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Filmische Expressivität

Emotion in der Filmtheorie

Die Frage nach dem Zusammenhang von Bewegung und Emotion in der Filmwahrnehmung ist wie gesagt nicht neu. Jenseits der scheinbaren

„Selbstverständlichkeiten“15 jedoch, auf deren Grundlage diese drei Terme meist miteinander in Beziehung gesetzt werden, eröffnet sich ein ganzes Feld von Unklarheiten, das nur selten beschritten wird. So scheint es, dass viele der zahlreichen neueren Untersuchungen zur Affizierung des Zuschauers im Kino16 die Rede von der Bewegung lediglich als einen quasi-metaphorisch zu

verwen-15 Kappelhoff: Die vierte Dimension des Bewegungsbildes. Das filmische Bild im Übergang zwi-schen individueller Leiblichkeit und kultureller Fantasie. In: Anne Bartsch, Jens Eder, Kathrin Fahlenbrach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln 2007, S. 297–311, hier S. 297.

16 Seit den 1990er Jahren ist ein verstärktes Interesse in der Filmwissenschaft am Thema Emo-tion zu beobachten. Die überwiegende Zahl der Beiträge orientiert sich an einer kognitivistisch ausgerichteten Psychologie, welche die emotionale Wirkung des Films auf den Zuschauer haupt-sächlich an den repräsentierten Figuren und Handlungen festmacht. Als zentrale Vertreter dieser Richtung sind zu nennen Noël Carroll: The Philosophy of Motion Pictures. Malden 2007;

Torben Grodal: Moving Pictures. A new Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition. Oxford 1997, sowie ders.: Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture, and Film. Oxford 2009; Carl Plantinga, Greg M. Smith (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition and Emotion. Baltimore 1999;

Carl Plantinga: Moving Viewers. American Film and the Spectator’s Experience. Berkeley 2009;

Murray Smith: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema. Oxford 1995; Ed Tan:

Emotion and the Structure of narrative Film. Film as an Emotion Machine. Mahwah 1996. Über diese Monographien hinaus sind einige Sammelbände erschienen, die sich dem Zusammenhang von Film und Emotion widmen. Vgl. Matthias Brütsch u. a.: Kinogefühle. Emotionalität und Film.

denden Begründungszusammenhang begreifen (dies lässt sich an einigen der entsprechenden Buchtitel ablesen: „Moving Pictures“, „Moving Viewers“), der selbst keiner weiteren Untersuchung bedarf.17 Was sich unter diesen Überschrif-ten schließlich findet, ist dann häufig gerade von der Weigerung gekennzeichnet, die zeitliche Dimension des Films und seine je spezifische Art und Weise, Bewe-gung zu gestalten, als genuine Voraussetzungen der emotionalen Erfahrung des Zuschauers anzuerkennen.18 Stattdessen wird versucht, diese auf anderem Wege herzuleiten.

Dazu gibt es im wesentlichen drei Ansätze, die zum Teil miteinander kom-biniert werden.19 Der erste Ansatz beruht auf einem Verständnis von Emotion, welches diese als Effekt der kognitiven Beurteilung einer Situation, des sogenann-ten appraisal, auffasst: „An emotion may be defined as a change in action readi-ness as a result of the subject’s appraisal of the situation or event.“20 Demnach sind Emotionen grundsätzlich objektbezogen. Durch die Herkunft dieses Emoti-onsverständnisses aus der Individualpsychologie ergibt sich das Problem, dass die inszenierte Handlung des Films letztlich mit (dramatisch verdichteten, in ihrer Komplexität reduzierten) Situationen aus dem realen Leben gleichgesetzt werden muss, will man das emotionale Engagement des Zuschauers erklären. Als Konsequenz aus diesem Dilemma unterscheidet Ed Tan zwischen Emotionen, die sich auf den fiktionalen Zusammenhang beziehen und solchen, die sich auf die ästhetische Gemachtheit eines Films, seinen Artefaktcharakter beziehen – eine Unterscheidung, die sich als enorm einflussreich für die kognitive Theoriebildung erwiesen hat. Letztlich läuft dies auf eine Trennung von Form und Inhalt hinaus, die als einander ausschließende Aspekte des Filmerlebens installiert werden: Auf der einen Seite entsteht so das Verhältnis einer totalen Transparenz, bzw. einer totalen Illusion, in welcher die Ereignisse der Narration sich dem Zuschauer als

Marburg 2005; Fabienne Liptay, Susanne Marschall (Hg.): Mit allen Sinnen. Gefühl und Empfin-dung im Kino. Marburg 2006; Bartsch, Eder, Fahlenbrach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen.

