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Die Parteipräferenzen von ethnischen Mehrheiten und ethnischen Minderheiten

Politische Parteien sind die Hauptakteure der Artikulation und Aggregation von Interessen.

Obwohl auch die im Baltikum entstandenen Parteien diese Funktion wahmehmen wollen, unterscheiden sie sich gegenwärtig noch von westlichen Parteien. Den meisten von ihnen fehlen eine funktionierende Organisationsstruktur, eine ausreichende Mitgliederbasis und Mittel zur Aufrechterhaltung von Parteidisziplin. Die bei den Wahlen miteinander konkur­

rierenden Parteien sind meist Wahlbündnisse, Dachorganisationen oder Bewegungen, die ein breites Spektrum politischer Positionen vereinen. Erst wenn sie bei den Wahlen erfolg­

reich waren, entstehen aus den losen Vereinigungen schlagkräftige Parteien, wie das Beispiel des Wahlsiegers "Vaterland" in Estland zeigt.

Für den Wähler ist es relativ schwierig, sich in dieser undurchsichtigen Parteienland­

schaft zu orientieren und die einzelnen Organisationen anhand ihrer Programme voneinan­

der zu unterscheiden. Wahrgenommen und auch über längere Zeit erinnert werden die Hauptverfechter konträrer Positionen zu ein oder zwei zentralen Wahlthemen.

Bei den ersten freieren Wahlen zu den Obersten Sowjets der damals noch

"sowjetbaltischen" Republiken 1990 war die Frage der Unabhängigkeit besonders umstrit­

ten. Sie wurde von den Volksfrontbewegungen befürwortet und von der

Interfrontbewe-gung sowie dem moskautreuen Teil der alten kommunistischen Parteien abgelehnt. Nach dem W ahlsieg der breiten Volksfrontbewegungen und dem Erringen der Unabhängigkeit war jedoch das die Opposition verbindende Ziel erreicht. W ie überall in Osteuropa setzte eine Fragmentierung der Volksfrontbewegungen ein, zunächst in Fraktionen und dann in verschiedene Parteien. Im Ergebnis dieser Prozesse kandidierten zum Beispiel bei den Parlamentswahlen in Lettland 1993 nur noch 6 von ursprünglich 131 Mitgliedern der Volksfrontfraktion des Obersten Sowjets für die Liste der Volksfront.

Nach den W ahlen von 1990 wurde die Staatsbürgerschaft zum politischen Hauptstreit­

punkt. Doch obwohl es zum Zeitpunkt der Parlamentswahlen 1992/93 eindeutig identifi­

zierbare Parteien mit unterschiedlichen Positionen in dieser Frage gab, waren es andere Kriterien, mit denen die Volksfrontregierungen bewertet und die Wahl entschieden wurde.

W ichtiger als die Staatsbürgerschaftsfrage wurde die Einschätzung der ökonomischen Situation, die m it der Unabhängigkeit und dem Ende der alten Wirtschaftsbeziehungen entstanden war. Die gestiegene Bedeutung wirtschaftlicher Themen hatte sich bereits in unserer Analyse der Wertorientierungen gezeigt, wo sich 1992 die Philosophie "zuerst Demokratie, dann Ökonomie" eindeutig zugunsten der materialistischen ökonomischen Ziele umkehrte. Das Ergebnis war in allen drei baltischen Staaten die Ablösung der alten Regierungsparteien durch neue.

Gibt es bereits typische Parteipräferenzen ethnischer Mehrheiten und Minderheiten im Baltikum? Haben auch die ethnischen Minderheiten in den neu gewählten Parlamenten ihre Interessenvertreter gefunden? Die Tabellen 15-17 geben darüber Aufschluß. Dabei wurden nur die "relevanten" Parteien berücksichtigt, die den Sprung in die Parlamente geschafft haben.

Tabelle 15: W ahlabsicht von ethnischen Mehrheiten und M inderheiten in Lettland 1993:

W elcher Partei würden Sie Ihre Stimme geben, wenn heute Wahlen wären?

