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5. Schlüsselprobleme und Solidaritätsprinzip

5.1. Schlüsselprobleme als Lerninhalte

In den 90en Jahren systematisierte Klafki seine Auffassung der Schlüsselprobleme. In der

1994 erschienenen vierten durchgesehenen und erweiterten Auflage des Sammelbands

„Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ hatte Klafki die „Grundzüge eines Allgemeinbildungskonzepts“ vorgelegt. Darin präzisiert Klafki das Konzept der

„Schlüsselprobleme“ und betrachtet sie unter dem Aspekt der Allgemeinbildung. In dem Konzept der Allgemeinbildung wird die Bildungsfrage als Gesellschaftsfrage bezeichnet;

das Ziel der Allgemeinbildung liegt darin, Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit des Schülers zu entwickeln. Die damit verbundenen Lerngegenstände sind Schlüsselprobleme, die von Klafki als Medien der Allgemeinbildung bezeichnet werden.1 So verdeutlicht Klafki einerseits die Zielsetzung der kritisch–konstruktiven Erziehungswissenschaft, andererseits auch die sich daraus ergebenden Lerninhalte.

Nach Klafki beinhalten die Schlüsselprobleme die folgenden Sachverhalte:

1) Die Friedensfrage angesichts des ungeheuren Vernichtungspotentials der ABC – Waffen.2

2) Die Umweltfrage, d.h. die in globalem Maßstab zu durchdenkende Frage nach Zerstörung oder Erhaltung der natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz und damit nach der Verantwortung und Kontrollierbarkeit der wissenschaftlich–technologischen Entwicklung.3 Die Entwicklung von energiesparender Technik genießt hierbei hohe Priorität. Somit wird im Bildungsprozeß das Bewusstsein für Umweltprobleme erweckt.

3) Das nach wie vor unbewältigte Problem der gesellschaftlich produzierten Ungleichheit innerhalb unserer (und anderer) Gesellschaften, als Ungleichheit zwischen sozialen Klassen und Schichten, zwischen Männern und Frauen, zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen, zwischen Menschen, die einem Arbeitsplatz haben und denen, für die das nicht gilt, zwischen Ausländern und der einheimischen Bevölkerung sowie verschiedenen Volksgruppen einer Nation: Alle diese gesellschaftlichen

1 Vgl. W. Klafki: Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme. In: W. Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 4., durchgesehene Auflage Weinheim und Basel 1994, S. 49ff.

2 A. a, O., S. 56.

Ungleichheiten werden auch unter der internationalen Perspektive betrachtet, also als Macht- und Wohlstandsungleichgewicht zwischen sogenannten entwickelten und wenig entwickelten Ländern.4

4) Die Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Produktionssystems, die Arbeitsteilung oder aber ihre schrittweise Zurücknahme, die mögliche Vermittlung von Arbeitsplätzen durch eine ausschließlich ökonomisch-technisch verstandene Rationalisierung, die Folgen für veränderte Anforderungen an Basis- und Spezialqualifikationen, die Veränderung des Freizeitbereichs und die zwischenmenschlichen Kommunikationsbeziehungen.5

5) Die Erfahrung der Liebe, der menschlichen Sexualität, des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Bei diesem Punkt handelt es sich um die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehung.6

Diese fünf sozialen und politischen Probleme werden von Klafki als Schlüsselprobleme bezeichnet und sollen im Unterricht thematisiert werden. Im Lernprozess wird der Schüler mit diesen Sachverhalten vertraut gemacht, so dass auch dessen Handlungsfähigkeiten entwickelt werden. Diese Fähigkeiten beziehen sich auf die folgenden Aspekte: (1) Kritikbereitschaft und –fähigkeit, einschließlich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik. (2) Argumentationsbereitschaft und –fähigkeit, d.h. das Bemühen, eigene Positionen und eigene Kritik in den Zusammenhang eines Gesprächs bzw. eines Diskurses mit anderen einbringen zu wollen und einbringen zu können. (3) Empathie im Sinne der Fähigkeit, eine Situation, ein Problem oder eine Handlung aus der Lage des jeweils anderen, von der Sache Betroffenen aus sehen zu können. (4) Vernetzendes Denken oder Zusammenhangsdenken. Als Zusammenhang oder Bezugspunkt, durch den die einzelnen Komponenten in Verbindung gebracht werden, nennt Klafki hier den sozialen und