17 So begnügt sich etwa Carroll mit dem Hinweis, die Tatsache, dass Filme ihre Zuschauer affi-zierten, lasse sich schon an ihrem kommerziellen Erfolg, ihrer kulturellen Bedeutung sowie an den Strategien ihrer Vermarktung erkennen. Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, S. 147.

18 Vgl. etwa Noël Carroll: The Paradox of Suspense. In: Peter Vorderer, Hans J. Wulff, Mike Fried-richsen (Hg.): Suspense. Conceptualizations, theoretical Analyses, and empirical Explorations.

Mahwah 1996, S. 71–91, hier S. 72 und 87.

19 Vgl. für einen Überblick Hermann Kappelhoff, Jan-Hendrik Bakels: Das Zuschauergefühl.

Möglichkeiten qualitativer Medienanalyse. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2011), Nr. 5, S. 78–95, hier S. 80–83.

20 Tan: Emotion and the Structure of narrative Film, S. 46. Vgl. auch Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, S. 147–191, und Plantinga: Moving Viewers, S. 48–77.

Entsprechung der Realität präsentieren. Auf der anderen Seite stellt sich Film als reines und hermetisches Spektakel dar, als ein ästhetisches Feuerwerk, das jeden Bezug zu inhaltlichen Fragen unterbindet. Es findet eine Konzentration auf den produktionsökonomisch begründeten vermeintlichen Normalfall des linear narrativen Mainstreams statt, der sich angeblich durch ebendieses Wechselspiel auszeichne; „‚ästhetische‘ Emotionen“ seien damit ein Sonderfall.21 Hierin erin-nert das Konzept an die kritische Rezeption nicht weniger Filmemacher des New Hollywood, denen immer wieder vorgeworfen wurde, sie bevorzugten style over substance.22 Nicht zuletzt aus diesem Grund ist dieser Ansatz nicht geeignet, die Zusammenhänge zu untersuchen, um die es mir in diesem Buch geht.

Eng mit dem Prinzip des appraisal verbunden ist der Versuch, die Emotionen des Zuschauers aus dessen Verhältnis zu den repräsentierten Figuren eines Films zu erklären. An diese Figuren binde sich der Zuschauer wahlweise über ein hältnis der Empathie,23 Sympathie,24 Simulation25 oder Mischungen dieser Ver-hältnisse.26 Diese Bindung an die Figur, die „innerhalb der kognitiven Filmtheorie als geradezu axiomatischer Konsens“ fungiert,27 scheint ebenfalls eine Folge des aus der Psychologie übernommenen Emotionsbegriffs zu sein, der einen strik-ten Objektbezug einfordert. Das Problem dabei ist, analog zur Trennung ästheti-scher von inhaltlichen Aspekten, dass Filmfiguren – wiederum bezogen auf den

„Normalfall“ eines auf Kassenerfolg ausgerichteten Kinos – allzu umstandslos mit einer allgemein verständlichen Alltagspsychologie ausgestattet werden:

„Inasmuch as popular or mass fictions, like movies, are designed to maximize accessibility, they gravitate naturally toward the use of the schemas, prototypes, exemplars, […] and other heuristics that abound in the cultures of their target audiences.“28

21 Vgl. Plantinga: Moving Viewers, S. 62. Für eine Kritik an dieser Aufteilung in ein Nachvoll-ziehen narrativer Zusammenhänge einerseits und ein ästhetisches Genießen andererseits vgl.

Robin Curtis: Narration versus Immersion. Die Falschen Fährten der Analyse. In: Maske und Ko-thurn 53 (2007), Nr. 2, S. 341–352, hier S. 341–342.

22 Vgl. etwa die Argumentation von Victor F. Perkins in der von Ian Cameron, Perkins, Michael Walker, Jim Hillier und Robin Wood geführten Diskussion: The Return of Movie. In: Movie (1975), Nr. 20, S. 1–25.

23 Vgl. Hans J. Wulff: Empathie als Dimension des Filmverstehens. Ein Thesenpapier. In: mon-tage/av 12 (2003), Nr. 1, S. 136–161.