(Prozent)

Partei Mehrheit Minderheit

Lettischer Weg 36 14

Bewegung für gleiche Rechte 0 25

Für Vaterland und Freiheit 6 1

Demokratische Zentrumspartei 3 4

National Unabhängigkeitsbewegung 16 5

Harmonie für Lettland/

Erneuerung der Wirtschaft 5 19

Christdemokratische Partei 4 3

Farmers Union 13 9

Andere 17 20

N 514 316

Tabelle 16: Wahlabsicht von ethnischen Mehrheiten und Minderheiten in Litauen 1992 (Prozent)

Partei Mehrheit Minderheit

Sajudis 25 14

Sozialdemokraten 13 12

Polnische Union 1 15

Christdemokraten 9 2

Demokratische Arbeiterpartei 19 36

Andere 33 21

N 702 89

Tabelle 17: Wahlabsicht von ethnischen Mehrheiten und Minderheiten in Estland 1992 (Prozent)

Partei Mehrheit Minderheit

Gemäßigte 6 8

Vaterland 23 2

Sichere Heimat 20 17

Volksfront 13 27

Grüne 5 2

Estnische Bürgerkoalition 3 1

Unabhängige Royalisten . 9 1

Untemehmerpartei 1 8

Nationale Unabhängigkeitspartei 5 4

Andere 15 30

N 566 139

Für alle drei Länder können Parteien im Parlament benannt werden, denen die ethnischen Minderheiten ihre Stimme geben, weil sie ihre Interessen vertreten.8 Es sind die

"Bewegung für gleiche Rechte" und die Bewegung "Harmonie für Lettland/Emeuerung der Wirtschaft" in Lettland, die "Polnische Union" und die "Demokratische Arbeiterpartei" in Litauen und die "Volksfront" in Estland, die als kompetente Sprecher der Minderheiten wahrgenommen werden. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Wahlprogramme ist auch tatsäch­

lich der Schutz ethnischer Gruppen.

8 Allerdings ist die Frage nach den Parteipräferenzen angesichts des Ausschlusses eines großen Teiles der ethnischen Minderheit von den Wahlen eine rein hypothetische. Das zeigt sich in einer relativen Unsicherheit der Minderheiten in der Beantwortung dieser Frage. Etwa ein Viertel der Minderheiten konnte keine Angabe zur Wahlabsicht machen, während es bei den Balten nur 9% waren. Die Zahl der Nichtwähler in unserer Umfrage betrug bei den Mehrheiten 4% und bei den Minderheiten 7% . Diese Unterschiede dürften aber verschwinden, wenn ein größerer Teil der ethnischen Minderheiten das Wahlrecht erhält.

Die "Bewegung für gleiche Rechte" in Lettland und die "Polnische Union" in Litauen sind zweifelsohne Minderheitenparteien. Die erstere entstand aus der gleichnamigen Frak­

tion des Obersten Sowjets. Die meisten ihrer Abgeordneten waren Russen, die in den alten Parlamenten als Sprecher der russischsprachigen Minderheit auftraten. Da die Fraktions­

führer bei den Parlamentswahlen nicht kandidierten konnten, weil sie keine lettischen Staatsbürger waren, unterstützten sie andere Kandidaten. Der Hauptinhalt ihres Wahlpro­

gramms ist der Schutz der Rechte der Immigranten, einschließlich des Rechtes auf Staats­

bürgerschaft. Angesichts des Ausschlusses eines großen Teils der Minderheiten von den Wahlen 1993 war die Hauptlosung der Bewegung für diese Wahlen "Nichtstaatsbürger unterstützen die Wahl solcher Staatsbürger, denen sie im Parlament die Vertretung ihrer Interessen anvertrauen können".

Die Polnische Union in Litauen tritt ebenfalls für ethnische Fragen ein. Sie fordert für das überwiegend polnisch besiedelte, ländliche Vilnija-Gebiet die Möglichkeit polnisch­

sprachiger Bildungseinrichtungen in allen Ausbildungsstufen und das Recht, die öffentli­

che, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Region als integraler Bestandteil Litauens, selbst zu gestalten.

