• Keine Ergebnisse gefunden

Schlüsselfrage 5 – Kieferorthopädische Frühbehandlung

Im Dokument LEITLINIEN ZAHNMEDIZIN (Seite 69-72)

8 Kieferorthopädische Therapie transversaler Anomalien

8.1 Schlüsselfrage 5 – Kieferorthopädische Frühbehandlung

Statement 17: Transversale Anomalien – Frühbehandlung

– skelettale und dentoalveoläre Verbesserungen und Verbesserung der Atmung Eine kieferorthopädische Frühbehandlung im Milch- bzw. frühen Wechselgebiss führt – je nach beabsichtigter Therapie – bei einer transversalen Anomalie im Vergleich zu einer nicht durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung zu

(1) einer Verbesserung im Hinblick auf die skelettale Lagebeziehung von Oberkiefer und Unterkiefer (LoE 1++, 1+, 2+),

(2) zu dentoalveolären Verbesserungen bezüglich der Zahnstellung, Zahn-bogenform bzw. der kaufunktionellen Okklusion (LoE 1++, 1+, 2+).

Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass die maxilläre Expansion die oberen Luftwege vergrößert (LoE 2+).

Abstimmung: 19/1/0 (ja, nein, Enthaltung)

Konsens

Literatur: (Agostino et al. 2014; Bucci et al. 2019; Defraia et al. 2008; Erdinc et al. 1999; Geran et al.

2006; Godoy et al. 2011; Harrison und Ashby 2001; Lippold et al. 2013; Mutinelli et al. 2015; Mutinelli und Cozzani 2015; Petren und Bondemark 2008; Sollenius et al. 2019; Tai et al. 2011; Zhou et al.

2014a)

Evidenzgrad: 1++

Einführung Die kieferorthopädische Frühbehandlung transversaler Anomalien umfasst zeitlich begrenzte Behandlungsmaßnahmen im Milch- und frühen Wechselgebiss (einschließlich der Ruhephase des Wechselgebisses), d.h. vor dem 10. Lebensjahr, welche vor allem eine transversale Expansion des Oberkiefers bzw. oberen Zahnbogens, die Beseitigung lateraler Kreuz- und Zwangsbisse sowie Normalisierung der Funktion des orofazialen Systems zum Ziel haben (Harzer 2021). Hierzu kommen meist herausnehmbare intraorale Plattenapparaturen bzw. funktionskieferorthopädische Apparaturen zum Einsatz, aber auch festsitzende Apparaturen (Gaumennahterweiterungsapparatur) und nicht-apparative Verfahren (Myotherapie, Logopädie) (Diedrich und Berg 2000). Es soll ein frühzeitiger Ausgleich der Anomalie erreicht bzw. deren Ausprägung verringert und eine progrediente Entwicklung transversaler Anomalien verhindert werden, die sich bei Nichtbehandlung verschlimmern würden, z.B. in Form einer Gesichtsskoliose (Schopf 2008). Darüber hinaus sollen Habits bzw.

orofaziale Dysfunktionen als ätiologischer Faktor von transversalen Anomalien wie dem maxillären Schmalkiefer (Lutschhabit, Mundatmung, viszerales Schluckmuster) mit psychologischer Unterstützung (durch aufklärende Gespräche, Verstärkungsmethoden etc.) abgewöhnt und eine normale Gebissentwicklung gefördert werden (Schopf 2008). Auf eine kieferorthopädische Frühbehandlung kann im späten Wechselgebiss eine Regelbehandlung bei weiterem Therapiebedarf

folgen. Bei der Indikationsstellung einer kieferorthopädischen Frühbehandlung müssen weitere Faktoren wie Länge der Gesamtbehandlung, Effizienz der Behandlung, Ausmaß der Anomalie und patientenindividuelle Faktoren berücksichtigt werden.

Studientypen Für die Fragestellung, ob eine kieferorthopädische Frühbehandlung im Milch- bzw.