24 Murray Smith: Altered States. Character and emotional Response in the Cinema. In: Cinema Journal 33 (1994), Nr. 4, S. 34–56.

25 Vgl. Grodal: Embodied Visions, S. 181–204.

26 Vgl. Plantinga: Moving Viewers, S. 102–111.

27 Kappelhoff, Bakels: Das Zuschauergefühl, S. 81.

28 Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, S. 175 (meine Hervorhebung).

Filmfiguren sind jedoch keine vereinfachten Versionen von „Menschen wie du und ich“, mit denen man ohne weiteres mitfühlen, deren Motivationen man befürworten oder ablehnen, um deren Schicksal man besorgt sein kann. Insbe-sondere ‚haben‘ sie keine Emotionen, die sich dem Zuschauer auf welche Weise auch immer mitteilen. All diese Funktionen, so sie denn für die Filmerfahrung relevant sein sollten, sind Ergebnisse von weit grundsätzlicheren Prozessen, und um solche Prozesse geht es mir in diesem Buch. Es ist ein folgenreicher Kurz-schluss, den Zusammenhang zwischen Bewegung und Emotion zu übersprin-gen, um einen nicht ausreichend reflektierten Begriff der Figur in die Analyse filmischen Erlebens zu implantieren. In Kapitel 5 setze ich mich ausführlich mit diesem besonderen Problem der Figur auseinander und schlage eine alter-native Herangehensweise vor, welche die Rolle der Figur für die Affizierung des Zuschauers aus dem Zusammenhang von Bewegung und Emotion erklärt.

Es gibt noch einen dritten Ansatz, der ebenfalls vom appraisal ausgeht, Emotion aber an den Informationsbegriff koppelt.29 Mag dieses Wort in der gegenwärtigen Theorielandschaft auch etwas fehl am Platze wirken, so teilen die informationstheoretischen Ansätze mit den neueren, evolutionstheoretisch inspirierten Konzepten doch die Überzeugung, dass der Wahrnehmungsapparat des Zuschauers auf eine möglichst effiziente, ökonomische Verarbeitung ein-gehender Reize ausgelegt sei. Der informationstheoretische Ansatz bindet das Entstehen von Emotionen an das Adaptionsstreben des Menschen, insofern sein Bedürfnis nach Kontrolle betroffen ist.30 Dieses Modell wird nun so auf die Film-wahrnehmung übertragen, dass die Emotion des Zuschauers mit dem Ausmaß an passiver Kontrolle zusammenhängt, welches der Film ihm zugesteht, also etwa das Ausmaß an Übersicht über die narrative Entwicklung. Sowohl ein Über-schuss als auch eine Unterversorgung mit Informationen wirkt sich demgemäß auf die emotionale Verfassung des Zuschauers aus. Diese Reduzierung der Rezep-tion von Filmen auf das Ansammeln von InformaRezep-tionen und das Lösen von Pro-blemen scheint für unsere Zwecke besonders ungeeignet, insofern sie von einem Kunstverständnis ausgeht, welches nicht nur dem New Hollywood nicht gerecht

29 Vgl. Peter Wuss: Konflikt und Emotion im Filmerleben. In: Brütsch u. a. (Hg.): Kinogefühle, S. 205–222.

30 „Gegenüber einer sich stets verändernden Umwelt ist der Mensch ja bestrebt, die Kontrolle zu behalten und die Situationen in Gegenwart und Zukunft beherrschbar zu gestalten.“ Wuss, S. 207. Ein ähnliches Argument macht Carroll aus evolutionsbiologischer Sicht: Film erlaube es, die Emotionen in Sicherheit zu erleben, die ansonsten mit (Lebens-)Gefahr verbunden wären, er belebe und verfeinere unseren Affekthaushalt. Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, S. 147–148.

zu werden vermag.31 Offensichtlich ist auch dieser Ansatz nicht in der Lage, Form und Inhalt in Bezug auf die affektive Erfahrung des Filmzuschauers zusammen-zudenken.