4 Vgl. a. a. O., S. 59.

5 Vgl. a. a. O., S. 59f.

6 A. a. O., S., 60.

politischen Hintergrund. Das heißt, dass dieser Hintergrund bei der Behandlung der Probleme berücksichtigt werden soll7.

Im Hinblick auf die vier Komponenten kann man den Eindruck gewinnen, als ob diese die schon erwähnte Zielsetzung der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft, also Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, ablösen würden. Tatsächlich können die vier Handlungsfähigkeiten als Varianten der Zielsetzung der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft betrachtet werden. Die erste Komponente entspricht der Selbstbestimmungsfähigkeit, die zweite der Mitbestimmungsfähigkeit, die dritte dem Solidaritätsprinzip. Schließlich als vierte Komponente: das vernetzende Denken, das die Lerngegenstände in Verbindung mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung bringt, macht den Kern von Klafkis neuer Bildungstheorie aus. Insofern sind die aus der Beschäftigung mit den Schlüsselproblemen zu erwerbenden Fähigkeiten nur eine alternative Formulierung der Zielsetzung der kritisch–konstruktiven Erziehungswissenschaft.

Im Hinblick auf die Schlüsselprobleme stellt sich nun die Frage, warum ein soziales Phänomen als Schlüsselproblem angesehen werden kann, nach welchem Kriterium es als

„Schlüssel“ im Unterschied zu anderen Phänomenen bezeichnet wird und warum die Anzahl der Schlüsselprobleme gerade fünf beträgt. Nach Klafki zeichnet sich ein Schlüsselproblem dadurch aus, „daß es sich um epochaltypische Strukturprobleme von gesellschaftlicher, meistens sogar übernationaler bzw. weltumspannender Bedeutung handelt, die gleichwohl jeden einzelnen zentral betreffen.“ 8 Das heißt, dass die Schlüsselprobleme nicht nur eine bestimmte Gesellschaft betreffen, sondern einen übernationalen Charakter besitzen und jedem überall begegnen.

Darüber hinaus bleibt die Summe der Schlüsselprobleme nicht immer gleich, in Klafkis späteren Veröffentlichungen nimmt deren Anzahl zu. Der Grund ist, dass die Gesellschaft und die Welt sich verändern und neue Probleme auftreten. So erklärt sich auch, warum Klafki Schlüsselprobleme als „epochaltypisch“ bezeichnet. „Epochaltypisch“ bedeutet,

7 A. a. O., S. 63.

dass es sich um einen in die Zukunft hinein wandelbaren Problemkanon handelt.9 Deshalb ist die Summe der Schlüsselprobleme nicht auf Dauer fünf, sondern sie nimmt stetig zu.

Diese Vermehrung läßt sich in Klafkis späten Schriften dokumentieren. In seinem 1993 veröffentlichten Aufsatz „Bildung für Europa in internationaler Perspektive:

Schlüsselprobleme als ein Zentrum zukunftsorientierter Bildungsarbeit“ sind zwei soziale Probleme zu den schon erwähnten epochaltypischen Zeitproblemen hinzugekommen: (1) Die Problematik des Nationalitätsprinzips, d.h. die Frage nach Nationalität und Internationalität bzw. nach Kulturspezifik und Interkulturalität. (2) Das mit den bereits genannten Themenkomplexen Friedensfrage und Umweltzerstörung eng verflochtene Problem der rapide wachsenden Weltbevölkerung.10

Außerdem wird 1995 das Verhältnis der so genannten entwickelten Industriegesellschaften zu den so genannten Entwicklungsländern als Schlüsselproblem bezeichnet, deren Zahl steigt somit auf acht.11 Dies zeigt, dass die Inhalte von Schlüsselproblemen zukunftsoffen und entsprechend der Entwicklung der Gesellschaft und der Welt erweiterungsfähig sind.