frühen Wechselgebiss bei einer transversalen Anomalie zu einer Verbesserung im Hinblick auf die skelettale Lagebeziehung von Oberkiefer und Unterkiefer, zu dentoalveolären Verbesserungen bezüglich der Zahnstellung, Zahnbogenform bzw. der kaufunktionellen Okklusion sowie zu Verbesserungen des nasopharyngealen und oropharyngealen Luftraumes führt bzw. führen kann, wurden zwei Cochrane-Reviews aufgefunden (Qualität +++/++, LoE 1++/1+), jeweils basierend auf 3 randomisiert-kontrollierten klinischen Studien und 3 kontrollierten klinischen Studien (Harrison und Ashby 2001) bzw. auf 15 inkludierten Studien (Agostino et al. 2014), sowie zwei systematische Reviews, jeweils basierend auf 2 randomisiert-kontrollierten klinischen Studien und 12 kontrollierten klinischen Studien (N=1048) (Qualität +++, LoE 1++) (Zhou et al. 2014a) bzw. 8 systematischen Reviews (N=1189) (Qualität ++, LoE 2+) (Bucci et al. 2019). Weiterhin konnten 4 randomisiert-kontrollierte klinische Studien (RCTs) (Qualität ++, LoE 1++) (Godoy et al. 2011; Lippold et al. 2013; Petren und Bondemark 2008; Sollenius et al. 2019) sowie 6 Kohorten- bzw. Fall-Kontroll-Studien (Qualität +, LoE 2+) identifiziert werden, welche entsprechend ausgewertet wurden.

Population In den verschiedenen Studien wurden Patienten im Milch- bzw. frühen Wechselgebiss mit transversaler Anomalie (skelettal/dental), v.a. einem posterioren lateralen Kreuzbiss, unterschiedlichen Schweregrades (u.a. uni-/bilateral, funktioneller Shift von >1mm) im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe mit vergleichbarem Therapiebedarf jeweils mit einer entsprechend indizierten kieferorthopädischen Therapieform behandelt.

Intervention Zu den untersuchten Therapieformen zählten eine Therapie mittels Einschleifen von Vorkontakten (Milchzähne) mit/ohne einer herausnehmbaren Oberkiefer-Dehnplatte (Harrison und Ashby 2001), mittels eines Komposit-Onlays (Petren und Bondemark 2008), eine Therapie mit einer langsamen oder schnellen transversalen maxillären Expansion (Bucci et al. 2019; Zhou et al. 2014a) bzw. einer transversalen maxillären Expansion mittels Quadhelix-Apparatur (Erdinc et al. 1999; Godoy et al. 2011; Petren und Bondemark 2008; Sollenius et al. 2019), Oberkiefer-Dehnplatte (Erdinc et al.

1999; Godoy et al. 2011; Petren und Bondemark 2008; Sollenius et al. 2019; Tai et al. 2011), einer herausnehmbaren Apparatur mit Expansionsfedern (Defraia et al. 2008) oder eine Therapie mittels Gaumennahterweiterungsapparatur (Geran et al. 2006; Lippold et al. 2013; Mutinelli et al. 2015;

Mutinelli und Cozzani 2015).

Outcomes Die mittels kieferorthopädischer Modellanalyse vermessene Breite des oberen und unteren Zahnbogens bzw. mittels radiologischer dreidimensionaler DVT-Bildgebung bestimmte Breite der apikalen Basis des Oberkiefers und Unterkiefers wurde in den meisten Studien neben der visuell erfassbaren transversalen Verzahnungssituation im Seitenzahnbereich als Maß für die dentoalveoläre bzw. skelettale transversale Lagebeziehung herangezogen. Um die Größe des nasopharyngealen und oropharyngealen Luftraumes zu quantifizieren, wurden überwiegend dreidimensionale Volumina (digitale Volumentomografie DVT) oder zweidimensionale Messtrecken im Pharynxbereich (FRS) zur Quantifizierung der unteren als auch der oberen Atemwegsgröße verwendet.

Bewertung Die Entfernung vorzeitiger Kontakte an Milchzähnen scheint wirksam verhindern zu können, dass ein posteriorer Kreuzbiss auf das Wechselgebiss und die permanenten Zähne übertragen