Einen Schritt in die richtige Richtung stellt diesbezüglich Greg M. Smiths Ansatz, der sogenannte Mood Cue Approach, dar.32 Smith beschäftigt sich zwar nicht grundlegend mit den Fragen filmischer Wahrnehmungszusammenhänge, bezieht jedoch immerhin Parameter wie Kameraführung, Lichtsetzung, Musik, etc. in sein Modell filmischer Affizierung mit ein. Doch entwickelt er keinen adäquaten Begriff von der Zeitlichkeit des Wahrnehmungsvorgangs, welche die Affizierung begründet. Die Mood Cues sammeln sich gewissermaßen seriell im Verlauf des Films an, ohne dass klar wäre, wie zwischen ihnen ein Zusammen-hang entsteht, auf dessen Grundlage sich der Zuschauer auf sie beziehen könnte.

Letztlich verbirgt sich hinter diesem Konzept eine komplexere Version des Sti-mulus/Response-Modells,33 das immer auf das Prinzip des appraisal angewiesen bleibt.

Filmische Bewegung und der Zuschauer

Bevor ich nun dazu übergehe, meine eigene Position darzulegen, zunächst einige Erläuterungen zur Terminologie der Arbeit: In den letzten Jahren hat sich die Debatte um die Begrifflichkeit in Fragen von Emotion und Affekt verschärft, bis zu einer dichotomen Entgegensetzung der beiden Konzepte,34 bzw. der Behaup-tung ihrer Ununterscheidbarkeit.35 Eine solche Konstellation erscheint mir wenig erstrebenswert, angesichts der Tatsache, dass es beiden Seiten offensichtlich um verwandte Sachverhalte geht. Ich verfolge in dieser Arbeit nicht die Absicht, Emotion und Affekt gegeneinander auszuspielen, sondern möchte sie aufeinan-der beziehen. Emotion dient mir als aufeinan-der umfassende Begriff, aufeinan-der Bewegung und Gefühl zusammenbindet; genauer gesagt, lässt sich Emotion als ein Prozess ver-stehen, in dem eine (in diesem Fall filmisch modulierte) affektive Dynamik zum

31 Vgl. Karl Sierek: Spannung und Körperbild. In: montage/av 3 (1994), Nr. 1, S. 115–121, hier S. 118.

32 Greg M. Smith: Film Structure and the Emotion System, Cambridge University Press 2003.

33 Vgl. G.M. Smith, S. 39–40. Zur kritischen Evaluation des Modells von Smith vgl. Kappelhoff, Bakels: Das Zuschauergefühl, S. 83–85, und Robert Sinnerbrink: Stimmung. Exploring the Aest-hetics of Mood. In: Screen 53 (2012), Nr. 2, S. 148–163, hier S. 152–154.

34 Vgl. etwa Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation. Durham/

London 2002.

35 Vgl. Ruth Leys: The Turn to Affect. A Critique. In: Critical Inquiry 37 (2011), Nr. 3, S. 434–472.

Fühlen des Zuschauers ins Verhältnis gesetzt wird, um in einer neuen Qualität zu resultieren. Das Fühlen verorte ich demnach auf der Seite des Zuschauers (im Sinne eines Seins-zur-Welt), während Affekt und Affizierung die Dynamik zwi-schen Form und Gefühl beschreiben, um die es mir hauptsächlich geht. Es ist diese Dynamik, welche Veränderung erst ermöglicht. Affekte sind demnach nicht

‚rein‘ physiologische, vorsprachliche Rohmasse, die unserem Fühlen und Denken stets voraus wäre. Wie wären sie dann noch unterscheidbar? Vielmehr werden Affekte diskursiv und medial moduliert und produziert; sie liegen niemals als diskrete, objektivierbare Entitäten vor, sondern immer in Form von Relationen und Korrelationen. Darüber hinaus interagieren Affekte und Gefühle permanent miteinander. Um nun dem New Hollywood als einer distinkten filmhistorischen Periode beizukommen, ist es zudem unerlässlich, das Fühlen des Zuschauers in seiner Eigenart zu konkretisieren und zu qualifizieren. Dementsprechend ver-stehe ich Affekte als Bestandteile eines Prozesses, der im allgemeinen auf eine solche Qualifizierung ausgerichtet ist.36 In diesem Sinne ist auch der Begriff der Affektpoetik hier zu verstehen.

