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Die Ausgangsthese dieses Beitrages war, daß die Verbindung politischer mit ökonomi­

schen Mechanismen der Integration zu einer dauerhaften politischen Stabilisierung in den baltischen Staaten beitragen könnte. Der Schwerpunkt der empirischen Analysen lag jedoch bei den Möglichkeiten einer politischen Integration ethnischer Mehrheiten und Minderheiten. Die dabei aufgedeckten Zusammenhänge erlauben folgende Schlußfolge­

rungen:

1. Nationalismus ist weiterhin in allen drei Ländern die entscheidende Trennlinie zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten. Sie wird tendenziell durch andere Wertorientierungen sogar noch verschärft. Den religiösen Orientierungen kann dabei in Zukunft eine zunehmende Bedeutung zukommen. Somit handelt es sich im Baltikum eher um ein System sich gegenseitig verstärkender Konfliktlinien. Auch in der Zukunft

wird der ethnische Konflikt nicht an Schärfe verlieren. Deshalb ist die Etablierung institutionalisierter Formen der Konfliktregulierung ein dringend zu lösendes Problem.

2. Nach der stürmischen Umbruchsperiode erreicht die Bereitschaft zu politischer Partizi­

pation allmählich ein normales Maß. Dabei nehmen aber in bezug auf die konventionellen Möglichkeiten politischer Beteiligung die Unterschiede zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten zu. Die Minderheiten zeigen nun weniger Bereitschaft zur Anwendung solcher Formen. Bei den unkonventionellen Wegen politischer Beteiligung nehmen die Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen dagegen ab. Das könnte zu einem verstärkt konfrontativen Umgang miteinander führen.

3. Der ethnische Konflikt hat seinen Ausdruck in den Parteiensystemen aller drei Länder gefunden. Sowohl ethnische Mehrheiten als auch ethnische Minderheiten können Par­

teien benennen, die ihre Interessen in den neugewählten Parlamenten vertreten.

4. Beide Bevölkerungsgruppen zeigen eine hohe Motivation zur Teilnahme an Wahlen.

Wenn die ethnischen Minderheiten Staatsbürgerrechte erhielten, würden sie sich am Parteienwettbewerb beteiligen. Das könnte zu einer Stabilisierung der neuen baltischen Demokratien beitragen.

Diese Ergebnisse erwecken berechtigte Hoffnungen auf eine erfolgreiche politische In­

tegration im Baltikum. Eine Voraussetzung für eine stabile Demokratie ist aber eine libe­

rale Lösung der Staatsbürgerschaftsfrage. Minderheiten wählen tendenziell Kandidaten ihrer eigenen Gruppe. Das zeigte sich in den Kommunalwahlen in Estland, bei denen ein Großteil der Minderheiten wahlberechtigt war und die reformorientierte "Russische Demokratische Bewegung" die meisten Sitze gewann. Die Wahlteilnahme neuer Staats­

bürger mit einem spezifischen kulturellen Hintergrund und spezifischen Interessen könnte die Zusammensetzung der Parteiensysteme und der neuen Regierungen beeinflussen.

Bis zu den nächsten Parlamentswahlen müssen aber auch andere Wege der Integration gegangen werden. Unsere Analyse hat gezeigt, daß der Konflikt auf der ökonomischen Dimension weniger mit den ethnischen Differenzen verknüpft ist als der Konflikt auf der kulturellen Dimension. Das eröffnet vielleicht die Chance, ethnische Mehrheiten und Min­

derheiten solange wie politische Integration noch nicht in vollem Umfang möglich ist, über ökonomische Mechanismen zu integrieren. Andere empirische Untersuchungen im Balti­

kum haben gezeigt, daß die ethnischen Minderheiten geringere wirtschaftliche Erwartun­

gen haben als die Balten. Im Vergleich zur russischen Bevölkerung in Rußland oder zur weißrussischen in Weißrußland war ihre ökonomische Lage im Baltikum immer besser, was auch für die Zukunft zu erwarten ist (Kirch, Kirch und Tuis 1993, 176). Eine Verbes­

serung der ökonomischen Situation im Baltikum könnte also die ethnischen Minderheiten

"besänftigen" und die Beschränkung der Staatsbürgerrechte bis zu den nächsten Wahlen in

gewissem Maße ausgleichen. Zudem könnte eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Regierungen in Verbindung mit einer vernünftigen Lösung der Staatsbür­

gerschaftsfrage die Minderheiten dauerhaft an die existierenden Parteien binden, so daß sie in den nächsten Parlamentswahlen nicht nur Minderheitenparteien wählen würden.

Dennoch gibt es, was die Aussichten der Integration betrifft, Unterschiede zwischen den baltischen Staaten. In Litauen scheint ein institutionalisierter Mechanismus der Konfliktre­

gulierung schon zu einem gewissen Grad zu funktionieren, weil die Staatsbürgerschafts­

frage gelöst ist. Hier ist jedoch die ökonomische Situation im Vergleich der drei Staaten am schlechtesten. Estland hat ein relativ liberales Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet, was die politische Landschaft bis zu den nächsten Wahlen verändern wird. Obwohl es keinen Grund zu übertriebenem Optimismus gibt, ist die wirtschaftliche Lage in diesem Land auf Grund der konsequenten Reformpolitik die beste im Baltikum. Sowohl Estland als auch Litauen verfügen über ein relativ gut strukturiertes Parteiensystem und relativ sta­

bile Regierungen.

Am schlechtesten ist die Ausgangssituation für die Integration der ethnischen Gruppen in Lettland. Ein Staatsbürgerschaftsgesetz ist immer noch nicht verabschiedet, das Partei­

ensystem ist wenig konsolidiert, die ökonomische Lage ist relativ schlecht und die Regie­

rungsparteien haben keine Mehrheit im Parlament.

Dennoch wäre es verfrüht, bereits jetzt für jedes einzelne Land Prognosen über die Fol­

gen des ethnischen Konfliktes und die Chancen politischer Integration abzugeben. Eine positive oder negative Entwicklung wird sicher auch von der Kompromißfähigkeit der politischen Eliten abhängen.

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