Etwas überraschend scheint die Unterstützung der ethnischen Minderheit in Estland für die Volksfront, die ja ein aktiver Verfechter nationaler Themen war. Eine mögliche Erklä­

rung dafür ist, daß mit ihrer zunehmenden Zersplitterung nach 1990 vor allem die eher rechten und liberalen Mitglieder die Volksfront verlassen und eigene Parteien gegründet haben, während ihre eher sozialistisch ausgerichteten Anhänger geblieben sind (Dellenbrandt 1992 und Kionka 1992, 7). Wie unsere Analysen der Wertorientierungen zeigten, unterstützen die ethnischen Minderheiten tendenziell eher linke Positionen und könnten im Falle Estlands die nun sozialistische Volksfront den relativ schwachen Reformkommunisten vorgezogen haben.

Auch für die ethnischen Mehrheiten können Parteien benannt werden, die ihre spezifi­

schen Interessen vertreten. Es sind das Wahlbündnis "Lettischer Weg" und die "Nationale Unabhängigkeitsbewegung" in Lettland, "Sajudis" in Litauen und "Vaterland" sowie die

"Unabhängigen Royalisten" in Estland.

Die Mitglieder des "Lettischen Weges", der ein breites Spektrum politischer Ansichten umfaßt, vereinte seinem Sprecher zufolge vor allem eins: ihre führenden Positionen in der Volksfrontregierung und der Wunsch, sie auch nach den Parlamentswahlen zu behalten (Milton 1993, 8). Dieses Ziel hat die heutige Regierungspartei, in der Exilbalten eine wichtige Rolle spielen und die als rechts von der Mitte charakterisiert wird, schon erreicht.

Obwohl Sajudis als einzige der baltischen Volksfrontbewegungen weiterhin Unterstüt­

zung für nationale Themen mobilisieren konnte, dürften auch hier die nächsten Wahlen Veränderungen bringen. Denn zum einen ist die in die Opposition gedrängte

Sajudis-Koalition sehr stark zersplittert, zum anderen hat sie mit der neu gegründeten "Mutterland Union" ihres ehemaligen Führers Landsbergis einen ernsthaften Konkurrenten im Kampf um Wählerstimmen erhalten.

"Vaterland" in Estland ist eine eher pragmatische, konservative Partei mit einer starken marktwirtschaftlichen Orientierung. Das unter ihrem Einfluß verabschiedete Regierungs - Programm wird als geschickter Kompromiß zwischen der Anti-Nomenklatura-Rhetorik des Wahlkampfes und den Erfordernissen der aktuellen Politik bewertet(Tammerk und Lukas

1992,11).

In der günstigsten Situation sind die Minderheiten in Litauen, weil die von ihnen als Interessenvertreter bewertete Demokratische Arbeiterpartei zum Wahlsieger und zur heuti­

gen Regierungspartei wurde. In den beiden anderen Ländern sind die regierenden Parteien Vaterland und Lettischer Weg die Parteien der ethnischen Mehrheiten. Aber auch im estni­

schen und im lettischen Parlament sind, trotz des Ausschlusses eines großen Teils der Minderheiten von den Wahlen, Parteien vertreten, die ihnen das Gefühl vermitteln, ihre Interessen vertreten zu können. Während die Minderheiten Parteien unterstützen, denen sie den Schutz ihrer bedrohten Rechte Zutrauen, sind für die Mehrheiten nicht mehr nur aus­

schließlich emotional aufgeladene nationale, sondern auch pragmatischere ökonomische Interessen ausschlaggebend für ihre Parteipräferenz.

Es hat also bereits eine Übertragung des ethnischen Konfliktes in die Parteiensysteme der baltischen Staaten stattgefunden. Das eröffnet berechtigte Chancen für institutionali­

sierte Formen der Konfliktregulierung. Diese Mechanismen können aber erst dann wirklich funktionieren, wenn auch die ethnischen Minderheiten über Staatsbürgerrechte verfügen.