich der Inszenierung von Carrie von einem Gewahrsein dafür, dass der tiefste Eindruck beim Zuschauer nicht durch den plötzlichen Aus-bruch unvorbereiteter Gewalt erreicht werde, sondern durch (wie extrem auch immer) modulierte Variationen, die alle demselben Gewebe entstammen.121 Um

117 Brown: Considering De Palma, S. 58–59.

118 Es ist mir bewusst, dass Telekinese auf der Ebene der Handlung hier strenggenommen keine Rolle spielt. Es geht mir hier jedoch um ein spezifisches Prinzip der Komposition von Bewegung.

119 „Our deepest emotional experiences intervolve changes in our identities and changes in the patterns of our perceptions. They are usually accompanied by realizations that we are perceiving the world or our selves in a new or different ‚light‘.“ Sue Cataldi: Emotion, Depth, and Flesh. A Study of sensitive Space. Reflections on Merleau-Ponty’s Philosophy of Embodiment. New York 1993, S. 151.

120 Vgl. etwa Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 13.

121 Brown: Considering De Palma, S. 55. Brown führt aus, dass der Film selbst das dramatur-gische Muster, welches hier Anwendung findet, bereits mehr als deutlich vorgeführt hat: „De Palma fits Carrie’s finale into the film very much the same way a composer would close a mu-sical composition, by reusing a ‚progression‘ that has been solidly established within the artistic structure. Each of the film’s three climactic scenes – the locker room scene leading up to Carrie’s first menstruation; the sequence where Carrie and Tommy Ross are crowned queen and king of

es mit einer Formulierung vom Beginn dieses Kapitels zu sagen: Die Diskontinui-tät bleibt immer auf die KontinuiDiskontinui-tät bezogen.

Bill Schaffer beschreibt die emotionale Erfahrung des Suspense (am Bei-spiel von Psycho) als ein zeitliches und körperliches Hin- und Hergerissensein, in dem sich die Lenkung des Zuschauerblicks durch die Bewegung der Kamera als der Zwang manifestiert, sich dem eigenen Affekt als einem unausweichli-chen Schicksal stellen zu müssen122 – ganz in dem Sinne des von Merleau-Ponty beschriebenen Vorgefühls:

Suspense plays on the helplessness of my point of view; I am being rushed towards thoughts that are not my own. At the narrative level in suspense I am too early – I must wait to see what happens – but in terms of the privacy of my perception I am too late from moment to moment. I can do no better than meet the fate of my affect. […] The organ the director plays upon is the organ of my lateness.123

Die Verstörung der Subjektposition, die Schaffer beschreibt, besteht letztlich darin, den Affekt als das Eigene zu erkennen, als das, von dem sich der Zuschauer nicht lossagen kann, weil es in seinem eigenen Fühlen Evidenz gewinnt. Damit fasst Schaffer die Gefühlsdimension des Suspense in letzter Konsequenz als eine Transformation des leiblichen Selbstbezugs:

What I really hope/fear may emerge, at any instant whatever, is an image of my own secret body, an image of my fate, the body that is seen by time but does not appear in space: the virtual body which expresses me as pure possibility. […] The question which plagues me as I put myself in Hitchcock’s hands is finally not just „what will happen next?“, but „what will I have become?“.124

the senior prom and then doused in pig’s blood; and the concluding sequence – are all shot in slow motion. So by the time the third sequence of slow-motion lyricism begins, the audience is well acquainted with the inevitable modulation to blood, whether menstrual, pig or, ultimately, the blood of death.“ Ebd. Browns Formulierung vom Gewebe verweist voraus auf Deleuze, dem zufolge Hitchcock sich in seiner Bildkonzeption nicht auf Malerei oder Theater bezieht, sondern auf die Weberei. Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 268.

122 Schaffer bezieht sich auf den Moment des Überschreitens einer Blickschranke in der Ein-gangsszene von Psycho – ein Vorgang, der das Spiel von Kontinuität und Diskontinuität par excellence vorführt, indem die den Raum unterteilende Sichtblende der Mise en Scène (der Fens-terrahmen und die Jalousie) in einer kontinuierlichen Kamerabewegung durchschritten wird (eben dieses Bewegungsmuster wird im Titel des Aufsatzes angesprochen: Cutting the Flow). Bill Schaffer: Cutting the Flow: Thinking Psycho. In: Senses of Cinema (2000), Nr. 6. Quelle: http://

www.sensesofcinema.com/2000/6/psycho/, Zugriff am 15.05.2016.