Aus Klafkis Auffassung von der Bedeutung der Schlüsselprobleme und ihrer Funktion als Kern der Lerninhalte läßt sich folgern, dass er die traditionelle Fächerung des Unterrichts in Frage stellt. Nach Klafki stehen die herkömmlichen Unterrichtsfächer in keinem Zusammenhang, jedes Fach wird isoliert unterrichtet und gelehrt.12 Dieser Mangel läßt sich durch die Einführung der Schlüsselprobleme bzw. des Problemunterrichts beheben, da auf diese Weise Bezugspunkte gebildet werden, an denen sich die sozialen und politischen Probleme anknüpfen lassen. Durch dieses Unterrichtskonzept werden die verschiedenen Fächer miteinander verbunden. Die Thematisierung der Zeitprobleme im Unterricht führt dazu, dass die fachlichen Grenzen überschritten und die Lerninhalte als fächerübergreifend

9 Ebd.

10 W. Klafki: Bildung für Europa in internationaler Perspektive: Schlüsselprobleme als ein Zentrum zukunftsorientierter Bildungsarbeit. In: Europaschule in Hessen – eine Perspektive für die Schule von morgen. Hrsg. von C. Kubina. Wiesbaden 1993, S. 9.

11 W. Klafki: „Schlüsselprobleme“ als thematische Dimension eines zukunftsorientierten Konzepts von

„Allgemeinbildung“. In: Die Deutsche Schule. 3. Beiheft 1995, S.12.

12 Vgl. W. Klafki: Grundzüge... In: W. Klafki: Neuen Studien..., S 66.

bezeichnet werden können. Diese neue Strukturierung macht längere Unterrichtseinheiten erforderlich, um den Schülern die auf ein Thema bezogenen Lerninhalte vollständig darzustellen. Die üblichen 45–Minuten–Schulstunden sind dafür zu kurz. Der ideale Stundenplan sieht laut Klafki vor, dass eine Unterrichtseinheit mindestens zwei Schulstunden, besser noch etwa zwei Zeitstunden an den meisten Tagen der Schulwoche beträgt13

Es wird also ersichtlich, dass mit Einführung der Schlüsselprobleme sowohl die Strukturen der Lerninhalte als auch die Dauer der Unterrichtsstunde verändert werden müssen.

Darüber hinaus unterscheiden sich die kritisch-konstruktive Theorie und die Konzeption der kategorialen Bildung hinsichtlich der Lerninhalte. In der Konzeption der kategorialen Bildung werden die Inhalte nach dem exemplarischen Prinzip organisiert und auf die traditionelle Fächerung beschränkt. Dadurch wird das Exemplarische in der Fachwissenschaft vermittelt. Das exemplarische Prinzip wird zwar ebenfalls in Klafkis neue Bildungstheorie aufgenommen, bezieht sich aber auf gesellschaftlich-politische Probleme. Im Vergleich dazu spielt das an der Fachdidaktik orientierte Wissen hier keine entscheidende Rolle mehr und ist den Schlüsselproblemen untergeordnet.