wird (Harrison und Ashby 2001). Wenn das Einschleifen allein nicht effektiv ist, verringert die Verwendung einer Expansionsplatte im Oberkiefer zur Zahnbogenerweiterung das Risiko, dass ein posteriorer Kreuzbiss bis zum bleibenden Gebiss fortbesteht (Harrison und Ashby 2001). Dies wird von Agostino et al. (2014) bestätigt, welche begrenzte Evidenz auffanden, dass eine kieferorthopädische Frühbehandlung keiner Behandlung überlegen war. Posteriore Kreuzbisse korrigierten sich beim Übergang zum bleibenden Gebiss nicht spontan (Godoy et al. 2011). Zhou et al. (2014a) berichten, dass eine langsame maxilläre Expansion wirksam den Oberkieferzahnbogen und eine schnelle maxilläre Expansion wirksam Ober- und Unterkieferzahnbögen erweitern kann. Mittels dentoalveolärer Expansion können die transversalen Abmessungen des oberen Zahnbogens im Vergleich zu den Kontrollen signifikant vergrößert werden, wobei der dentoalveoläre Anteil deutlich überwiegt und das Weichgewebe nahezu nicht beeinflusst wird (Tai et al. 2011). Während des Beobachtungszeitraums wurde in der Studie von Defraia et al. (2008) eine signifikante Zunahme der Breite des oberen Zahnbogens um 4,94 ± 1,55 mm festgestellt, während diese bei den Kontrollen nur 1,45 ± 1,24 mm betrug. Petren und Bondemark (2008) konnten feststellen, dass ein posteriorer Kreuzbiss bei allen Patienten mittels Quadhelix erfolgreich korrigiert wurde. In der Expansionsplattengruppe wurden zwei Drittel (10 von 15) erfolgreich korrigiert; somit war die Erfolgsrate im Vergleich zur Quadhelix-Gruppe signifikant niedriger. In der zusammengesetzten Onlay-Gruppe wurden einige Kreuzbisse (2 von 15) korrigiert, und in der unbehandelten Kontrollgruppe trat keine spontane Korrektur auf. Eine vorhandene Mittellinienverschiebung des Unterkiefers wurde bei fast allen Patienten in der Quadhelix- und der Expansionsplattengruppe korrigiert (Petren und Bondemark 2008). Auch Sollenius et al. (2019) berichten, dass ein posteriorer Kreuzbiss bei 92,7% der früh behandelten Kinder mittels Quadhelix und bei 65,5% der früh behandelten Kinder mittels Oberkiefer-Dehnplatte korrigiert werden konnte, was auch von Erdinc et al. (1999) beobachtet wurde. Die Behandlungsdauer betrug jedoch 1,2 Jahre für die Expansionsplatte und 0,6 Jahre für die Quadhelix (Erdinc et al. 1999). Godoy et al. (2011) berichten, dass bei Kindern eine frühzeitige Korrektur eines posterioren Kreuzbisses im Mittel in 12 Monaten durchgeführt werden kann. Obwohl der posteriore Kreuzbiss durch die Quadhelix-Apparatur in relativ kurzer Zeit korrigiert wurde, verursachte die Apparatur eine beträchtliche bukkale Kippung der ersten bleibenden Molaren des Oberkiefers (Erdinc et al. 1999). Lippold et al. (2013) konnten feststellen, dass die kieferorthopädische Behandlung eines funktionellen einseitigen posterioren Kreuzbisses mit einer Gaumennahterweiterungsapparatur, gefolgt von einer U-Bügel-Aktivator-Therapie im späten Milch- und frühen Wechselgebiss, eine wirksame therapeutische Methode ist. Sie führt zu therapeutisch induzierten dreidimensionalen Wachstumseffekten im Oberkiefer (Lippold et al. 2013). Die Okklusion wird signifikant verbessert, als auch die Prognose für ein normales kraniofaziales Wachstum (Lippold et al. 2013). Auch die Therapie mit einer Acrylschienen-Gaumennahterweiterungsapparatur im Milch- bzw. frühen Wechselgebiss, gefolgt von einer festsitzenden Apparatur im bleibenden Gebiss, kann als wirksame Behandlungsoption zur Korrektur von transversalen Defiziten sowohl des Ober- als auch des Unterkieferzahnbogens angesehen werden, wenn sie langfristig bewertet werden (Geran et al. 2006;

Mutinelli et al. 2015; Mutinelli und Cozzani 2015). In der Therapiegruppe wurde im Vergleich zur Kontrollgruppe eine langfristige relative Zunahme des Oberkieferbogenumfangs um ca. 4 mm und des Unterkieferbogenumfangs um 2,5 mm beobachtet (Geran et al. 2006). Zudem führte die Korrektur des Kreuzbisses mittels Gaumennahterweiterung zu größeren Zahnbogenbreiten, einer verkürzten Zahnbogenlänge und einem weniger ausgeprägtem Engstand im Vergleich zu einer nicht behandelten Kontrollgruppe (Mutinelli et al. 2015; Mutinelli und Cozzani 2015).

Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass eine transversale maxilläre Expansion die oberen Luftwege vergrößert. Sowohl bei zwei- als auch bei dreidimensionalen Röntgenmethoden wird bei einer

maxillären Expansion eine signifikante Zunahme der Breite und des Volumens der Nasenhöhle berichtet und bei Funktionsuntersuchungen wurde eine Verringerung des Nasenwiderstands beobachtet (Bucci et al. 2019). Aufgrund der geringen bis kritisch niedrigen Qualität der systematischen Reviews, welche diese Ergebnisse unterstützen, kann diese Behandlung jedoch nicht primär nur zur Verbesserung der oberen Atemwege angezeigt werden, sondern muss durch eine kieferorthopädische Indikation unterstützt werden (Bucci et al. 2019).

Im Dokument LEITLINIEN ZAHNMEDIZIN (Seite 69-72)