123 Schaffer, ebd.

124 Schaffer, ebd.

Das sogenannte Paradox des Suspense, in den kognitiven Theorien meist herun-tergebrochen auf die unterkomplexe Dichotomie von Wissen versus Nichtwissen, erweist sich so als eine Frage der leiblichen Wahrnehmungserfahrung, die sich bei jedem Sehen aufs Neue herstellt und niemals vollständig auf eine frühere Erfahrung rückführbar ist:

What remains indeterminate even when the narrative outcome is certain, what may have changed in the interim since my first viewing and which may now be ready to reveal hitherto unknown dimensions, is not something in the film itself considered as an object kept at a distance, it is the film in me, as it lives in me. Ultimately, it is myself.125

Wenn Suspense als eine Form filmischen Denkens Reflexivität als leiblich-affek-tive Erfahrung des Zuschauers gestaltet, dann zielt dieses Denken darauf ab, die Integrität der Position dieses Zuschauers nachdrücklich in Frage zu stellen. Die Aufspaltung des Zuschauers meint in dieser Perspektive nichts anderes als seine Einbeziehung in einen Prozess, der ihn unweigerlich mit seinen eigenen emoti-onalen Reaktionen als demjenigen konfrontieren wird, was sich seiner Kontrolle entzieht. Diese Dimension des Unbekannten im Eigenen ist es, die mit dem Schock aktualisiert wird. Doch operiert das Prinzip des Schocks nicht beliebig; was auf dem Spiel steht, ist letztlich die Frage der Balance.126 Suspense als Schwebezu-stand betrifft in einem sehr direkten und wörtlichen Sinn das Gleichgewichts-empfinden des Zuschauers (man denke an Morris’ Herleitung des Begriffs aus dem Wiegevorgang), sein Empfinden für Proportion und Rhythmus – mit all den diskutierten Implikationen für das komplexe Verhältnis der Zeitlichkeiten zuei-nander. Selbst die Verweigerung kontrollierenden Zugriffs in der Zerstörungsse-quenz steht nicht außerhalb des Netzes der Relationen, aus denen sich die Dra-maturgie des Suspense konstituiert. Vielmehr hat sie in ihrer konkreten Dauer ihren wohlberechneten Platz in der Folge von Anspannung und Entspannung, die Carrie quasi-musikalisch strukturiert. Das Gleichgewicht, das in der Dauer des Films als ein Bild entsteht, ist dabei ein höchst labiles – so ist es ja das offen-sichtliche Ziel der letzten Szene, dem Zuschauer ein letztes Mal den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

125 Schaffer, ebd.

126 Zum Zusammenhang von Suspense, Schock und Gleichgewicht vgl. auch André Bazin: Ein bergsonianischer Film. Le Mystère Picasso [1956]. In: ders.: Was ist Film?, hg. von Robert Fi-scher. Berlin 2004, S. 231–241.

Suspense im New Hollywood: Subversion der Genres

Carrie ist nicht der einzige Film im New Hollywood, der sich daran versucht, den Zuschauer in der Schwebe zu halten. Tatsächlich lässt sich anhand der dis-kutierten Kriterien des Suspense-Modus – Herstellen von Relationen, Verschrän-kung der Zeit/Aufspaltung der Perspektiven und Umkehrung der Ordnung – ein kleines Panorama der relevanten Filme auffalten. Diese Kriterien werden nun zu Einsatzpunkten der Weiterentwicklungen, durch welche sich der spezifische Cha-rakter des Suspense im New Hollywood auszeichnet. An den Filmen lässt sich so die affektive Sprengkraft einer ebenso mit unmerklichen Annäherungen wie mit schockartigen Umkehrungen operierenden Poetik aufzeigen. Ein Objekt dieser Sprengkraft ist nicht zuletzt die kategoriale Ordnung des klassischen Genresys-tems. Immer wieder geht es dabei um die Unterminierung von Dichotomien, um das blitzartige Erkennen des Anderen im Eigenen.