Dies ist eine kurze Darstellung von Klafkis Schlüsselproblemen. Diese sind jedoch noch diskussionsbedürftig, ihre Problematik soll im Folgenden erörtert werden. Dabei sollen nicht nur die Lerninhalte der Schlüsselprobleme, sondern auch Zielsetzung und Methodik im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Beschäftigung mit Lerninhalten und Zielsetzung ergibt sich daraus, dass diese den Kern der kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft bei Klafki ausmachen. Die Notwendigkeit, an dieser Stelle die Methode zu diskutieren, ist auf die Zielsetzung in Klafkis neuem Bildungsbegriff zurückzuführen. Hier wird die Kultivierung einer handlungsfähigen Person als Bildungsziel betrachtet. Ein Schüler erwirbt durch die Beschäftigung mit Schlüsselproblemen jedoch in erster Linie Kenntnisse. Die Motivierung des Schülers wird hingegen auf der methodischen Ebene verdeutlicht.

Ein weiterer Grund, warum die drei Faktoren Lerninhalte, Zielsetzung und Methodik eingehender diskutiert werden müssen, ist, dass sie die fundamentalen Aspekte im Unterricht ausmachen. Das zeigt Wolfgang Sünkel in seinem Buch „Phänomenologie des Unterrichts.“

Sünkel unternimmt den Versuch, die fundamentalen Bestimmungen und allgemeinen Momente unterschiedlicher Unterrichtserscheinungsformen herauszuarbeiten.14 In seiner Untersuchung wird die Fundamentalstruktur der Unterrichtssituation durch drei Aspekte bestimmt: Unterrichtsgegenstand, Schüler und Lehrer. 15 Diese Struktur ist dabei unabhängig von einem bestimmten Unterrichtsfach, sie wohnt jedem Unterricht inne.

Deshalb betont Sünkel, dass das didaktische Dreieck zur Konstruktion der Unterrichtssituation hinreichend ist.16 Damit können die drei Aspekte als Aufbaubasis der Schlüsselprobleme angesehen werden.

Die drei Aspekte werden jedoch nicht direkt, sondern in veränderter Form in die Erörterung der Problematik aufgenommen. Dies bedarf der weiteren Erklärung.

Es wird deutlich, dass ein konkreter Unterrichtsgegenstand als Schlüsselproblem angesehen werden kann. Die anderen zwei Aspekte beziehen sich auf eine Variation der Terminologie von Sünkel. Nach Sünkel besteht die Arbeit des Schülers in der Aneignung des Unterrichtsgegenstandes, dadurch wird der Unterricht realisiert.17 Das heißt, dass der Unterricht darauf ausgerichtet wird, dass sich der Schüler Lerninhalte aneignet. Hier ist auch der Schüler im Unterichtsprozess gefordert, da der Erwerb des Lerninhaltes nur durch die Bearbeitung des Schülers erfolgen kann. Niemand sonst kann diesen Prozess ausführen.

So darf die Zielsetzung als eine veränderte Form des Aspektes „Schüler“ bezeichnet werden.

Im Gegensatz dazu kommt dem Lehrer die Rolle des Wissensvermittlers zu. Um den Lernerfolg zu sichern, ist nach Sünkel deshalb die Artikulation des Gegenstandes in erster

14 W. Sünkel: Phänomenologie des Unterrichts. Grundriß der theoretischen Didaktik. Weinheim und München 1996, S.17.

15 A. a. O., S.63f.

16 A. a. O., S. 63 .

17 A. a. O., S. 81.

Linie Sache des Lehrers. Er muss die gegenständlichen Strukturen didaktisch problematisieren und sequenzieren, damit dem Schüler die Aneignung ermöglicht wird.18 Das bedeutet, dass der Lehrer für den Schüler die Gelegenheit schafft, indem er den Lerngegenstand so anordnet, dass die Chance des Lernerfolgs erhöht wird. Diese vom Lehrer ausgehende Vermittlungsbemühung zwischen Lerngegenstand und Schüler kann als Unterrichtsmethode betrachtet werden. Sie ist eine Variante des Aspekts „Lehrer“. Von diesen drei fundamentalen Strukturen der Unterrichtssituation, ausgehend wird Klafkis neuer Bildungbegriff untersucht.