Die zwei anderen Kernbegriffe sind bereits gefallen, nämlich „Modus von Affektivität“, bzw. affektiver Modus, und „Stil“. Leitet sich das theoretische Konzept des Stils von Merleau-Ponty her, so scheint mir der Begriff des affektiven Modus gut geeignet, sowohl dieses Konzept als auch jenes der Affektpoetik im Hinblick auf das Kino des New Hollywood historisch zu spezifizieren (nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Genrebegriff): Ein affektiver Modus ist demnach kein Affekt oder ein Gefühl, sondern vielmehr ein poetisches Ordnungsprinzip, welches die sich in der Zeit entfaltende Dynamik der Affizierung im filmischen Wahrnehmungsverhältnis regelt. Die in diesem Buch näher betrachteten affek-tiven Modi des Suspense, der Paranoia und der Melancholie sind, zumindest in dieser Konkretion und Konstellation, spezifisch für diese filmhistorische Periode.

Ein wesentlicher Bezugspunkt für die Ausarbeitung des Modus-Konzepts in diesem Buch ist Hermann Kappelhoffs Studie zum Melodramatischen im Kino.

Gleich zu Beginn grenzt Kappelhoff den melodramatischen Modus vom gleichna-migen Filmgenre ab:

Der Begriff melodramatische Darstellung ist dabei nicht durch die Gattungen bestimmt, die sich mit dem „Melodrama“ verbinden […], sondern bezieht sich auf ein bestimmtes Muster ästhetisch vermittelter Wahrnehmungsprozesse. Diese Muster lassen sich an der Struktur

36 Mit Bezug auf den Prozess der Qualifizierung deutet sich an, inwiefern Affekt und Stil mit-einander zusammenhängen, nämlich insofern, als „jede Erfahrung einer Qualität in Wahrheit Erfahrung einer bestimmten Weise der Bewegung und des Verhaltens ist“ – kurz: eines Stils.

Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 274.

der Darstellung […] herausarbeiten, sofern man diese Strukturen als Basis einer zeitlichen Modellierung der Zuschauerwahrnehmung begreift.37

Auf dieser theoretischen Grundlage werde ich im folgenden eine Konzeption affektiver Modi entwickeln, welche diese als Keimstätten historischer Verände-rung begreift – einer VerändeVerände-rung, die im Fall des New Hollywood gezielt gegen die Einteilungen des klassischen Genresystems Stellung bezieht.

Raymond Bellour merkt an, wie sehr der Begriff der Emotion durch die Ori-entierung am Aspekt der Bewegung und des Bewegtseins in die Nähe des Affekt-begriffs rückt, wie ihn Gilles Deleuze im Rückgriff auf Henri Bergson definiert:

als „eine motorische Anstrengung auf einer unbeweglich gemachten rezeptiven Platte“.38 Es bleibt zu betonen, dass es in diesem Buch nicht um eine Geschichte der Emotionen im Sinne diskret benennbarer Entitäten geht (eine Geschichte der Trauer, des Ekels, usw.), sondern um eine Geschichte des Fühlens im Sinne des konkreten, sich in der Zeit entfaltenden Erlebens des Zuschauers.

Die Arbeit nimmt nun die (im Weiteren zu entwickelnde) Erkenntnis zum Ausgangspunkt, dass Emotionen im Kino weder im Absehen von der ästheti-schen Dimension des Filmerlebens entstehen, noch dass sie in Filmen einfach

‚vorkommen‘ und dann ihren Weg zum Zuschauer finden, sondern dass sie nur unter den Bedingungen filmischer Wahrnehmungserfahrung zu denken sind.

Daher kann das Vorgehen nicht sein, von einer festen Definition dessen, was eine Emotion sei, auszugehen und diese dann an den Filmen zu exemplifizieren.

Vielmehr gilt es, einen angemessenen Begriff filmischer Emotion an den Filmen selbst zu entwickeln, wie etwa Deleuze nahelegt: „Bei Kunstwerken kommt es zu einer Vervielfachung der Emotion, zu einer Befreiung der Emotion, zur Erfin-dung neuer Emotionen […].“39 Zunächst wären also die Bedingungen filmischer Wahrnehmungserfahrung und ihr Zusammenhang mit dem affektiven Erleben des Zuschauers zu klären. Unter diesen Bedingungen sind zuvorderst Bewegung und Zeit zu berücksichtigen.

37 Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 29. Wenn nicht anders angegeben, sind Hervorhebungen stets aus dem Original übernommen.

38 Raymond Bellour: Das Entfalten der Emotionen. In: Brütsch u. a. (Hg.): Kinogefühle, S. 51–

101, hier S. 61, bzw. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 [1983]. Frankfurt a. M. 1997, S. 97.