Eine Möglichkeit, die grundlegende Operation des Suspense, die Herstel-lung von Relationen weiterzuentwickeln, besteht, wie in Carrie gesehen, in der Vervielfältigung der Relationen. Dies trifft auf die Filme De Palmas zu – neben Carrie vor allem auf Sisters (1973), Obsession (1976) und natürlich Dressed to Kill (1980), bis heute neben Raising Cain (De Palma 1992) und Femme Fatale (De Palma, Frankreich 2002) sein komplexester und dichtester Film im Sinne der Verschachtelung von Relationen. The Other (Robert Mulligan 1972) arbeitet mit dem alten Motiv des Doppelgängers, bezieht es aber originell auf Grundprobleme filmischer Form. Der Film handelt von einem Zwillingspaar, von denen der eine Zwilling verstorben ist, für den anderen jedoch weiter zu existieren scheint. Der Film setzt dieses Verhältnis dadurch um, dass er zwar permanent Blickachsen zwischen den beiden Figuren (auch innerhalb ein und derselben Einstellung) eta-bliert, jedoch niemals beide zugleich im Kader einfängt. Die Relationen werden hier also nicht vervielfältigt, sondern ein und dieselbe Relation wird über den Verlauf des Films beständig variiert. Andere Filme lassen die Relationen gera-dezu wuchern, etwa That Cold Day in the Park (1969) und 3 Women (1977) von Robert Altman. Altman geht es in diesen beiden Filmen hauptsächlich um die kleinen Verschiebungen im Machtgefüge zwischen den verschiedenen Figuren, die sich irgendwann zu dramatischen Umwälzungen akkumulieren; dabei führt er psychologische und dramaturgische Unschärfen in den Suspense ein. Dies resultiert zum einen darin, dass diese Filme weit weniger als die Filme De Palmas den offensichtlichen Eindruck formaler Konzentration vermitteln. Zum anderen allerdings wird der Suspense zu einem äußerst subtilen Gestaltungsmittel und bezieht die feinen Register filmischer Expressivität ein, so dass besonders in 3 Women Lichtveränderungen und mimische Nuancen eine ungeheure Aufwer-tung erfahren. Die so erzeugte atmosphärische Dichte der Filme fungiert wie

ein Netz, in dem sich der Zuschauer mehr und mehr verstrickt. Ein Wuchern der Relationen lässt sich auch für Willard (Daniel Mann 1971) konstatieren, der sich – näher zum Horror als Altman – in einer ähnlichen Weise mit pathologi-schen Beziehungsentwürfen beschäftigt, in diesem Fall zwipathologi-schen dem zurückge-zogenen Junggesellen Willard und seinen Ratten. Ganz ähnlich wie in Carrie die Telekinese fungieren die Ratten als eine Extension von Willards psychischer Ver-fassung, und ähnlich wie in Carrie ist diese Extension Segen und Fluch zugleich.

Deleuze und Guattari haben dem Film in Tausend Plateaus im Zusammenhang mit der Idee des Tier-Werdens eine kurze Besprechung gewidmet.127

Wesentlich direkter gehen zumeist die Filme vor, die an der Verschränkung der Zeit arbeiten. Eine Möglichkeit besteht darin, die Verschränkung extrem, zuweilen bis über den ganzen Film, auszudehnen. Ein Paradebeispiel für diese Tendenz ist Steven Spielbergs Duel (1972).128 Dieser Film steht am Schnittpunkt zweier Tendenzen, die das New Hollywood zu weiten Teilen prägen: zum einen die Entwicklung des modernen Horrorfilms zu einer die klassischen Genregren-zen sprengenden affektpoetischen Modalität („the infiltration of its major themes and motifs into every area of 70s cinema“)129 und zum anderen das Aufkommen des Road Movies als einer neuen Ausdrucksform, die diverse Konstellationen klassischer Genres mit einer dezidierten „Anti-Genre“-Sensibilität verbindet.130

Duel bedient sich des alten Formats der Verfolgungsjagd (ein Pkw trifft auf einen 40-Tonnen-Tanklaster) und lässt diese auf den gesamten Film übergreifen.

Die Anspannung lässt dabei, in deutlichem Gegensatz etwa zu Carrie, kaum

Die Anspannung lässt dabei, in deutlichem Gegensatz etwa zu Carrie, kaum