Vgl. hierzu Merleau-Pontys Beschreibung des Leibes als ein „Geflecht aus Sehen und Bewegung“.

Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist [1961]. In: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. von Christian Bermes. Hamburg 2003, S. 275–317, hier S. 278.

39 Deleuze: Das Gehirn ist die Leinwand [1986]. In: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. von Daniel Lapoujade. Frankfurt a. M. 2005, S. 269–277, hier S. 275.

Es gibt zwei notwendige und, zusammengenommen, gleichzeitig hinrei-chende Bedingungen für die Wahrnehmung eines Films im Kino: 1. die Bewegung des Filmstreifens durch den Projektor und 2. die leibliche Anwesenheit eines bewusst wahrnehmenden Zuschauers. Wie verhält es sich nun mit der Wahrneh-mung von filmischer Bewegung? Einem populären Missverständnis zufolge ist das Zustandekommen der Bewegungsillusion der physischen Trägheit des Auges geschuldet, welche einen Nachbild-Effekt produziere.40 Tatsächlich verhält es sich jedoch so, dass der vom Film hervorgerufene Bewegungseindruck nur aufgrund der psychisch aktiven Beteiligung des Zuschauers möglich wird. Wie Albert Michotte mit Bezug auf entsprechende Untersuchungen Max Wertheimers anmerkt, steht damit seitens des Zuschauers nicht ein Glauben wider besseres Wissen zur Debatte; vielmehr ist es schlicht unmöglich, „die tatsächliche Orts-veränderung eines Objektes […] von der Bewegung zu unterscheiden, die man in der stroboskopischen Erfahrung wahrnimmt, wie sie dem Kino zugrunde liegt.“41

So ist von vornherein der Zuschauer mehr als nur ein passiver Empfänger ausgestrahlter visueller Reize; sein Wahrnehmungsakt ist für die Existenz des fil-mischen Bewegungsbildes auf der Leinwand unerlässlich. Wie lässt sich nun das Verhältnis des Zuschauers zur wahrgenommenen filmischen Bewegung genauer beschreiben? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, die beide für mein weiteres Vorgehen von Bedeutung sind. Die eine stammt von Gilles Deleuze, die andere von Vivian Sobchack.

Das Ganze und die Dauer

Deleuze zufolge gibt uns der Film „kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild“.42 Diese Aussage ist durch-aus anschlussfähig an gestalttheoretische Überlegungen: Die Bewegung wird

40 Zur ‚Tradition‘ dieses weitverbreiteten Irrtums und ausführlicher zu den Bedingungen von Bewegungswahrnehmung im Kino vgl. Joachim Paech: Der Bewegung einer Linie folgen… Noti-zen zum Bewegungsbild. In: ders.: Der Bewegung einer Linie folgen… Schriften zum Film. Berlin 2002, S. 133–161, hier S. 149–161.

41 Albert Michotte van den Berck: Der Realitätscharakter der filmischen Projektion [1948]. In:

montage/av 12 (2003), Nr. 1, S. 110–125, hier S. 111. Ebenda heißt es: „Was die Bewegung betrifft, so muss man diese als eine Form der Wahrnehmung betrachten, die sich spontan einstellt, wenn gewisse Verbindungen sinnlicher Erregungen zustande kommen […].“

42 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 15. Vgl. auch Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahr-nehmung, S. 318: „[…] insofern es überhaupt Bewegung gibt, ist das Bewegliche auch schon von der Bewegung ergriffen.“

nicht etwa einem Photogramm nachträglich hinzugefügt, sondern sie entsteht immer schon als ein „Durchschnittsbild“, das nicht teilbar ist. Die Bewegung hat nun aber, wie Deleuze schreibt, „zwei Gesichter. Zum einen ist sie das, was sich zwischen Objekten oder Teilen ereignet; zum anderen gibt sie die Dauer oder das

nicht etwa einem Photogramm nachträglich hinzugefügt, sondern sie entsteht immer schon als ein „Durchschnittsbild“, das nicht teilbar ist. Die Bewegung hat nun aber, wie Deleuze schreibt, „zwei Gesichter. Zum einen ist sie das, was sich zwischen Objekten oder Teilen ereignet; zum anderen gibt sie die Dauer oder das